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Chinesen billig im Angebot

Die meisten Wanderarbeiter in der Europäischen Union stammen aus Südosteuropa. Mittlerweile werden aber auch chinesische Leiharbeiter zu Dumpingpreisen vermittelt. Ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen sind oft katastrophal.

Von Ludger Fittkau | 14.02.2013
    Sie ziehen von einer Großbaustelle zur anderen. Stechen in der Landwirtschaft den Spargel, pflücken danach Erdbeeren, ein paar Wochen später im Herbst Äpfel oder Weintrauben. Vor Weihnachten verpacken sie Bücher in den neuen Lagerhallen der Internet-Versandhändler: Wanderarbeiter – Frauen und Männer. Mihai Balan, Soziologe und Experte für Arbeitsmigration:

    "Der Begriff Wanderarbeiter bedeutet zunächst im soziologischen, politischen und historischen Sinn eine übergreifende Kategorie. Sie umfasst viele Formen. Ob das jetzt Saisonarbeit ist oder eine Beschäftigungsform als entsandter Beschäftigter oder auch eine direkte Anstellung von Arbeitern aus dem Ausland."

    Weltweit, so schätzt die Genfer Internationale Organisation für Migration, sind rund 200 Millionen Wanderarbeiter ständig unterwegs. Die meisten, die zurzeit im Bereich der Europäischen Union umherziehen, kommen aus Südosteuropa. Aus Rumänien oder Bulgarien. Doch auch schon chinesische Leiharbeiter wurden in Deutschland zu Billigstlöhnen angeboten, berichtet die Ingolstädter Wirtschaftsoziologin Sandra Siebenhüter:

    "Ich habe vor zwei Jahren eine große Studie zum Thema Leiharbeit gemacht, und dort wurde mir von einer Personalchefin eines großen Elektronikkonzerns in Bayern gesagt, dass sie auch schon Angebote bekommen hat für Chinesen. Sie sagte, es war wirklich eine Unverschämtheit. Es wurde gesagt, sie könne den Preis bestimmen. Das hat sie sehr irritiert. Ich hoffe, das ist jetzt wirklich ein Einzelfall. Aber das Thema Wanderarbeiter hat natürlich seit der Öffnung Osteuropas sicherlich zugenommen."

    Ein Thema, bei dem Sandra Siebenhüter im Zuge ihrer Forschungen immer wieder auf Verletzungen der Menschenwürde stößt: Die Arbeitsverträge von Leih- oder Wanderarbeitern werden oft nicht eingehalten, sie bekommen in vielen Fällen nur einen Teil des ihnen zustehenden Lohnes ausbezahlt oder werden unter elenden Bedingungen einquartiert, so die Wirtschaftssoziologin:

    "Es gibt Firmen, ich habe das selber schon gesehen, die haben dann Wohnblocks, wo man nichts dagegen sagen kann. Aber wir haben eben auch den Fall, wo diese Menschen eingepfercht sind in Containern oder teilweise Abbruchhäusern. Und dort leben die, und da weiß man dann auch nicht so genau, was bezahlen die eigentlich. Ich habe schon Summen gehört in Nürnberg, dass sie für ein Bett in einem Mehrbettzimmer mit nicht unbedingt positiven sanitären Anlagen teilweise 200 oder 250 Euro im Monat bezahlen, für ein Bett in einem Mehrbettzimmer. Wo man sagen muss, wer verdient da alles mit, ja."

    Der Soziologe Mihai Balan kennt ähnliche Fälle auch im Rhein-Main-Gebiet. Viele Wanderarbeiter werden von international tätigen Arbeitsvermittlern dazu angehalten, hier in Deutschland ein Gewerbe anzumelden, bevor sie etwa auf einer Baustelle die Arbeit aufnehmen. Das hat rechtlich oft weitreichende Folgen, die die Arbeiter meist nicht überblicken können, so Balan:

    "Dann haftet auf einmal jeder von diesen Bauarbeitern mit seinem Privatvermögen bei Insolvenz, bei schlechter Bauleistung, er trägt praktisch selber das Unternehmensrisiko. Und ich als Unternehmer muss dann keine Lohnsteuer mehr zahlen, keine Sozialabgaben, das erspare ich mir dadurch alles."

    Während ihrer Interviews zur Lage von Leih- und Wanderarbeitern in Deutschland hat die Wirtschaftssoziologin Sandra Siebenhüter geschildert bekommen, wie es genau abläuft, wenn Arbeiterinnen und Arbeiter aus Südosteuropa in einer deutschen Behörde ein Gewerbe anmelden:

    "Mich persönlich hat es eigentlich betroffen gemacht, weil ich mich auch mit Mitarbeitern von Gewerbeämtern unterhalten habe, dass die sagten: Wir haben wirklich die Fälle, dass wir Tage haben, wo man aus Erfahrung sagen kann, dass 80 Prozent der Personen, die in die Behörde reinkommen und dort ein Gewerbe anmelden, wo man vom Bauchgefühl her sagen kann: Das ist eigentlich eine Scheinselbstständigkeit. Da kommen Gruppen mit einer Übersetzerin ins Gewerbeamt, melden dann dort ihr Gewerbe an, die sprechen selbst kein Wort Deutsch. Das heißt, die Idee eines Gewerbes, wo man sagt, die generieren dann hier Aufträge, machen sich hier selbstständig, das ist aufgrund der Sprachbarriere überhaupt nicht möglich. Und man weiß, dass im Hintergrund eine Firma steht, die diese Bulgaren oder Rumänen ins Gewerbeamt schicken, dass sie dort ein Gewerbe anmelden. Aber es ist schon völlig klar, für wen sie später arbeiten werden."

    Der Soziologe Mihai Balan, der selbst rumänische Wurzeln hat, berät für den gewerkschaftsnahen Europäischen Verein für Wanderarbeiterfragen im Rhein-Main-Raum Menschen, die der Arbeit hinterherziehen. Zu kämpfen hat er damit, dass viele Gewerkschaften in Osteuropa seit der Zeit des Kommunismus keinen guten Ruf haben. Sie gelten als zu stark mit der Staatsmacht verquickt:

    "Und da müssen wir von den Beratungsstellen, von den Gewerkschaften kulturelle Vermittlungsarbeit leisten. Den Menschen einen Begriff davon zu vermitteln, was Gewerkschaft auch sein kann."

    Der Soziologe sieht im Feld der Wanderarbeit vor allem gravierende Folgen für die sozialen Strukturen in den Herkunftsländern der Arbeiter:

    "Für die mikrosozialen Räume – sprich Dorf – und für die makrosozialen Räume – die Gesamtgesellschaft – ist es natürlich verheerend, wenn in vielen Regionen die Erwachsenen für die Arbeit sich in ein fremdes Land begeben. Man hat Formen von Verwahrlosung bei den Kindern, weil die ganze Jugend in der Obhut der Alten liegt, die das sehr oft nicht leisten können. Die das nicht kompensieren können, was an Mangel da ist. Eltern, die aus Schuldgefühlen und aus der Not heraus auch das Geld rücküberweisen."

    Das wiederum wecke bei den zurückgelassenen Kindern falsche Konsumerwartungen, so Balan:

    "Die Entfremdung wird nicht aufgefangen, durch das Geld, das rücküberwiesen wird, wenn man die Familien betrachtet. Für den Arbeitsmigranten selbst, man kann das ja mal durchspielen, wie das wäre, wenn man zehn Jahre lang fast ausschließlich von seiner Familie getrennt lebt. Ich habe mal einen getroffen, der hat zehn Jahre lang jährlich ungefähr 30 Tage lang seine Familie gesehen. Was das für einen bedeutet: Man arbeitet für die Familie, aber ist nie Teil der Familie oder ganz selten. Das muss furchtbar sein."

    Wanderarbeiter sollen schweigen - gegenüber dem deutschen Zoll oder auch gegenüber Hilfsdiensten, die sich auf einer Baustelle oder auf einem Containerplatz nach ihrer Lage erkundigen. Dies wollen die Firmen, die die Arbeiter nach Deutschland vermittelt haben. Dafür bekommen die Wanderarbeiter - aber auch andere mögliche Zeugen auf der Baustelle - einen Teil ihres Lohnes als Schwarzgeld. Das sei eine Art von "Schweigegeld", so die Wirtschaftssoziologin Sandra Siebenhüter:

    "Ja, dieses Schweigekartell, das betrifft eigentlich zwei Gruppen. Das betrifft einmal die Wanderarbeiter. Dass man ihnen einen Teil dieses Geldes in schwarz bezahlt oder bar ausbezahlt und dann sagt, das ist eine Möglichkeit, das können wir auch jederzeit streichen, wenn du da irgendwie Schwierigkeiten machst. Und ich habe es auch inzwischen schon mitbekommen, dass die deutschen Mitarbeiter in den Firmen auch eine bestimmte Zulage kriegen. Weil die ja möglicherweise diese Arbeitsverhältnisse beobachten und damit die einfach den Mund halten. Das ist mir auch schon berichtet worden. Das heißt also, dass die festangestellten Kollegen in einer deutschen Firma eine Zulage bekommen, die man ihnen jederzeit wieder wegnehmen kann. Und das ist im Grunde genommen eine Art Stillhalteprämie."

    Sandra Siebenhüter sieht wie ihr Frankfurter Soziologenkollege Mihai Balan vor allem die Europäische Union in der Pflicht, die Arbeits- und Lebensbedingungen von Wanderarbeitern entscheidend zu verbessern. Bisher seien die Gesetze in diesem Bereich vor allem eines – einseitig arbeitgeberfreundlich.