Forschungsprojekt der Uni Göttingen

Islam wird mehr und mehr zur Privatsache

Mann mit Gebetskette
Mann mit einer Gebetskette © imago/suedraumfoto
Von Luisa Meyer und Christian Röther · 10.06.2018
Auch in islamisch geprägten Ländern stellen sich Gläubige ihre religiöse Praxis immer individueller zusammen. Forscher der Universität Göttingen untersuchen, wie sich muslimische Frömmigkeit in so unterschiedlichen Ländern wie etwa Senegal oder Pakistan verändert.
"Religion hat etwas mit dir und deiner Seele zu tun und wie du auf das Leben schaust. Religion ist wie Nacktheit: Es geht niemanden etwas an, was unter meiner Kleidung ist, wie mein Körper aussieht. Es ist etwas extrem Persönliches."
Aya Kabalan studiert Kunstgeschichte in Beirut. Sie ist Schiitin, fastet im Ramadan und versucht, regelmäßig zu beten. Ein Kopftuch trägt sie nicht. Mit ihrer eigenen Art, den Glauben zu leben, stößt sie manchmal auf Ablehnung. Bekannte haben ihr vorgeworfen, keine richtige Muslimin zu sein. Doch Aya geht es nicht darum, ihre Frömmigkeit öffentlich zur Schau zu stellen.
"Spiritualität ist nicht an einen Ort gebunden. Man braucht auch keine Gebetsrichtung, um wirklich zu beten. Echte Gebete kommen aus dem Inneren eines Menschen. Ich liebe Kirchen und Moscheen, weil sie einem helfen, zu sich selbst zu finden. Genauso wie man in der Yogastunde zu sich selbst findet."
Für viele Libanesen ist es ist kein Widerspruch, bis tief in die Nacht zu Technomusik zu tanzen und am nächsten Tag mit dem Fasten zu beginnen. Oder überzeugter Muslim zu sein und an Weihnachten einen Weihnachtsbaum aufzustellen. Aya Kabalan singt als Muslimin im Universitätschor klassische christliche Messen auf Latein – und das macht ihr große Freude. Sie interessiert sich auch für andere Weltsichten:
"Ich habe viel über Atheismus, Naturalismus oder Buddhismus gelesen und finde, dass sie Recht haben. Ich kann vielen Aspekten darin zustimmen."

Forschungen der Universität Göttingen zur Religiosität

Von Beirut an die Universität Göttingen. Hier beobachtet die Ethnologin Johanna Kühn, wie sich die Religiosität im Libanon verändert. Dabei hat sie in dem kleinen multireligiösen Land weniger die "klassischen" Glaubensäußerungen im Blick, sondern eher neue spirituelle Angebote.
"Sachen wie Meditation, Yoga, Energieheilung. Also all das, was wir hier durchaus auch finden in Europa und dort natürlich dann in diesen muslimischen oder christlichen Kontexten interpretiert, verarbeitet und mit religiösen Vorstellungen verbunden wird. Oder eben nicht."
Johanna Kühn ist Mitarbeiterin in dem Forschungsprojekt "Private Pieties". Oder auf Deutsch:
"'Private Gläubigkeit' oder 'private Gläubigkeiten'. Wir legen sehr viel Wert auf den Plural."
Der Ethnologe Roman Loimeier hat dieses Projekt ins Leben gerufen.
"Die Idee kam dadurch, dass ich seit ungefähr 30 Jahren zu muslimischen Gesellschaften arbeite und dann häufig aber auch erfahren habe, dass mir eben dann Freunde gesagt haben: 'Roman ich weiß, Du arbeitest über den Islam, und das ist toll und so weiter – und es ist schön, wenn jemand die Texte liest und sich mit Fragen des Glaubens beschäftigt. Aber ehrlich gesagt: Ich bin nicht gläubig.'"
Und viele andere Menschen in islamisch geprägten Staaten eben auch nicht. Oder nur ein bisschen. Oder sie sagen:
"Religion ist Privatsache. Das geht Dich nichts an."
So wie viele Christen in Europa – bzw. Post-Christen – könnten auch viele Muslime oder eher Post-Muslime mit Religion nichts mehr anfangen, meint Loimeier:
"Es gibt tatsächlich viele Leute, wo der Begriff der Glaubensmüdigkeit zutrifft – also die fehlende Begeisterungsfähigkeit für das Religiöse einfach."
Manche von ihnen engagieren sich auch religionskritisch.
"Also in Tunesien beispielsweise gibt es jetzt eine soziale Gruppe, die nennt sich 'Mulhidin bi-la hudud' – also 'Atheisten ohne Grenzen'. Und die haben inzwischen 20.000 Mitglieder."

Islamische Republik als Klischee?

Sechs überwiegend islamisch geprägte Länder untersucht das Göttinger Forscherteam: Neben Libanon und Tunesien auch Senegal, Ägypten, Pakistan und Iran. Für diesen ist die Iranistin Katja Föllmer zuständig. Sie widerspricht dem Klischee von der Islamischen Republik, in der alles von der Religion durchdrungen ist:
"Die Menschen haben ihren Alltag, ganz normal. Es ist auch keine sehr traditionelle Gesellschaft, sondern eine sehr moderne Gesellschaft. Es werden Medien genutzt, es wird gearbeitet – Frauen wie Männer. Also auch hier sehen wir, dass Frauen beispielsweise sehr viel stärker an der Öffentlichkeit einen regen Anteil haben. Das schlägt sich natürlich auch im religiösen Leben nieder."
Wenn Frauen also etwa eine stärkere Rolle im Berufsleben spielen, können sie auch in der Religion an Einfluss gewinnen. Aber es kann auch sein, dass durch ihren Job die Religion unwichtiger wird, erklärt Roman Loimeier. Das gelte für Frauen wie Männer und für alle untersuchten Länder. Dort würden sich viele Menschen nicht mehr in erster Linie als muslimisch verstehen, sondern:
"Als Männer, als Frauen, als Geschäftsleute, als Banker, als Studenten, als Bauern, als Ingenieure etc. Und dann irgendwann im Gespräch vielleicht auch sagen: 'Ach ja, und ich bin Muslim.' Also wir sprechen geradezu von einer Privatisierung des Religiösen und vor allem auch von einer Individualisierung des Religiösen."
Tendenzen, dass Religion individueller wird, ließen sich auch unter Muslimen und Post-Muslimen in Europa feststellen – etwa bei tunesisch-stämmigen Menschen in Frankreich.
"Die tunesische Diaspora in Frankreich ist apolitisch, areligiös auch. Sehr stark gewerkschaftlich orientiert."

Unspektakulärer Alltag nicht in den Medien

Für viele Noch-Muslime oder Nicht-mehr-Muslime sei ihre Religion also keineswegs so wichtig, wie viele Menschen im Westen das annehmen würden.
"Wir denken, dass diese Gruppe von Menschen in den unterschiedlichen Ländern, die wir untersuchen, die absolute Mehrheit der Bevölkerung darstellt. Die aber – weil sie so unauffällig sind, so friedlich etc. – in den westlichen Medien nie wahrgenommen werden, weil das, was sie tun, eben nicht spektakulär ist. Sie leben ihren Alltag."
Und das interessiert im Westen eben oft viel weniger als Islamisten und Dschihadisten. Um die kümmert sich sein Forschungsteam ganz bewusst nicht, sagt Projektleiter Roman Loimeier, denn die Radikalen würden von anderen schon intensiv beforscht.
"Das ist eben auch die politische Sprengkraft unseres Projekts, dass wir letztendlich uns mit Menschen – der Mehrheit der Muslime in diesen Ländern beschäftigen, die radikale Interpretationen des Glaubens ablehnen."
Aber oft eben nicht, indem sie sich gegen die Radikalen engagieren, sondern indem sie einfach eine andere Art von Frömmigkeit leben.
"Ich glaube, es ist wichtig zu betonen, dass es eine Entwicklung ist. Also dieses Projekt läuft jetzt ca. zwei Jahre und wird noch drei weitere Jahre laufen. Und in der Zeit wird sich vermutlich viel tun, so wie es die letzten zwei Jahre auch schon war in den einzelnen Regionen."
Sagt Johanna Kühn, die sich in dem Projekt "Private Pieties" mit dem Libanon befasst. Dort, in Beirut, ist die Studentin Aya Kabalan so eine Art Musterbeispiel für diese private Frömmigkeit in der islamischen Welt.
"Religion beruhigt mich. Aber sie definiert nicht, wer ich bin. Sondern sie macht mich zu einer besseren Person, die mit ihrer Spiritualität zufrieden ist."
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