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Chirurg der Epochen

In der einen Hand die Zigarre, in der anderen ein gut gefülltes Glas Whisky. So kennt man Heiner Müller, den am 9. Januar 1929 in Sachsen geborenen Dramatiker und Theaterregisseur, der in seinen Stücken Geschichtsepochen wie mit dem Seziermesser zerlegte. Als er am 30. Dezember 1995 starb, ehrten ihn seine Freunde und Kollegen mit einem mehrtägigen Lesemarathon im Berliner Ensemble.

Von Michael Opitz | 09.01.2009
    "Die Schlacht hat uns nicht umgebracht, aber bei ruhiger Luft, im stillen Zimmer, bringen wir uns selber um."

    "Krieg ohne Schlacht" nennt Heiner Müller seine 1992 erschienene Autobiographie, die vom Leben in zwei Diktaturen handelt. Sein Stück "Die Schlacht", das er Anfang der fünfziger Jahre zu schreiben beginnt, nimmt den Dialog mit Brechts "Furcht und Elend des III. Reiches" auf. Der am 9. Januar 1929 in Eppendorf in Sachsen geborene Dramatiker, Lyriker und Regisseur, der sich mit seinen Texten am Experiment Sozialismus beteiligen will, macht früh die Erfahrung, nicht gebraucht zu werden. Seine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit passt nicht ins herrschende Geschichtsbild. In seinem Stück "Der Lohndrücker" zeigt er den Menschen als ein Ensemble von Widersprüchen.

    "Wir haben zusammen in der Rüstung gearbeitet, Balke. ′44 haben sie mich eingesperrt – Sabotage. Dich haben sie nicht eingesperrt. Du warst der Denunziant.""

    Balkes Arbeitsethos, das sich während des Krieges gegen die richtet, die Widerstand leisten, wird nach dem Krieg von denen gebraucht, die er damals verraten hat.

    "Lohndrücker ist das erste publizierte Stück gewesen und damals stand im 'Spiegel': Stachanow kriegt Prügel – und der Untertitel war: 'Sowjetzonaler Dramatiker gibt in Erstlingswerk zu, dass Mehrheit der Bevölkerung gegen Zonenregime.' Und als ich das inszeniert habe, war plötzlich ganz klar, dass der 'Spiegel' das richtig gelesen hatte und ich nicht. Das ist normal, der Text ist immer etwas klüger als der Autor, wenn er gut ist."

    Skeptisch beobachtet man in der DDR die Entwicklung des jungen Autors. Zu einem ersten kulturpolitischen Eklat kommt es – weitere werden folgen – als Müllers Stück "Die Umsiedlerin" kurz nach der Premiere im September 1961 abgesetzt wird. Nach dem Verbot wendet sich der Dramatiker antiken Stoffen zu. Aber in Stücken wie "Philoktet", "Der Horatier" und "Ödipus Tyrann", weicht er der Gegenwart nicht aus, sondern spiegelt sie im historischen Kontext.

    "Im Jahrhundert des Orest und der Elektra, das heraufkommt, wird Ödipus eine Komödie sein."

    Müllers eigentliches Interesse gilt der deutschen Geschichte, die er in dramatischen Texten wie "Mauser", "Der Auftrag" oder "Hamletmaschine" bearbeitet. Der Terror, über den er schreibt, kommt aus Deutschland. In diesen Stücken, die in der DDR lange verboten waren und Müllers Ruhm im Westen begründen, zeichnet er die Blutspur der sozialistischen Revolution von den Anfängen bis in die Gegenwart nach. Immer wieder beschwört Müller in seinen Texten die Toten. Bei dieser Arbeit wird ihm Walter Benjamins Engel der Geschichte zum Sinnbild. In dem Gedicht "Der glücklose Engel" von 1958 hält er Zwiesprache mit dem Benjaminschen Angelus Novus.

    "Der glücklose Engel. Hinter ihm schwemmt Vergangenheit an, schüttet Geröll auf Flügel und Schultern, mit Lärm wie von begrabenen Trommeln, während vor ihm sich die Zukunft staut, und seine Augen eindrückt."

    Die Toten sollen hergeben, was mit ihnen begraben wurde. Bei dieser Arbeit gerät Müller immer tiefer in die Geschichte. In seinem Stück "Germania. Tod in Berlin" führt ihn die Suche nach den Ursachen für die Spaltung Deutschlands bis zu den Nibelungen. Mit dem Untergang der DDR verliert Müller seinen Lieblingsgegner. In seinem letzten Lebensjahrzehnt schreibt er vermehrt Lyrik. Mit "Germania 3 Gespenster am Toten Mann" vollendet er nur noch einen dramatischen Text. 1990 wählt in die Akademie der Künste zu ihrem Präsidenten. Seit 1992 gehört er zum Direktorium des Berliner Ensembles, dessen künstlerischer Leiter er 1995 wird. Im Sommer 1994 erkrankt Heiner Müller an Krebs. Die Krankheit deutet Volker Braun als "Symptom des Ekels an den Verhältnissen". Heiner Müller stirbt am 30. Dezember 1995 in Berlin.

    "Der Tod ist das Einfache. Sterben kann ein Idiot."