Dienstag, 16. April 2024

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Chinesische "pulp fiction"

Zhu Wen überschreitet sicher und gezielt die Grenzen des chinesischen Geschmacks. Durch ätzende Kritik am Kommunismus den des politischen Etablissements, durch seine rau-rheotorische Direktheit den des zurückhaltenden Chinesen an sich. Nicht ohne ein Augenzwinkern ergeht sich Zhu in seinen sechs Erzählungen in der "pulp fiction" von Größen wie Bukowski.

Vorgestellt von Dorothea Dieckmann | 28.05.2009
    "I love Dollars": Schon das provozierende Bekenntnis der titelgebenden Erzählung signalisiert, dass der 42-jährige Zhu Wen ein rebellischer Zeitgenosse der brachialkapitalistischen Ära Chinas ist – jener Schriftstellergeneration also, die sich seit den 90ern zwischen der Skylla des Staatskommunismus und der Charybdis eines rücksichtslosen Wirtschaftswachstums zu behaupten sucht. Die sechs Geschichten aus dem modernen China sind sämtlich in der Ich-Perspektive verfasst, ja Zhu Wen spielt immer wieder mit der Identität zwischen Autor und Erzähler. So etwa, wenn dem Protagonisten der Erzählung "Pfunde, Unzen und ein Stück Fleisch" auf der Straße eine junge Frau entgegenkommt:

    In ihrer Hand hielt sie eine Ausgabe von 'I love Dollars'. Mein Herz begann wild zu schlagen ... Später musste ich noch oft an die Szene denken, wie dieses energiegeladene Mädchen das Buch genau vor ihre Brust hielt und mir damit Augen und Sinne derart vernebelte, dass ich völlig übersah, wie auffallend flach ihre Brust war.

    Darin liegt eine flapsige Anspielung auf die subversive Qualität der 1994 vorveröffentlichten Titelerzählung, derentwegen später der gesamte Band aus dem Verkehr gezogen wurde – was dem Autor jedoch umso mehr Aufmerksamkeit bescherte. In seiner antiliterarischen, mündlichen Sprache erscheint uns China als Ort apathisch-aggressiver Bedrückung in einer schmutziggrauen Atmosphäre von leerem Hedonismus, Untätigkeit und Desillusionierung, in der sich die Welten Becketts und Bukowskis durchdringen. Die Hauptfigur von "I love Dollars" will den eigenen Vater zu dem Glück zwingen, mit einem jungen Mädchen zu schlafen, bis er ihm gar seine eigene Freundin anbietet. Die nächtliche Odyssee führt über ein verschlamptes Studentenwohnheim und das Besäufnis in einer überfüllten Esskneipe, wo der Erzähler auf den Tisch kotzt, in eine Kinovorstellung geht und endlich in einen mit Prostituierten vollgestopften Musikclub. Bei den Preisverhandlungen lässt der Autor die Katze aus dem Sack. Sex und Schreiben sind für den jungen Mann buchstäblich zwei Seiten derselben Medaille:

    Ich wußte zwar, dass eintausend Yuan letztlich keine große Summe war, aber beim gegenwärtigen Stand der Dinge musste ich ... eingestehen, dass es für mich ein durchaus hoher Betrag war, der ziemlich genau dem Honorar für eine Novelle entsprach. Nach dem derzeitigen Wechselkurs waren das genau 125 Dollar ... Mit anderen Worten: Die Arbeit, die sie in einer halben Stunde leistete, war ebensoviel wert wie meine eines ganzen Monats, mindestens. Ein bisschen unfair, oder?

    In einer einzigen Geschichte gelingt es Zhu Wen, sowohl konfuzianische als auch kommunistische Tabus zu brechen und die Zensur herauszufordern, die die Kritik an Kapitalismus und Konsumismus ebenso abstraft wie jene an der staatlichen Repression. Letztere nimmt Zhu vor allem in der Erzählung "Xiao Xie, ach Xiao Xie" aufs Korn, in die seine Erfahrungen als Ingenieur in einem Elektrizitätswerk einfließen. Die Arbeiter werden mit schikanösen Fortbildungsmaßnahmen beschäftigt, deren Kosten sie mit einem Mal aufbringen sollen, als sie von ihrem Recht auf Kündigung Gebrauch machen wollen.

    Vertragsarbeiter waren wir, nichts weiter. Prostituierte! Wenn wir gehen wollten, mussten wir auch noch eine Ablöse zahlen, um unsere Freiheit wiederzuerlangen. Xiao Xie ... forderte von der Firma als Gegenleistung eine Entschädigung für die verlorenen Jahre seiner Jugend. Doch unser Betriebsleiter, schlau und durchtrieben wie eine Puffmutter, rechnete sich aus, dass ein Mädchen namens Xiao Xie auf dem freien Arbeitsmarkt keine große Zukunft erwartet hätte, mochte es hüpfen und springen, wie es wollte.

    Zhu Wens Schreiben, weit entfernt von brav didaktischer Gesellschaftskritik, bezieht seine widerständige Kraft aus einer grotesken, ätzend komischen "pulp fiction" und einer szenischen Hypergenauigkeit, die zwischen quälender Langsamkeit und eruptiver Brutalität wechselt, um am Ende stets hart abzubrechen, als wollte der Autor sagen: So oder ähnlich geht es immer weiter, immer schlimmer, und basta. Stets behauptet dabei der Ich-Erzähler ein zynisches Einverständnis mit den Verhältnissen, in denen das Geld die Beziehungen beherrscht, egal, ob man seinen Körper, seine Arbeitskraft oder seine Kunst verkauft. Es beweist Zhu Wens künstlerische Aufrichtigkeit, dass er sich nach mehreren Prosabänden nicht auf seinen Lorbeeren ausgeruht, sondern die Disziplin gewechselt und sich als ebenso kompromissloser Filmemacher einen Namen gemacht hat. Mit satirischer Selbstironie nimmt er in der Kinoszene in "I love Dollars" auf seine eigenen Drehbucharbeiten Bezug:

    Insgesamt also ein Schmachtfetzen, in dem eine edle Prostituierte einen Mann zum Künstler macht. Ein gewisser Zhu Wen hat das Drehbuch verfasst. Mit solchen Geschichten geht heutzutage alle Welt hausieren, es gibt sie für zehn Cent im Doppelpack. Man lasse sie sich auf der Zunge zergehen.

    Auch in Zhu Wens erstem, von der Kritik gefeierten Film "Seafood" von 2001 geht es um eine Prostituierte, jene Figur also, die das Prinzip des Kapitalismus am reinsten verkörpert: Der Mensch wird zur Ware. Der zweite Film jedoch, "South of the Clouds", entfernt sich von dieser Thematik. Gefragt, was er wiederum im nächsten Projekt anders machen werde, antwortete Zhu Wen vergangenes Jahr dem amerikanischen Filmemacher Ken Lee:

    "Ich weiß nicht. Vielleicht werde ich Maler."


    Zhu Wen. I love Dollars und andere Geschichten aus China. Aus dem Chinesischen und mit einem Nachwort von Frank Meinshausen. A1 Verlag München, 359 S.