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China
Rückbesinnung auf die Lehre der Harmonie

Chinas wachsende Wirtschaft hat auch negative Folgen für die Gesellschaft: Viele ältere Menschen vereinsamen, die Jüngeren suchen nach Lebenssinn. Der Staat setzt deshalb auf die Renaissance des Konfuzianismus. Dabei birgt der in letzter Konsequenz auch Gefahren für Peking.

Von Margarete Blümel | 03.02.2014
    "Bei Konfuzius können wir lernen, dass das Leben sich erst mit dem Tod erfüllt. Und dass derjenige, der das Dao kennen gelernt hat dann, im Gegensatz zum Vogel, der traurig singt im Tod, dass der Mensch im Tod dann der richtigen Worte fähig ist."
    So der Sinologe und Lyriker Professor Wolfgang Kubin über den chinesischen Philosophen Konfuzius. Dao, der rechte Weg, gehört zu den zentralen Punkten der konfuzianischen Lehre. Der 551 vor Christus geborene Konfuzius suchte nach einer Möglichkeit, das religiöse Wertesystem des chinesischen Feudalreiches zu erneuern. Der damals vorherrschenden politischen und sozialen Regellosigkeit setzte er die Rückbesinnung auf die fünf klassischen Tugenden entgegen – Gerechtigkeit, Güte, Menschlichkeit, Weisheit und ethisches Verhalten.
    Als der Lehrmeister schließlich 479 vor Christus in seiner Heimatprovinz Shandong starb, erwies man ihm höchste staatliche Ehren.
    "Es wird auch geschildert in den Gesprächen des Konfuzius, wie der Meister gestorben ist. Die Schüler wollten ihm einen prachtvollen Tod gestalten, indem sie sich in Gewänder von Ministern kleideten, so dass er den Eindruck haben musste, er wäre gesellschaftlich dort hinaufgestiegen, wo er immer hinwollte. Aber das ließ er nicht mit sich machen. Er sagte: 'Zieht diese Gewänder aus. Ich will das nicht haben. Ihr sollt mich nicht betrügen. Es reicht mir schon, wenn ich unter euch sterben kann und nicht alleine sterben muss.' Und Konfuzius wusste also, dass man alleine sterben kann. Im alten China war das Schlimmste, wenn man unterwegs, auf Reisen, starb. Da kümmerte sich niemand um die Leichen. Da fraßen einen die Tiere."
    Heute fühlen sich viele Chinesen – nicht erst, wenn es auf den Tod zugeht, sondern bereits im Leben – sehr allein. Das enorme Wachstum der chinesischen Volkswirtschaft fordert seinen Tribut. Wolfgang Kubin:
    "Die chinesische Familie löst sich auf. Früher lebte alles mit zwei, drei, vielleicht sogar vier Generationen, wie es heißt, unter einem Dach, und jeder kümmerte sich um jeden, im guten wie im schlechten Sinne. Man war nicht alleine, und wenn es jemandem nicht gut ging, hatte er in der Regel jemand, der sich um ihn kümmerte. Nun lösen sich die Familien auf durch den Kapitalismus. Und das deutlichste Beispiel ist das Land. Die jungen Leute gehen in die Stadt, um Geld zu verdienen. Sie liefern sicherlich zu Hause auch Geld ab, aber die Alten auf dem Lande vereinsamen. Und sie werden nicht, wie es eigentlich die Pflicht ist, zum Frühlingsfest besucht. Und ihnen fehlt was. Wer kümmert sich um die Alten auf dem Lande? Niemand. Und deswegen ist man auf Staatsebene auf die Idee gekommen, dass man die Pietät wiederbeleben soll, und man hat sie juristisch verankert. Kinder sind nun verpflichtet, jedes Jahr wenigstens einmal nach Hause zurückzukehren. Ob sie wirklich bestraft werden – das weiß ich nicht. Aber hier kann man sehen, dass die traditionelle chinesische Pietät tatsächlich auch dem chinesischen Staat im guten Sinne helfen könnte, so dass der Staat tatsächlich auch bedingt ein Interesse an der Renaissance des Konfuzianismus haben muss."
    Zu einer Lehre der Harmonie verklärt

    In der Tat wird der Konfuzianismus bereits seit längerer Zeit von der kommunistischen Partei gefördert. Während der Kulturrevolution ist vielen Chinesen durch die Beseitigung der traditionellen Werte die geistige Stütze weggebrochen. Seitdem wurden immer wieder Gefühle einer allgemeinen Sinnlosigkeit laut. Verstärkt wird diese Entwicklung nun durch den Druck, der auf den Arbeitnehmern und Entscheidern der aufstrebenden Wirtschaftsmacht lastet. Ein moralisches Fundament müsse her, eine geistige Heimat für die Nation, so die Regierung. Durch das Studium des konfuzianischen Schriftguts könnten die Chinesen wieder "lernen, Mensch zu sein".
    Volle Halle des Volkes: Delegierte auf dem 18. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas in Peking
    "Der Staat hat ein großes Interesse, dass Ruhe und Ordnung eintritt (picture alliance / dpa / Adrian Bradshaw)
    Kritiker sehen in diesem Konzept aber vor allem den – etwas unausgegorenen – Versuch, Harmonie zu erzeugen. Um am Ende ein Volk vor sich zu haben, das still halte und gehorche.
    "Der Staat hat ein großes Interesse, dass Ruhe und Ordnung eintritt. Der Konfuzianismus stand immer für Ruhe und Ordnung, immer für Harmonie. Und der Begriff der Harmonie, der heute bemüht wird – 'harmonischer Staat' – wird zementiert durch Aussprüche von Konfuzius, der einmal gesagt hat: Harmonie ist das Wichtigste. Aber da hat man den Satz aus dem Kontext gerissen. Die meisten wissen gar nicht mehr, dass Konfuzius davor von den Riten gesprochen hat. Und dass, wenn man die Riten befolgt, die Harmonie das Wichtigste ist. Dieser Satz ist jetzt absolut gesetzt – überall ist Harmonie das Wichtigste."
    Damit wird der Konfuzianismus zu einer Lehre der Harmonie verklärt. Dass dies falsch ist, hatte nicht nur der große Moralphilosoph selbst immer wieder zum Ausdruck gebracht, sondern auch seine Schüler hatten die Lehre ihres Meisters fortgeführt und systematisiert, sagt Wolfgang Kubin.
    "Zumal ja der bedeutendste Schüler von Konfuzius, nämlich Meng-tse, der zweihundert Jahre später gelebt hat, die These vertreten hat, dass das Volk das Recht hat, den Herrscher zu stürzen, wenn er seinen Aufgaben nicht nachkommt. Also das Recht auf Revolution – bei Meng-tse kommt zum ersten Mal das Wort Revolution vor. Was auch heute noch benutzt wird. Und auch Konfuzius hat erstaunliche Sachen gesagt, worüber man weniger gern redet. Er hat wortwörtlich gesagt: Wenn du zum Fürst gehst, widerstehe ihm. Er war natürlich ein Anhänger des Königs. Aber trotzdem. Dass er sich so gegen die Fürsten ausgesprochen hat. Radikal! Ist schon erstaunlich. Das heißt, im Konfuzianismus gibt es eben nicht nur diese Hörigkeit. Die gibt es. Aber nicht nur. Es gibt auch noch was anderes."
    Und doch scheint der Konfuzianismus in den Augen der chinesischen Staatsführung so viele positive Elemente zu bergen, dass das Recht zum Widerspruch dagegen verblasst.
    "Im Grunde genommen ist die Renaissance des Konfuzianismus eine rein akademische, die an den Universitäten stattfindet, betrieben wird, die aber inzwischen auch von der Staatsleitung her mitfavorisiert wird und zwar deswegen, weil man meint, über den Konfuzianismus China wieder auf die Bahn der Moral bringen zu können. An allen bedeutenden Universitäten Chinas gibt es inzwischen Institute für die Landeslehre. Und Vertreter dieser Landeslehre vertreten das Eigene gegenüber dem Fremden. Das Fremde kommt aus dem Westen, und man hat das Gefühl, obwohl man den Marxismus da nie miteinbezieht, dass letzten Endes die chinesische Welt immer mehr verschwindet und ersetzt wird durch eine durchaus missverständliche westliche Welt."
    Fehlende Disziplin
    Längst wird der Geburtstag des großen Philosophen Konfuzius nicht nur in seiner Heimatprovinz, sondern landesweit wieder gebührend gefeiert. Und seit Jahren wird in diversen Regierungsprogrammen eine Gesellschaft propagiert, die in sich selbst ruht und in Einklang mit der Natur lebt. Die dazugehörige Rhetorik birgt immer mehr Lehnworte aus dem Konfuzianismus und bedient sich häufig der konfuzianischen Wertehierarchie. So werden etwa die Begriffe Pragmatismus und Konsens sehr gern bemüht – und die dem Konfuzianismus innewohnende Disziplin.
    "Disziplin ist genau das, was China, also dem Festland, fehlt. Die Hongkonger haben Disziplin. Aber die Festländer überhaupt nicht. Und da setzen auch meine großen Zweifel an, ob China wirklich einmal diese führende Wirtschaftsmacht oder Weltmacht werden kann. Man kann ohne gehörige Disziplin nicht sehr lange Zeit mächtig sein, egal in welchem Bereich. Das bricht irgendwann zusammen, das Gebäude, das man meint ohne Disziplin errichten zu können."
    Im Zusammenhang mit dem weitverbreiteten Mangel an Disziplin hat die chinesische Regierung vor allem in den Metropolen ein zunehmendes Problem, dessen sie kaum noch Herr wird: Der Kapitalismus hat die zuvor von Familie, Dorfgemeinschaft und der sozialistischen Planwirtschaft gespannten Netze zerrissen. Die Bereitschaft sich einzufügen ist gesunken, während der und nach westlichen Konsumgütern gestiegen ist. Dieser Bruch mit den alten Traditionen scheint eine gewisse Zügellosigkeit zu befördern, die sich allerorten breitmacht. Wolfgang Kubin:

    "Es hält sich in China niemand an Gesetze. Es ist ja nicht nur so, dass wir oben die Korruption beobachten, sondern wir beobachten auch unten, dass es für jeden normal ist, keine Steuern zu zahlen, die Steuern zu hinterziehen. Es ist für jeden im Straßenverkehr normal, obwohl es Regeln gibt, auf der völlig falschen Seite zu fahren und eigentlich alle zu gefährden. Da schreitet auch niemand ein. Es ist gang und gäbe, sich nicht an Verkehrsampeln zu halten. Jeder geht bei Rot rüber. So kann aber ein Gemeinschaftswesen auf Dauer nicht funktionieren."
    Es verwundert also nicht, dass die Staatsführung ein Interesse daran hat, zumindest einige Aspekte des Konfuzianismus zu reanimieren.
    Konfuzianismus ohne Wenn und Aber?
    Trotz verschiedener Brüche in der Geschichte des Konfuzianismus in China sind die humanistischen Vorstellungen des großen Denkers immer wieder Grundlage der Gesellschaft gewesen. "Lernen, Mensch zu werden" bedeutet bei Konfuzius, wie der Einzelne durch konkretes Handeln im Alltag dem näherkommt, was sein innerstes Wesen ist. Nirgendwo in China wird dies heute deutlicher als in der Heimatprovinz des Lehrmeisters, in Shandong.
    "Nein, es ist nicht alles verloren gegangen. In der Provinz Shandong erlebe ich es immer noch zu meiner Verwunderung, dass die Achtung vor den Älteren gang und gäbe ist. Also ich steige in einen Zug, um dort einen Vortrag zu halten. Ein junges Mädchen sitzt auf einem Sitz und dann kommt ein älterer Mann rein, sie springt sofort auf, hilft ihm, die Sachen hinzulegen und, was mich dann am meisten erfreut hat, sie stellt ihm was zum Trinken hin, einen Becher, den sie mit Wasser füllte: Und solche kleinen Gesten, die kann man in der Provinz Shandong heute immer noch erleben."
    Mehr als sechzehn Millionen Chinesen aus allen Teilen des Landes pilgern inzwischen wieder jedes Jahr zum Schrein und zum Grab des Konfuzius, um sich vor dem Meister zu verbeugen und ihm zu Ehren Räucherstäbchen zu entzünden. Die von der Partei unterstützte Renaissance des Konfuzianismus trägt Früchte. Allerdings scheint fraglich, ob sich die Regierung auf lange Sicht einen Konfuzianismus ohne Wenn und Aber leisten will.
    "Alles hat in der Natur eine Aufgabe, und jeder Mensch hat auch eine Aufgabe. Man muss dieser Aufgabe gerecht werden. Und daraus haben sich dann verstärkt die beiden konfuzianischen Prinzipien abgeleitet, die man nennt Mitmenschlichkeit und Gerechtigkeit", so Wolfgang Kubin.
    "Das Zeichen für Mitmenschlichkeit besteht aus dem Radikal für Mensch und aus der Zahl 2. Das heißt also, jeder Mensch steht einem anderen Menschen gegenüber. Keiner ist allein. Und es ist immer ein Abhängigkeitsverhältnis von oben nach unten, unten nach oben. Egal ob Mann und Mann, Mann oder Frau. Und das Prinzip der Gerechtigkeit ist: Du hast eine Verpflichtung, und du musst deiner Verpflichtung nachkommen. Und du musst deine Aufgabe erfüllen. Sowohl ich oben an der Spitze muss der rechtschaffene, gute Herrscher sein und du da unten musst mich ernähren. Und je nach den Zeitläuften, je nachdem, wer an der Spitze ist, je nachdem wie die Ernte ist, kann all das in ein schnelles Missverhältnis geraten."