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Christian Wulff
Abrechnung mit allen - auch mit sich selbst

Vorteilsnahme im Amt wurde Christian Wulff vorgeworfen, als er im Februar 2012 als Bundespräsident zurücktrat. Zwei Jahre später erfolgte der Freispruch. Mit dem Shakespeare-Zitat "Mir ist mehr Unrecht geschehen, als ich je Unrecht getan habe" im Sinn rechnet er in "Ganz oben. Ganz unten" mit geradezu brutaler Offenheit ab.

Von Peter Carstens | 16.06.2014
    Ex-Bundespräsident Christian Wulff bei der Buchpräsentation "Ganz oben Ganz unten"
    Ex-Bundespräsident Christian Wulff bei der Buchpräsentation "Ganz oben Ganz unten". (picture alliance / dpa / Foto: Wolfgang Kumm)
    Die politische Memoiren-Literatur bietet viele Facetten gedruckter Langeweile. Die meisten Alt-Politiker haben wenig Interessantes zu sagen. Bei Christian Wulff hingegen ist es ganz anders. Das Buch des früheren Bundespräsidenten handelt von der ersten bis zur letzten Seite von Lügen, Krieg und Untergang. Wulff schreibt von Versagen und Taktieren, Wut und Ehre. Dieser Tage hat er seine Erinnerungen in Berlin vorgestellt:
    "Also ich kann ab heute freier als je zuvor die Zukunft annehmen und gestalten. Aber ich hab nicht das schlechte Gewissen, dass ich mir irgendwann sage, Du hast Dinge da nicht sagen wollen, nicht schreiben wollen. Und wenn's einer schreiben und sagen darf, bin ich's doch. Denn ich meine: Mir ist mehr Unrecht geschehen, als ich je Unrecht getan habe."
    Abrechnung vor allem mit der Presse
    Mit diesem Zitat aus Shakespeares "König Lear" im Sinn rechnet Wulff in waghalsiger Offenheit ab. Vor allem mit der Presse. Aber auch mit CDU-Feinden und mit der niedersächsischen Staatsanwaltschaft. Mit allen, sogar mit sich selbst. Was der frühere Bundespräsident spannend und detailfreudig erzählt, ist nicht bloß die Geschichte seiner Erfahrungen, Erfolge und Fehler. Die Merkwürdigkeiten um seinen Haus-Kredit, Sponsoren-Veranstaltungen, Einladungen, Ferienreisen sind ihm dabei Banalitäten. Seinen Gegnern sei es um Anderes gegangen, glaubt Wulff. Er schreibt:
    "Vielen Journalisten ging es nicht um Aufklärung dieses oder jenes Sachverhalts, es ging ihnen darum, mich vorzuführen, schwitzen zu sehen, mich lächerlich zu machen. Ich fühlte mich, wie beim Dosenwerfen auf dem Jahrmarkt. Nach dem Motto 'Es bleibt immer etwas hängen', war keine Denunziation abwegig genug. Die Wahl zum Schulsprecher 1976 hätte ich nur gewonnen, weil ich in den Pausen "After Eight" verteilt hätte und auf Norderney sei mir als Ministerpräsident womöglich die Kurtaxe erlassen worden." (Seite 192)
    Dahinter steckte nach Wulffs Deutung vor allem aber die Springer-Presse. Es sei eine Machtprobe gewesen: "Bild" oder der Bundespräsident. Wulff gibt zu, dass er selbst gönnerhaft mit der Boulevard-Presse kooperierte - anfangs. So ließ er sich beispielsweise von einem "Bild"-Fotografen am Tag seiner Wahl exklusiv vom Frühstück bis zur Mitternachts-Party begleiten. Das sei "eine Art Dankeschön" gewesen für bis dahin "faires" Verhalten. Die "Bild"-Zeitung habe das leider als Beginn einer wunderbaren Zusammenarbeit völlig missverstanden. Bald kam es zu Konflikten. Das Unheil nahm seinen Lauf. Wulff stellt fest:
    "Die Schlinge legte sich immer enger um unseren Hals, es gab keinen unbeobachteten privaten Moment für meine Frau, für meine Familie mehr."
    Wulff wehrt sich, spricht schließlich dem BILD-Chef auf die Mailbox. Der Bundespräsident jammert, bettelt, droht. Ein würdeloser Augenblick der Zeitgeschichte. Heute schreibt Wulff dazu:
    "Nicht meine Sätze hatte ich zu bereuen, sondern den unverzeihlichen Fehler, sie auf der Mailbox des Chefredakteurs zu hinterlassen und ihm damit einen Köcher voller Pfeile frei Haus zu liefern. Für ihn fiel Weihnachten in diesem Jahr auf den 12. Dezember." (Seite 186)
    Bald darauf stürzt Wulff. Er glaubt, es sei nicht wegen seiner Fehler gewesen.
    "Ich beschreibe, wie mich der Springer-Verlag verfolgt hat, von Anfang an meiner Amtszeit und nenne dafür eine Reihe von Belegen. Für einen Bundespräsidenten ist es unmöglich, sich zu wehren. Das beschreibe ich auch. Für einen Bundespräsidenten, der zurückgetreten ist, der angeklagt ist, ist es auch unmöglich, sich zu wehren. Aber wenn man dann freigesprochen ist, dann gehört es, finde ich, zur guten Ordnung, dass dann alle Dinge auf den Tisch kommen und sich jeder ein Bild vom Ganzen machen kann. Und da hat die Bild-Zeitung dann auch die Chance selber zu sagen: Wir selber sind zu weit gegangen."
    Aber nicht nur Springer-Blätter sieht Wulff als Beteiligte. Auch "Spiegel", "Frankfurter Allgemeine" und andere bezichtigt er der Mitverschwörung. Tatsächlich musste man sich gar nicht verschwören, um Wulffs Verhalten falsch zu finden und seine Eignung für das Amt zu bezweifeln. Es waren doch vor allem persönliche Verfehlungen, die ihm in den Medien vorgeworfen wurden. Er selbst sieht es anders: Übel genommen worden seien ihm seine Äußerungen zum Islam, die Rede von der "bunten Republik" Deutschland oder Kritisches zur Kirche. Lebendig und überaus interessant schildert Wulff, wie der Chefredakteur der "Bild"-Zeitung ihn persönlich habe abbringen wollen von seinem Satz "Der Islam gehört zu Deutschland". Der Präsident blieb dabei. Und bald darauf, so beschreibt es Wulff, begann die "Treibjagd".
    Schockierender Einblick in Hannoveraner und Berliner Macht-Zonen
    Die Kapitel dazu in seinem Buch heißen "Die Jagd" und "Die letzte Kugel". Was steckte hinter alledem? - Wulff behauptet, ein übles Gerücht habe die Verfolger wild gemacht, eine Lüge über das angebliche Vorleben seiner Frau Bettina. Wulff erzählt, wie er kurz vor seinem Rücktritt davon erfuhr. In den – Zitat - "höheren Etagen" in Frankfurt, Hamburg und Berlin habe man kolportiert,
    "meine Frau Bettina habe im Rotlichtmilieu gearbeitet und vermutlich hätte ich sie dort auch kennengelernt. Ein prominenter Journalist aus diesen Etagen sprach an einem Samstagmittag Ende November 2011 an einer Tankstelle einen Mitarbeiter des Bundestagspräsidenten an. Ob der Bundestagspräsident eigentlich wisse, dass der Bundespräsident mit einer ehemaligen Prostituierten verheiratet und daher von Zuhältern und Rockerkreisen erpressbar sei. Als ich kurz vor meinem Rücktritt von dieser Infamie erfuhr, habe ich zum ersten Mal geweint." (Seite 90)
    Wulffs Buch bietet mit solchen Beschreibungen einen ziemlich schockierenden Einblick in Hannoveraner und Berliner Macht-Zonen, wo man einander böse verachtet. Der Politiker wirkt darin so nahe am Wahnsinn, wie die ihn observierende Presse. Das Gefangensein in der kühlen Stille des Präsidenten-Schlosses Bellevue, die Unfähigkeit, Vorwurf von Verschwörung zu unterscheiden, Schlaflosigkeit und Ohnmacht – dies beschreibt Wulff, einerseits gefesselt in verrenkter Unschuldspose, andererseits mit der brutalen Offenheit eines Mannes, der viel hinter sich hat - ganz oben und dann ganz unten.
    Christian Wulff: Ganz oben. Ganz unten. C.H. Beck Verlag 2014, 259 Seiten, 19,95 Euro. ISBN: 978-3-406-67200-2.