Donnerstag, 25. April 2024

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Christel und Rupert Neudeck
Ein Team, das Leben rettete

Der Staatspreis des Landes Nordrhein-Westfalen geht an Rupert und Christel Neudeck, die ihre Leben lang Menschen auf der Flucht, im Krieg und in Krisen geholfen haben. Ein Schiff für Vietnam, Cap Anamur, das internationale Friedenskorps Grünhelme: So hießen die Stationen, die vor einigen Monaten in unzähligen Nachrufen genannt wurden – als Rupert Neudeck im Mai nach einer Herzoperation starb.

Von Moritz Küpper | 21.09.2016
    Christel und Rupert Neudeck bei der Verleihung des Erich-Fromm-Preises im April 2016.
    Christel und Rupert Neudeck bei der Verleihung des Erich-Fromm-Preises im April 2016. Neudeck starb im Mai. (picture alliance / dpa/ Marijan Murat)
    "Eminenz, liebe Familie Neudeck, verehrte, und heute so große, wunderbar große Trauergemeinde."
    Es war Mitte Juni, bei der Trauerfeier für den kurz zuvor verstorbenen Rupert Neudeck in der St. Aposteln-Kirche in Köln, als der Schriftsteller Navid Kermani am Rednerpult stand – und die zahlreichen Zuhörerinnen und Zuhörer in der überfüllten Kirche mit in seinen Fernsehsessel nahm:
    "Letzten Mittwoch habe ich Fernsehen gesehen. Eine Stunde lang oder weniger: das Ende von Report Mainz, danach die Tagesthemen. Der Moderator kündigte den Beitrag mit der Entschuldigung an, dass jetzt schon wieder ertrunkene Flüchtlinge im Mittelmeer gezeigt würden, obwohl wir vermutlich schon abgestumpft seien."
    Es ist dieser Rahmen, die Beschreibung des heute Alltäglichen, die an diesem Juni-Vormittag, eben bei der Trauerfeier für Rupert Neudeck in St. Apostel, zeigte, wie aktuell sein Thema war – und welche Größe er selbst hatte.
    "Man kann die Bilder an sich abperlen lassen. Oder die eigene Angst vorschützen: Oh Gott, wenn die alle zu uns kommen."
    Beschrieb Kermani die Gedanken wohl vieler Menschen angesichts der Fernsehbilder von heute – aber eben auch von damals: von 1979, als tausende vietnamesische Flüchtlinge im Chinesischen Meer trieben. Menschen, die abgeschlachtet werden, Menschen, die um ihr Leben rennen, die fliehen.
    "Und wenn das Opfer ein Kind ist, fällt es sogar den Zynikern, den Ängstlichen und den Rassisten schwer, das Mitgefühl zu unterdrücken. Dann gestehen selbst sie sich ein, dass solche Bilder unangenehm sind. Ja, eigentlich unerträglich, aber das man sie jetzt einmal aushalten muss."
    Stille. Betroffene Stille.
    "Aushalten. Es ist ein sehr sprechendes Wort."
    Es entspreche nicht unseren menschlichen Anlagen, so Kermani. Da sei eher das Mitgefühl – aber viele in ihren Fernsehsesseln drückten es weg, schaltet ab, gingen ins Bett – und löschten das Licht:
    "Dass Rupert Neudeck ebenfalls ein mulmiges Gefühl hatte, als er 1979 die Bilder von den Vietnamesen sah, die in kleinen Booten aufs offene Meer flohen. Der Unterschied, von dem ich sprach, geschah genau hier. Er hörte auf sein Gefühl, er löschte nicht das Licht."
    Es war der Beginn, oder, wie es Kermani nannte: Neudecks Startpunkt.
    (Fortsetzung von Kermanis Rede:)
    "… fortan immer weiter das Leben geführt hat, dass man für andere lebt. 1991 in Angola, 1995 in Sarajevo, 2001 in Afghanistan, 2011 in Syrien, 2014 im Irak - um stellvertretend nur einige Orte zu nennen, wo er gegen alle Vernunft ausharrte, als weit und breit kein anderer Helfer mehr war."
    Und auch berichtete – in zahlreichen Interviews im Deutschlandfunk, dessen Redakteur er von 1978 bis 2002 war. Zuletzt am 4. März über die Situation in Syrien, über den Bau einer Berufsschule für Palästinenser in den besetzten Gebieten. Beobachter, Berichterstatter, Betreuer vor Ort.
    Helfen. Menschen helfen, das wurde Neudecks Lebensinhalt, aber auch der von seiner Ehefrau Christel. Gemeinsam schafften sie das viele tausend Male, und bekamen zahlreiche Orden, Medaillen und Ehrungen. Und nun auch den Staatspreis des Landes Nordrhein-Westfalen. Und zwar als Team, für beide, wenn auch heute Abend nicht gemeinsam, wie Ministerpräsidentin Hannelore Kraft bei der Bekanntgabe hervorhob:
    "Christel und Rupert Neudeck haben über Jahrzehnte ein großes Engagement gezeigt – und zwar immer als Team. Dabei haben beide mit großer Leidenschaft und mit einer wirkungsvollen Arbeitsteilung gemeinsam dafür gekämpft Menschenleben zu retten."
    Denn erstmals in der 30-jährigen Geschichte dieses Preises bekommt ihn ein Mensch posthum verliehen. Es ist die höchste Auszeichnung des Landes, in dem Neudeck nach seiner Geburt in Danzig und der folgenden Flucht letztendlich in Troisdorf eine Heimat fand. Und von der aus, seine Frau und er halfen, so Kraft:
    "Christel und Rupert Neudeck haben gehandelt. Sie haben nicht zugesehen. Sie haben Mut und Menschlichkeit bewiesen und allen gezeigt, dass ein jeder, eine jede, dazu beitragen kann, die Welt besser zu machen."
    Oder, um es mit Navid Kermani und dem Fernsehsessel zu sagen: Sie hörten auf ihr Gefühl, sie löschten nicht das Licht.