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Christian Frascella: "Bet empört sich"
Das Sinnbild einer verlorenen Generation

Elisabetta ist wütend: nicht nur auf ihre Mutter, ihre Lehrer und ihren sich verändernden Körper: Vor allem auf den Zustand der italienischen Gesellschaft. So sehr, dass die 17-jährige Protagonistin aus Christian Frascellas Roman "Bet empört sich" sich eine Revolution herbeisehnt - und am Ende zur Identifikationsfigur einer Generation wird.

Von Aureliana Sorrento | 08.06.2016
    Farbfoto: aufgebrachte Studierende protestieren mit Plakaten in der Hand
    Studentenprotest in Mailand: "Bet empört sich" behandelt eine Problematik, die alle, in ganz Europa, angehen sollte. (Imago/Milestone Media)
    Bet ist ein Spitzname. Ihren wahren Namen Elisabetta kann die Protagonistin von "Bet empört sich" nicht leiden. So hießen dumme Tussis, erklärt sie gleich in den ersten Zeilen, und sie wolle auf keinen Fall als dumme Tussi enden. Ein eigensinniges Mädchen ist diese Bet. Trotzig, reizbar und streitbar - bei einer Siebzehnjährigen nichts Ungewöhnliches. Bet hat auch ein paar Probleme, die sie mit vielen Gleichaltrigen auf der Welt teilt: Konflikte mit der Mutter, Konflikte mit den Lehrern, ein gewisses Unbehagen am Körper, der plötzlich erwachsen wird.
    "Jeden Morgen, wenn der Wecker klingelt, denke ich an die Revolution"
    Aber in erster Linie hat sie Probleme, die sie nur mit ihren italienischen Gleichaltrigen teilt. Zum Beispiel wurde sie als Frau in ein Land hineingeboren, wo nach 20 Jahren Berlusconismus Frauen nur wegen ihrer körperlichen Reize geschätzt werden. Das ist das Erste, was Bet anwidert. Deshalb reagiert sie sehr unwirsch auf jedes Anzeichen von Anmache. Außerdem gehört sie zur zweiten Generation von Italienern, auf die nach der Ausbildung die Arbeitslosigkeit wartet, oder bestenfalls ein Dauerwettlauf um prekäre und unterbezahlte Jobs. Seit Beginn der Wirtschaftskrise sind nicht mal mehr solche vorhanden. Nur Entlassungen stehen auf der Tagesordnung. Dennoch rebellieren die jungen Italiener nicht, sie verharren in einer Mischung aus Verzweiflung und Lethargie. Ein Zustand, dessentwegen Bet auf die meisten Gleichaltrigen abschätzig herabblickt. Auch sie fürchtet manchmal, genauso passiv wie alle anderen zu sein. Einen Traum hat sie jedoch nicht aufgegeben:
    "Jeden Morgen, wenn der Wecker klingelt, denke ich an die Revolution. Ich denke, dass in irgendeinem Teil der Stadt der Aufstand tobt. Jugendliche, Kurzarbeiter, Ausgebeutete, alle, die es einfach nicht mehr ertragen, sind auf die Straße gegangen. Unsere ganze Epoche erhebt sich gegen das, was falsch läuft in der Schule, in der Fabrik, in den Zeitungen, überall. Ich stelle mir vor, dass ich aus dem Fenster schaue und die Revolte ganzer Generationen erlebe."
    Dann steht sie auf, schaut aus dem Fenster und sieht, dass alles wie gestern ist.
    "Und eine endlose, ernüchternde Minute lang beherrscht mich eine durchdringende Angst."
    So bringt Christian Frascella das Gefühl von Ohnmacht und Zukunftsangst auf den Punkt, die inzwischen nicht nur Italiener, sondern Millionen junger Europäer erdrückt. "Bet empört sich" ist ein Krisenroman. Wegen der jugendlichen Heldin dem Genre nach ein Jugend- und ein Bildungsroman, behandelt er eine Problematik, die alle, in ganz Europa, angehen sollte.
    Eine Kurzschlusshandlung mit Folgen
    Die Entwicklung der Protagonistin nachzuzeichnen hat der Autor klugerweise ihr selbst überlassen, und dem Sog ihrer stürmischen Erzählung kann man sich nicht entziehen. Bet spricht in der saloppen Art von Teenager, die cool sein wollen, aber in einem Ton, der kein Zweifel daran lässt: Hier hat jemand eine ziemliche Wut im Bauch. Wir erfahren, dass das Gespenst einer verstorbenen Schwester über dem Familienalltag schwebt. Bets Mutter hat sich vom Schock nie erholt, Bets geliebter Vater ist schon vor Jahren ausgezogen. Unter den Umständen leidet Bet merklich, aber ihr Zorn entzündet sich vor allem an den tagtäglichen Ungerechtigkeiten, die sie miterlebt.
    Als eine alte Frau aus ihrer Wohnung herausgeworfen wird, weil sie die Miete nicht mehr bezahlen kann, legt sich Bet mit dem Beamten und dem Carabiniere an, die die Räumung vollstrecken müssen - und landet erstmals in Untersuchungshaft. Als sie erfährt, dass ihrer Mutter und anderen Angestellten ihrer Firma gekündigt werden soll, organisiert sie mithilfe ihres Schulfreunds Andrea einen Streik - der kläglich scheitert. Dann kann sich Bet nicht mehr beherrschen. Sie rennt zur Schule, kettet sich an einen Heizkörper im Zimmer des Schuldirektors an und schweigt. Eine Kurzschlusshandlung mit Folgen.
    Ein Happy End, wie es sich für einen Jugendroman gehört
    Aus Solidarität besetzen Bets Kameraden die Schule, und Andrea, der herbei geeilt ist, fordert sie auf, ihrer Aktion einen Sinn zu geben, indem sie ihre Motive nennt. Nach kurzem Überlegen schreit Bet ihren Frust in Andreas Handykamera. Den Wortlaut ihrer Philippika erfährt der Leser nicht; nur soviel, dass sie in einem Rundumschlag jener Gesellschaft die Leviten liest, die ihrer Generation die Zukunft gestohlen hat. Dabei spricht sie ihren Landsleuten so sehr aus der Seele, dass das von Andrea ins Internet gestellte Video in Windeseile Hunderttausende von Zuschauern erreicht und Bet über Nacht berühmt macht.
    Ein Happy End, wie es sich für einen Jugendroman gehört. Zum Schluss ist Bet dem Leser ans Herz gewachsen und hat sich mit ihrer Umgebung versöhnt, wenn auch nicht mit der Welt. Draußen hat sich nichts geändert, die Revolution hat nicht stattgefunden. Nun hat Christian Frascella mit Bet eine Figur geschaffen, mit der sich jeder Heranwachsende identifizieren kann, und zugleich das Sinnbild einer verlorenen Generation.
    Christian Frascella: "Bet empört sich". Roman. Aus dem Italienischen übersetzt von Annette Kopetzki. Frankfurter Verlagsanstalt, 2015. 285 Seiten, gebunden.