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Christian-Geissler-Werkschau
Nüchternes und karges Kunstgeflecht

Im Mittelpunkt des Romans von Geissler "Wird Zeit, dass wir leben" steht zwar die Befreiung eines führenden Kommunisten aus der Nazihaft, aber sie ist eingebunden in ein vielfältiges Personentableau, das ein breites gesellschaftliches Spektrum umfasst: Gutsherr, Büchsenschmied, Straßenmädchen, Bandenchefs, Arbeiter und Arbeitslose.

Von Helmut Böttiger | 17.01.2014
    Die charakteristischen Wirren, um die es hier geht, gehören zu einer längst vergangenen, aber gar nicht weit zurückliegenden Zeit. Christian Geissler veröffentlichte seinen Roman 1976 im Rotbuch-Verlag, in der politisch stark aufgeladenen Periode unmittelbar vor dem "Deutschen Herbst" und dem Tod der in Stuttgart-Stammheim inhaftierten Mitglieder der "Rote Armee Fraktion". Geissler spielt gezielt mit diesem zeitgenössischen Hintergrund, er ist ständig mit im Blickfeld – der Text selbst allerdings handelt von den zwanziger und Dreißigerjahren. Der Autor berichtet in einem kurzen Vorwort von einem Hinweis, der für ihn "beispielhaft" gewesen sei: Es geht um einen Hamburger Polizisten, der 1933/1934 versucht hat, in Nazideutschland politische Gefangene zu befreien.
    Radikale politische Positionen
    Die genauen historischen Geschehnisse teilt Geissler nicht mit. Umso interessanter erscheint seine literarische Formgebung. Im Mittelpunkt steht zwar tatsächlich die Befreiung eines führenden Kommunisten aus der Nazihaft, aber sie ist eingebunden in ein vielfältiges Personentableau, das ein breites gesellschaftliches Spektrum umfasst: Gutsherr, Büchsenschmied, Straßenmädchen, Bandenchefs, Arbeiter und Arbeitslose. Christian Geissler geht es um eine Gesellschaftsdiagnose, und das vermittelt er durch seine eigenständige Sprache, die etwas ganz anderes will als die landläufige politische Prosa seiner Zeit, in der das richtige Bewusstsein ja jedes Mal ideal hervorleuchtet. Aus dem Umfeld des Post-68-er-Milieus der alten Bundesrepublik und der DDR-Literatur sticht Geissler grell heraus. Er verbindet radikale politische Positionen mit einer avantgardistischen, formbewussten literarischen Sprache. Ihre Grundlage bildet der Hamburger Slang in verschiedenen sozialen, vor allem proletarischen Abfärbungen. Daraus entsteht ein nüchternes und karges Kunstgeflecht, aber auch eine poetische Verdichtung. Hier geht alles von der Basis aus, hier gibt es keine Romantisierungen und keinerlei landläufige Psychologie und Personenführung. Die Sprache schafft eine neue Form von Wirklichkeit, sie nimmt alle Widersprüche in sich auf und drückt sie aus, sie hat mit dem üblichen Realismus wenig zu tun. Das klingt zum Beispiel so:
    Die Sprache schafft eine neue Form von Realität
    "Sie redeten niemals, fast nie, von sich selbst, und doch schließlich nur, egal wo, vom Kampf, von sich selbst als ihrem Kampf, und was jeder an Träumen vorhat und Ficken und Fliegen und Arbeit und Zärtlichkeit, anfassen, fressen und stille Nächte und Trost und Gelächter, das war berstend mittendrin aufgehoben in Plan und Mühsal und Wegen gegen das Schwein, die Sau, den Ganter in jedermanns Kreuz, den alten Arsch auf allen Gesichtern, Maschinen und Städten, Feldern und Kindern, "alles unser Land, alles wir selbst", und wenn sie auch manchmal genauso standen und lagen, tappten und schnappten und jappten wie jeder, lief, zielte, stieß doch das alles in einem Punkt, weit voraus klar, auf offener See, unser Boot, die Fahrt von uns allen, wir selbst."
    Es geht in diesem Roman auch um die Risse in der kommunistischen Partei: um die unbedingte Parteidisziplin auf der einen, um Eigensinn auf der anderen Seite. Bei der Frage, ob man den Nationalsozialisten als friedliche Massenbewegung oder mit Waffengewalt entgegentreten solle, scheiden sich die Geister. Der Funktionär Schlosser steht für die strikte Parteilinie, die Gruppe um Leo Kantfisch und dem Gutsknechtsmädchen Karo für das, was die Parteioberen als "individuellen Terror" ablehnen. Die KPD-Führung wolle sich nicht mit den Mördern gemeinmachen, sagt Schlosser einmal in einer Diskussion. Der Roman beschreibt nun eine historisch einmalige Pointe: Schlosser wird von den Nazis verhaftet, und der Gruppe um Kantfisch gelingt es mit eben jener brachialen Gewalt, die der Funktionär vorher abgelehnt hat, ihn zu befreien.
    Geissler als Mitglied in der KPD
    In der konkreten Realität sah das Geschehen, auf das sich Geissler bezieht, ganz anders aus. Das ist die entscheidende Volte des Textes. Denn der inhaftierte führende Hamburger KPD-Genosse Fiete Schulze wurde im Juni 1935 hingerichtet. Die Befreiungsaktion, die der Polizist Bruno Meyer und seine Geliebte Christa Rom tatsächlich geplant hatten, flog schon vorher durch einen Spitzel auf. Der bewundernswerte Akt des Widerstands geriet nach 1945 in Vergessenheit. Besonders kennzeichnend scheint, dass Bruno Meyer selbst, mit dem Geissler einige Gespräche für seinen Roman geführt hatte, den entstandenen Text dann vehement ablehnte. Der Autor und seine konkrete historische Figur waren in den sechziger und Siebzigerjahren geradezu Antipoden. Im Gegensatz zu dem parteitreuen Meyer wechselte Christian Geissler, der 1967 in die illegale KPD eingetreten war, 1969 nicht in die neugegründete DKP über: Er lehnte deren "Legalitätsprinzip" ab.
    Geisslers "exemplarische Aktion" in seinem Roman ist also so etwas wie eine konkrete Utopie, die sich an den Wirklichkeiten der dreißiger wie der Siebzigerjahre hart stößt. Aber sein Text ist keineswegs eindimensional. Der Autor stellt den Funktionär Schlosser durchaus nicht ausschließlich negativ dar, seine Figurenzeichnung ist äußerst differenziert. Dennoch war die Initialzündung für seinen Roman die Befreiung des Kaufhausbrandstifters Andreas Baader aus dem Gefängnis im Mai 1970, er empfand dies als notwendigen Akt der Gegenwehr. Man spürt das im Roman "Wird Zeit, dass wir leben" durch: Die Figur Rigo kann man auch als Andreas Baader-Wiedergänger lesen, ich zitiere:
    Mutti will ficken
    "Rigo, zwei Zentner knochig groß, schon fünfundzwanzig in diesem Herbst, schon über drei Jahre arbeitslos, wer arbeiten will, der findet auch was, "ich hab was gefunden, das geb ich nicht her", seine Boxcalfjacke hatte Gewicht, nicht nur vom Regen, mattschwarz innen links runter, die Waffe nah an der Haut. Sonst redete er nicht viel. Nur das Lachen vom Bullenbeißer, endgültig herrenlos. Schlosser richtete sich streng auf, sagte, er sei jetzt bemüht, alles Fragliche möglichst klar richtigzustellen, sicherzustellen, kühl festzustellen. Die Jungen lachten ihn aus, "hier wird jetzt was locker gemacht, und feststeht bald nicht mal dein Küchensofa, lauf mal schnell hin, Mutti will ficken", sie hörten ihm gar nicht mehr zu."
    An der Dialektik solcher Prozesse arbeitete sich der Autor Christian Geissler ab, bis zu seinem Tod im Jahre 2008. Die Widersprüche, in die er sich verstrickt sah, werden nicht nur in der Ablehnung seines Romans durch die vermeintliche Hauptfigur Bruno Meyer alias Leo Kantfisch deutlich. Sie wurzelten auch in seiner unmittelbaren Gegenwart. Die Entwicklung der "Rote Armee Fraktion", des "individuellen Terrors" und seiner Irrtümer hat er dann 1988 in seinem hochkomplexen Roman "kamalatta" reflektiert, der Titel verweist auf eine der poetischen Formeln der Unverständlichkeit und höheren Wahrheit von Friedrich Hölderlin. "Wird Zeit, dass wir leben" ist das Buch, mit dem der engagierte Verbrecher Verlag in Berlin eine Werkausgabe Christian Geisslers beginnt. Er ist nicht nur ein spannendes Dokument für die Bewusstseinslage der Siebzigerjahre, eine politische Archäologie, er geht in seiner ästhetischen Gestaltung weit über diese hinaus: Christian Geissler ist der einzige Autor, den man in die Nähe von Peter Weiss und dessen monumentaler "Ästhetik des Widerstands" rücken kann.
    Christian Geissler: Wird Zeit, dass wir leben. Geschichte einer exemplarischen Aktion.
    Mit einem Nachwort von Detlef Grumbach. Verbrecher Verlag, Berlin. 357 Seiten, 22 €