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Christian Torkler: "Der Platz an der Sonne"
Am Ende bleibt nur Ratlosigkeit

Die Welt steht Kopf in Christian Torklers Debütroman "Der Platz an der Sonne": Europa versinkt in Kleinstaaterei und Armut, Afrika hingegen lockt mit Wohlstand und dem Versprechen vom besseren Leben. Doch der Versuch, die aktuelle Fluchtproblematik literarisch zu verarbeiten scheitert.

Von Samuel Hamen | 06.12.2018
    Buchcover Christian Torkler: "Ein Platz an der Sonne" und im Hintergrund die Berliner Skyline
    Literarischer Versuch über Flucht als Existenz-Paradigma unserer Zeit: Christian Torklers "Ein Platz an der Sonne" (Buchcover: Klett-Cotta Verlag / Hintergrund: picture-alliance / dpa / Karlheinz Schindler)
    Fast wäre man auf den ersten Seiten gewillt, Christian Torklers "Der Platz an der Sonne" als einen der berüchtigten Berlin-Romane zu lesen, die alle öffentlich verdammen und heimlich lesen: "Die schlimmste Zeit in Berlin ist der Winter. Es ist kalt und der Himmel ist trübe, die Häuser sind grau und falls Schnee liegt, dauert es nicht lange, bis er verdreckt ist vom Kohlenruß. Wenn der Schnee taut, steht das schmierige Wasser in den Schlaglöchern."
    Doch das Berlin Torklers kennt weder Start-Ups noch Gentrifizierung. Ebenso wenig beklagt sich bei ihm ein sogenanntes Berliner Urgestein über den Zuzug von zwar gut gekleideten, aber zugedröhnten jungen Menschen aus aller Welt. Das Gegenteil ist der Fall. Der 1971 geborene Autor entwirft in seinem ersten Roman eine historische Anderswelt. Ein Was-wäre-wenn-Gedanke strukturiert sein Szenario: Der Zweite Weltkrieg endete zwar mit dem Sieg über Deutschland, anlässlich der Berliner Luftbrücke 1948/49 eskaliert der Konflikt zwischen den USA und der Sowjetunion jedoch. Ein weiterer Krieg schließt sich fast nahtlos an, Wirtschaftswunder, Quelle-Katalog und die Gründung der Europäischen Union bleiben aus. Stattdessen gibt es Kleinstaaterei wie im 18. Jahrhundert, dazu Alibi-Wahlen und korrupte Politiker. Die Bevölkerung ist Armut und Gewalt ausgesetzt und flüchtet sich in den Trost alltäglicher religiöser Plattitüden.
    Korrupt und abweisend
    Von diesem Berlin haben wir gerade gehört, gesehen durch die Augen von Josua Brenner, dem Protagonisten von "Der Platz an der Sonne". Im ersten, gut dreihundert Seiten umfassenden Teil des Romans wird diese etwas tumbe, aber gutherzige und ehrliche Figur mit der Biografie eines Gescheiterten ausgestattet. Er hegt politische Hoffnungen, findet eine Partnerin, gründet eine Familie und eröffnet eine Kneipe. Alsdann wird der Versuch eines kleinen geglückten Lebens umgeworfen: Die neuen Politiker sind auch zynisch und machtgeil, die Ämter korrupt und abweisend. Die Familie zerbricht, die Kneipe brennt ab. Das Movens dahinter ist klar: Je dreckiger es meiner Figur geht, umso verzweifelter kann ich sie durch die Welt scheuchen. Denn eben diese Welt hat sich auch über Europa hinaus grundsätzlich verändert:
    "Er gibt mir die Karte. Eine blaue Bucht mit einem weißen Strand in weitem Bogen. Eine Promenade mit Palmen und Palästen. Am anderen Ufer ferne Berge und darüber steht mit Schwung Karibu Matema. Ich dreh die Karte um, diese Handschrift erkenn ich auf den ersten Blick. Lieber Brenner, viele Grüße aus Matema. Ich hab’s geschafft! Es hat eine Weile gedauert, aber jetzt bin ich hier und alles ist nzuri sana. Das heißt, sehr schön und so reden die Leute hier. Ich hab Arbeit und verdien an einem Tag so viel wie in Berlin in einer Woche mindestens. Eine Freundin hab ich auch schon! Also alles bestens. Wenn du mal die Schnauze voll hast von dem ganzen Scheiß, komm runter und wir machen hier was auf. Jederzeit karibu, das heißt Willkommen! Dein alter Kumpel Roller. PS: Gruß an Lampe, der kann auch mitkommen."
    Afrika ist Europa, der Süden der neue Norden geworden. Die Hölle der Armen lauert hier oben, das Paradies der Reichen wartet dort unten. Die wichtige Währung heißt denn auch nicht Euro, sondern Afro, der ersehnte Zielort der Flüchtenden ist nicht mehr Hamburg, sondern Tanganyika. Die Imagination erschöpft sich indes im einmaligen Kniff der Umstülpung. Torkler verlängert die immer schon unterkomplexe binäre Sichtweise – hier Europa, dort Afrika – in seine Fiktion hinein, ohne das emanzipative Potenzial kontrafaktischen Erzählens auszuschöpfen. Alles ist wie gehabt, nur einmal gewendet. Hat die Leserschaft diesen Schuss erst einmal gehört, kann sie nichts mehr überraschen. Schließlich muss sie nur Plus durch Minus ersetzen, um den tragischen Werdegang von Brenner vorherzusehen.
    Bedauerlich ist ein Nebeneffekt dieser unflexiblen Erzählstruktur. Stereotype Darstellungen werden hier unter umgekehrten Vorzeichen weitergeführt: Die Farbigen sind jetzt die reichen Weißen, die nicht mehr weiß sind; die Weißen sind die armen Farbigen, die nicht mehr farbig sind. Letztere sind halbseiden und politisch unmündig, erstere ökonomisch und politisch avanciert. So behält das kontinentale Doppelporträt den faden Beigeschmack, dass auf einer zweiten Ebene typisierte Vorstellungen des afrikanischen beziehungsweise europäischen Kontinents fortgeschrieben werden.
    Das bessere Leben im Blick
    Die Flucht in den Süden ist Gegenstand des zweiten Romanteils. Josua Brenner ist Schleusern ausgeliefert, die ihn finanziell ausnehmen, tagelang einsperren und ihn, gemeinsam mit einem Haufen Männer unterschiedlichster Herkunft, durch die Grenzgebiete scheuchen. Rischek aus Polen, Linus aus Finnland, Wladimir aus Russland - allen ist gemein, dass sie die Strapazen und Erniedrigungen auf sich nehmen, das vermeintlich bessere Leben "dort unten" immerzu im Blick.
    "Am anderen Ufer in den Wald und weiter. Bald ging es wieder bergauf. Nicht steil, aber stetig. Gegen Abend waren wir bei einer Hütte am Waldrand. Unter uns das grüne Tal und über uns die Berge. Mannomann, hab ich gedacht, mir wird schon ganz anders. Ob das eine schlaue Idee war, das alles? Am nächsten Morgen reib ich mir die Augen, setz mich auf und denke, ich seh nicht richtig. Es ist schon hell, aber die anderen schlafen noch oder sitzen rum. Ich guck aus dem Fenster. Der Schnee fällt in dicken Flocken und die Landschaft ist weiß."
    Auf diese Weise geht’s Kilometer um Kilometer, Seite um Seite weiter. Die Und-dann-und-dann-Struktur bildet die gehetzte Wanderung Brenners ab, der sich nicht einzurichten weiß in dieser Welt, für den alles Episode und Zufall bleiben muss. Seine Schilderungen und Gedankengänge sind dabei äußerst simpel gehalten. Aber wo authentische Wiedergabe angestrebt wird, stellt sich recht schnell der Effekt von Einfältigkeit ein. Man wird den Eindruck nicht los, dass Torkler das Gegenteil dessen erreicht, was ihm das vermeintliche Anliegen ist: Statt sein sogenanntes einfaches Personal mit einem passenden Sprechregister auszustatten, dichtet er seiner Figur eine geradezu anmaßend banale Sprach- und Weltsicht an, die dem wachen Geist, der Brenner ja ist, nicht gerecht werden kann.
    In diesem sprachlichen Modus wird nun Brenners Route geschildert, über die Schweiz nach Messina auf Sizilien, später nach Nordafrika. Unterbrochen wird die Handlung von hanebüchenen Verrenkungen, um die Geschichte voranzutreiben. Während eines Gefängnisaufenthalts erpressen Polizisten die Fluchttruppe; plötzlich ist unklar, wie sie ihre Flucht fortsetzen soll. Aber ein schneller Anruf bei Verwandten, eine noch schnellere Überweisung und drei Zeilen später geht’s weiter. An einem sizilianischen Strand, an dem er sich eigentlich ertränken wollte, rettet der Protagonist später ein Mädchen, das von der Strömung mitgerissen wurde. Ihr Vater ist der insulare Gangsterboss und heißt, wie eine Figur in diesem ungelenkigen Buch nun einmal heißen muss: Don Mario. Der Don organisiert Brenner eine Fahrt nach Ägypten, von dort soll er weiter gen Süden reisen. Aber die Ausbeutung kennt kein Ende, Brenner wird versklavt, viele Seiten später verhört und noch viel später abgeschoben. Das Postkarten-Paradies bleibt unauffindbar.
    Eine Befähigung zur Empathie?
    Am Ende steht nicht die Einsicht in Gründe, Hoffnungen und Verfehlungen einer Flucht, sondern eine einzige große Ratlosigkeit: Was wollen diese sechshundert Seiten erbringen, außer die Rollen zu tauschen, ohne das Spiel zu hinterfragen? Legt Torkler einen Roman gegen die Gleichgültigkeit vor, adressiert an die selbstgefälligen Europäer? Möchte "Der Platz an der Sonne" ein Buch zur Befähigung zur Empathie sein? Liegt dem Projekt dann nicht der befremdliche Gedanke zugrunde, dass wir hierfür die Biographie eines weißen Scheiterns benötigen?
    Bis zuletzt bleiben diese Fragen unbeantwortet. Als literarische Reaktion auf die sogenannte Flüchtlingskrise weiß der Roman der gegenwärtigen Gemengelage jedenfalls wenig abzuringen. "Der Platz an der Sonne" zoomt völlig zu Recht mahnend und flehend und verbittert auf die Flucht als Existenz-Paradigma unserer Zeit. Seine artistische Tragik liegt indes darin, für diese Unternehmung in Sachen Formgebung, Figurenzeichnung und Sprachhandwerk völlig unzureichend ausgerüstet zu sein.
    Christian Torkler: "Der Platz an der Sonne", Klett-Cotta, Stuttgart, 592 Seiten, 25 Euro