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Christoph Hein: "Trutz"
Das Rätsel der Mnemonik

Dass ein bedeutender Kopf von der Staatsmacht ausgeschaltet wird, weil er sich zu gut erinnert, ist ein wiederkehrender Handlungsstrang bei Christoph Hein. Auch die Hauptfigur in Heins neuem Roman ist ein wahrer Erinnerungsspezialist: Er kann nichts vergessen. Eine tödliche Gefahr.

Von Katrin Hillgruber | 30.04.2017
    "Trutz" von Christoph Hein
    Zufluchtsort Sowjetunion: Die Protagonisten erleben zunächst durchaus Glücksmomente im selbsternannten Vaterland des Weltproletariats. (Suhrkamp / picture alliance/dpa/Foto: Achim Scheidemann)
    Welche unermesslichen Fähigkeiten im positiven wie im negativen Sinne sind dem menschlichen Gehirn gegeben, und wie schnell ist es doch in seiner materiellen Substanz zerstört. Im reichen Prosawerk von Christoph Hein kommt es immer wieder zu kriminellen Übergriffen und Überfällen, zu jähen Gewalttaten. Sie leiten einen Handlungsumschwung ein und traumatisieren dabei nachhaltig die zumeist ruhigen, vernunftbegabten Protagonisten – angefangen mit der Ost-Berliner Krankenhausärztin Claudia, deren Freund von Jugendlichen erschlagen wird. Hein schilderte diesen Vorfall in seiner berühmten Novelle "Der fremde Freund" aus dem Jahr 1982 - die westliche Lizenzausgabe erschien unter dem Titel "Drachenblut". Neben zahlreichen Akademikern, oft Historikern, wird aber auch ein Autohändler wie der Berliner Bernd Willenbrock im gleichnamigen Roman von 2000 durch einen nächtlichen Einbruch aus dem Takt seines Lebens gebracht.
    In seinem deutsch-sowjetischen Jahrhundertpanorama "Trutz" lässt Christoph Hein gleich drei Romanfiguren durch Gewalteinwirkung auf den Kopf ihr Leben verlieren: Zwei werden von Menschen erschlagen, einer durch einen entglittenen Baumstamm in einem sowjetischen Arbeitslager im südlichen Ural. Im Jahr 1951 geschieht dies, als der politisch in Ungnade gefallene Moskauer Mathematiker und Linguistik-Professor Waldemar Gejm und seine Familie gehofft hatten, den Krieg und mit ihm die ärgsten Schrecken des Stalinismus überstanden zu haben.
    Die wahre Gewalttäterin ist die jüngste deutsche Geschichte
    "Gejm lag sechs Meter weiter, die rechte Hand war von dem schweren Holzstamm zerquetscht worden, was er aber nicht mehr gespürt hatte. Der Deportierte Waldemar Gejm, Mnemoniker und ehemaliger Professor der Sprachwissenschaftlichen Fakultät der Moskauer Staatlichen Universität, die mittlerweile nach ihrem Mitbegründer Lomonossow benannt worden war, starb als Häftling und Holzfäller des Besserungslagers Tscheljabinsk, 55 Jahre alt und abgemagert auf 49 Kilo. Als Todesursache hielten die Akten ein Herzversagen fest. Der Leichnam wurde eingeäschert und die Asche in eine Holzschachtel mit der Aufschrift Atlantischer Lachs Kola gefüllt. […] Ihre letzte Ruhestätte fand die Asche von Waldemar Gejm auf dem Friedhof der Deportierten, einem Birkenwäldchen innerhalb des Lagerzauns."
    Gejms Sohn Rem charakterisiert seinen Vater folgendermaßen:
    "Das Gehirn war sein Leben, und den Rest des Lebens nahm er nicht wahr."
    In der Tradition des antiken Dichters Simonides von Keos entdeckt der fiktive Wissenschaftler Gejm die Mnemonik wieder und entwickelt sie zur Wissenschaft – bis er als Holzfäller im Gulag verunglückt. Ein bedeutender Kopf wird von der Staatsmacht ausgeschaltet oder in eine marginale Stellung in der Provinz gezwungen, weil er sich zu gut erinnert: Das ist ein wiederkehrender Handlungsstrang bei Christoph Hein. Wie bereits in seinem letzten großen Zeitroman "Glückskind mit Vater", der im vergangenen Jahr erschien, ist die wahre Gewalttäterin jedoch die jüngste deutsche Geschichte in Gestalt ihrer beiden Diktaturen. Sie erst entfesselt auf der Metaebene die menschliche Niedertracht. Jetzt aber weitet er seinen durch akribische, jahrelange Recherchen geschärften Blick auf den Stalinismus als die zweite verheerende Gewaltherrschaft der 1930er-Jahre aus.
    Wieder lässt Christoph Hein, der als Sohn eines Pfarrers in der DDR nicht studieren durfte, einen erfundenen Sohn die Lebensgeschichte von dessen Vater darstellen: Es handelt sich um den 1934 in Moskau geborenen Maykl Trutz. Der Sohn deutscher Emigranten wird ab seinem zweiten Lebensjahr durch eben jenen Waldemar Gejm zum Gedächtniskünstler trainiert. Dabei schließt er eine lebenslange Freundschaft mit Rem, dem gleichaltrigen Sohn des Professors, benannt nach "Revolution, Einigkeit und Marxismus" – kurz REM. Das übertriebene Ernstnehmen der marxistischen Theorien, gerade unter den ausländischen, handwerklich unbegabten Intellektuellenbrigaden beim Moskauer U-Bahnbau, beschert dem Buch seltene Momente grotesker Komik.
    Der Roman "Trutz" schlägt einen weiten narrativen Bogen. Er reicht vom Berlin der 1920er-Jahre über Moskau bis in sibirische Straflager und führt zurück über die DDR bis ins heutige Berlin. Als ein Mann, der nicht vergessen kann, fällt der eigensinnige Maykl Trutz dem Erzähler der Berliner Rahmenhandlung auf. Er begegnet ihm bei einer Diskussionsveranstaltung zum Hitler-Stalin-Pakt. Der pensionierte Archivar Trutz brilliert mit seinem Faktenwissen und weist einer Referentin vom Bundesarchiv sachliche Fehler nach. Der recht blass bleibende Erzähler spricht den wunderlichen Gedächtniskünstler daraufhin an der Garderobe an.
    Opfergang der Idealisten
    "Und Sie, sind Sie einer dieser Mnemoniker?" – "Nein, leider nicht. In Deutschland ist diese Wissenschaft weniger bekannt. Aber ich wurde von einem Mnemoniker trainiert, von Kindesbeinen an. Vermutlich war er seinerzeit der weltweit beste und berühmteste dieser Zunft. Gejm hieß er. […] Die Mnemonik zieht eine Blutspur hinter sich her, bis heute. Bereits zu Beginn war das so, diese Wissenschaft begann mit einem Massaker. Ein gutes Gedächtnis war in der Geschichte der Menschheit stets eine tödliche Gefahr. Das Vergessen wird belohnt, nicht das Gedächtnis. Wenn Sie schnell und rasch vergessen, werden Sie glücklich auf Erden und können in Ruhe alt werden. Doch wenn Sie sich an alles erinnern, bekommen Sie Schwierigkeiten, und die können tödlich sein. So geht es bis in unsere Zeit, bis zu mir. Heute, genau vor einem Jahr, gab es das vorerst letzte Verbrechen. Ein Mord, ein grauenvoller Mord, der einem Gedächtnis galt."
    Der Erzähler recherchiert über den bis heute ungeklärten GSG-9-Einsatz in Bad Kleinen 1993, was jedoch nur angedeutet wird. Offenbar sensibilisiert für die Grauzonen staatlicher Gewalt, beginnt er sich für die Familiengeschichte des Maykl Trutz zu interessieren und schreibt diese auf.
    "Kommen Sie zu mir, besuchen Sie mich, dann will ich Ihnen gern etwas darüber erzählen. Aber in einer halben Stunde ist das nicht abgetan. Ich muss dann von dem großen Gejm berichten, von Waldemar Gejm und seinem Sohn Rem. Von meinem Vater Rainer Trutz, von meiner Mutter, von Lilija und noch von einigen anderen, wenn Sie etwas von der Mnemonik verstehen wollen."

    Die Blutspur der Mnemonik und der Mahlstrom der Geschichte verleihen "Trutz" eine deterministische Wucht, die phasenweise an Peter Weiss‘ "Die Ästhetik des Widerstands" erinnert: hier wie dort ein blutiger Opfergang der Idealisten, die vom nationalsozialistischen Regen in die Traufe der stalinistischen Säuberungen geraten. Christoph Hein statuiert dieses Exempel an dem vorpommerschen Bauernsohn Rainer Trutz, Maykls Vater. Dem aufgeweckten, aber mittellosen 19-Jährigen sind die Landarbeit und die enge Dorfatmosphäre verhasst, und so zieht es ihn in den Inflationsjahren nach Berlin. Dort schlägt er sich als Hungerlöhner durch. Doch wie es sich für einen echten Hein’schen Protagonisten gehört, katapultiert ihn ein gewaltsames Ereignis in ein aufregendes neues Leben.
    "An seinem zehnten Tag in Berlin wurde er auf dem Bürgersteig in der Mohrenstraße von einem Auto angefahren, das aus einer Hoteleinfahrt schoss. Der rechte Kotflügel einer großen Limousine riss ihn zu Boden, er schlug mit einer Schulter hart auf dem Kopfsteinpflaster auf, sein Kopf prallte auf den Bürgersteig und er blieb für Sekunden benommen und nahezu ohnmächtig liegen. Die Fahrerin des Wagens, eine Frau Mitte 30 mit einer modischen Bubikopffrisur, sprang erschrocken aus dem Auto, das nun den gesamten Gehweg blockierte, und half ihm aufzustehen. Aufgeregt fragte sie den jungen Mann mehrmals, ob ihm schwindlig sei oder übel, woraufhin er zu ihrer Verwunderung nur über die zerrissene Jacke klagte, die Hautabschürfungen an seiner Schulter und die stark blutende Kopfwunde aber nicht zu bemerken schien."
    Im Feuilletonisten-Bassin
    Die lettische Bubikopfträgerin Lilija Simonaitis arbeitet im Filmressort der Handelsabteilung der sowjetischen Botschaft. Daher fürchtet sie eine Anzeige und mögliche Ausweisung. Aus der Zufallsbekanntschaft entspinnt sich eine tiefe Freundschaft. Lilija führt Rainer in die Berliner Künstlerkreise ein und ebnet ihm dadurch den Weg in den Journalismus, seinen Wunschberuf.
    "Rainer Trutz sagte noch Jahre später, in seinem Leben sei ihm nie etwas Besseres zugestoßen als der Zusammenstoß mit Lilijas Auto. […] Sie trafen sich danach häufiger, er begleitete sie bei einigen ihrer vielen Theaterbesuche und sie nahm ihn ins Romanische Café mit, einen beliebten Treffpunkt von Künstlern an der Gedächtniskirche. Dank ihrer Protektion durfte er sogar das Schwimmerbassin betreten, wie der zweite Raum des Cafés genannt wurde, zu dem nur Schauspieler und Regisseure, Maler und Schriftsteller sowie berühmte Journalisten und gefürchtete Kritiker Zutritt hatten, die früheren Stammgäste vom Café Größenwahn, während alle gewöhnlichen Gäste in dem Bassin für Nichtschwimmer zu bleiben hatten, dem großen Saal des Romanischen Cafés."
    In diesen Passagen erlangt der Roman eine ironisch-sachliche Heiterkeit, die an Erich Kästners Aufsteigerroman "Fabian. Die Geschichte eines Moralisten" erinnert. Wie Kästner es 1931 tat, entwirft auch der verkappte Humorist Christoph Hein im ersten Teil von "Trutz" ein Gesellschaftsbild des vor Genusssucht taumelnden Groß-Berlins am Vorabend der nationalsozialistischen Machtergreifung. Mit leichter Hand verfasst der literarische Newcomer Rainer Trutz zwei Romane: Der frivole Erstling trägt den – vom rabiaten Verleger aufoktroyierten - Titel "Außer ordentlich und tadelig – Ferdinand. Ein Großstadtroman" – offensichtlich eine Hommage an Kästners "Fabian". Nur als Rainer Trutz für die von ihm bewunderte "Weltbühne" als ersten Auftrag einen emphatischen Reisebericht linker Schriftsteller in die Sowjetunion rezensieren soll, fehlen ihm die Worte. Seine Mentorin Lilija hält sich bei allen ideologischen Fragen auffallend zurück und will ihm nichts raten. So entscheidet sich Rainer zu 80 Zeilen sanft ironischer Distanz und denkt über den Artikel nicht weiter nach – eine Zeitbombe.
    Der unpolitische Rainer und dessen Freundin und spätere Frau Gudrun, eine Gewerkschaftsaktivistin und Anhängerin des sozialistischen Religionstheoretikers Paul Tillich, werden vom erstarkenden Nationalsozialismus in ein Labyrinth aus Angst getrieben. Das schildert Christoph Hein mit berückender dramaturgischer Raffinesse. Durch Trutz‘ zweites Buch, einen Zeitroman namens "Kleine Stadt, Sonntagmorgen", werden die neuen braunen Machthaber auf den Jungautor aufmerksam und brandmarken ihn als sogenannten Feind der Bewegung. Die Charlottenburger Wohnung des Paares wird aufgebrochen, Rainers Schreibmaschine und Manuskripte zerstört. Von der Polizei ist keine Hilfe zu erwarten, da diese mit der SA sympathisiert.
    Rainer und Gudrun tauchen unter und planen fieberhaft ihre Emigration. Jahreszahlen werden sparsamst dosiert, die politisch Verantwortlichen namentlich nicht genannt. Dadurch gelingt es dem leidenschaftlich genauen Chronisten Hein, die Historie ganz im Erleben seiner Protagonisten zu spiegeln und verheerende Ereignisse wie die Bücherverbrennung vom Mai 1933 oder den Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939 in persönliche Notlagen zu transformieren. Denn als Zufluchtsort bietet sich schließlich dank Lilijas Hilfe nur die Sowjetunion an, ein – wie es heißt - "ihnen unbekanntes und beängstigendes Land". Ganz selten gestattet sich der Autor in seinem überaus ernsten Text poetische Anflüge:
    "Rainer und Gudrun starrten aus dem Wagenfenster, sie wollten den Moment erleben, an dem der Zug die Grenze überquerte, aber draußen war nichts zu sehen, kein Licht, kein Stern, keine Bewegung, kein Zeichen."
    Nach Moskau!
    Der ahnungsvolle Schrecken des jungen Paares steigert sich im zweiten Teil des Romans zum grauenvollen Untergangsszenario, an dem die – wie es heißt - "blassroten Papierstreifen des NKWD" kleben, des sowjetischen Geheimdienstes. Dabei erleben Gudrun und Rainer zunächst durchaus Glücksmomente im selbsternannten Vaterland des Weltproletariats.
    "Auch Gudrun und Rainer waren mit dem kleinen, anderthalbjährigen Maykl zur Metro gepilgert, an der Station Kulturpark in die Tiefe gefahren und berührten wie die anderen Besucher fast ehrfürchtig den polierten Marmor und bestaunten die riesigen unterirdischen Hallen."
    Ihr Schutzengel Lilija leitet inzwischen das staatliche Komitee Glawrepertkom. Diese Behörde soll Kunst und Kultur in der ganzen Sowjetunion fördern, entwickelt sich aber immer stärker zur Zensurbehörde. Lilija verkehrt mit Größen wie dem von Lenin als "Liebling der Partei" geschätzten Wirtschaftstheoretiker Nikolai Bucharin. Um ihre deutschen Schützlinge indes sorgt sie sich: Zwar fühlt sich Gudrun als Arbeiterin in der Schokoladenfabrik Roter Oktober, die über einen Kinderhort verfügt, von ihren russischen Kolleginnen gut aufgenommen. Rainer hingegen wurde einer glühend kommunistischen Exilanten-Brigade zugeteilt, die den Spitznamen "Kloputzer" trägt. Sie besteht aus Laien, die sich beim Bau der prestigeträchtigen Moskauer U-Bahn verausgaben, denn keiner der Männer ist gelernter Bauarbeiter.
    "Rainer gehörte keiner Partei an, war als Journalist wie als Autor in der Sowjetunion unbekannt, keine Organisation führte ihn in den Listen der zu unterstützenden Ausländer […]. Rainer musste Lilija schließlich trösten und versicherte ihr immer wieder, die Arbeit sei zwar kein Traumberuf, doch er komme zurecht, verdiene ausreichend und könne überdies wie alle in seiner Brigade als Erbauer der Metro in der Werkskantine und den betrieblichen Läden etwas mehr und besser einkaufen als die meisten Moskauer. Irgendwann werde er wieder als Journalist arbeiten oder an seinem dritten Roman schreiben, daran möge Lilija nicht zweifeln."
    Ihre knappe Freizeit verbringen die Neu-Moskauer beim Sprachkurs oder zusammen mit Lilija im Kreis des Linguistik-Professors Waldemar Gejm. Er trainiert die Erwachsenen in der Gedächtniskunst, der Mnemonik, sein wahres Interesse aber gilt den zweijährigen Knaben Rem und Maykl. Die Freude am spielerischen Lernen der beiden Jungen hellt das Buch zeitweise auf, es handelt sich allerdings nur um retardierende Glücksmomente. Denn die Phase der großen Säuberungen und der Moskauer Schauprozesse bricht an. Der U-Bahn-Brigadier Rainer Trutz wird wegen des "Weltbühne"-Artikels denunziert und in die Lubjanka gebracht, das gelbe Hauptgebäude des sowjetischen Geheimdienstes.
    "Der Richter erteilte dem Ankläger das Wort, dieser öffnete eine Handakte und las die gegen Rainer Trutz erhobene Anklage wegen Verleumdung der Sowjetunion und ihres genialen Führers, Josef Wissarionowitsch Stalin, vor. Als Beweis seiner Schuld hielt er ein Blatt Papier hoch, einen zweiseitigen Artikel aus der Weltbühne, in dem der Angeklagte für die bourgeoise Leserschaft dieser deutschen Hetzzeitschrift in höhnischer und bösartigster Weise die Aufbauerfolge der Sowjetunion zu einer Karikatur verzerrt und sich nicht gescheut habe, den weltweit anerkannten und gerühmten Staatslenker Stalin zu diffamieren. […] Achtzig Zeilen Druckerschwärze, achteinhalb Jahre alt, würden nun darüber entscheiden, ob ihm der Emigrantenstatus abgesprochen, er aus dem Land gewiesen oder gar verhaftet würde."
    Es kommt noch schlimmer: Rainer Trutz wird zu fünf Jahren Arbeitslager im Gulag von Workuta in Sibirien verurteilt. Bei der Ankunft wird er von einem kriminellen Aufseher erschlagen, weil er für diesen keinen Wodka dabei hat. Nach diesem brutalen Auftakt folgt in aller Lakonik ein Schicksalsschlag auf den nächsten: Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 ergeht es Gudrun und Maykl Trutz wie Millionen Deutschstämmigen im Land: Sie gelten auf einmal als "Hitleristen" und werden in den Ural deportiert.
    "In Korkino wurden sie in ihre Behausungen eingewiesen, Gudrun kam mit ihrem Sohn in ein Zimmer mit vier Doppelstockbetten, zwei weitere Frauen mit ihren fünf Kindern, die ursprünglich aus dem ostpreußischen Parnehnen stammte, schickte der Vertreter des Sowjets gleichfalls in das Zimmer, für das einjährige Kind einer Wolgadeutschen wurde eine zusätzliche Matratze auf den Fußboden gelegt. Die Männer hatten Zwangsarbeit im Tagebau von Korkino zu leisten, die Frauen wurden der Kolchose zugeteilt, in der neben der Landwirtschaft auch Fischzucht betrieben wurde. Gudrun Trutz sollte bis zu ihrem Tod in diesem Zimmer wohnen."
    Glücklich ist, wer vergisst?
    Die ebenso kreative wie tapfere Lilija, eine großartige Frauengestalt, und Familie Gejm sind in "Trutz" die Opfer auf russischer Seite. Nach dem Krieg kommt die Vollwaise Maykl in die DDR und lässt sich zum Archivar ausbilden.
    "Als er das chinesische Sprichwort zitierte, die schlechteste Tinte sei besser als das beste Gedächtnis, lachte Maykl so laut, dass der Dozent ihn fragte, was daran so lächerlich sei. Maykl erwiderte, Tinte würde vergilben und verschwinden, Papiere würden verlegt, gerieten in Vergessenheit, könnten abhandenkommen, in einem gut trainierten Gedächtnis sei dagegen alles für alle Ewigkeit fixiert, festgehalten bis zum Tod."
    Durch die politische Verfolgung seiner Eltern genießt er keineswegs Privilegien. Vielmehr eckt er an, als er mit seinem unbestechlichen Denkorgan die NS-Vergangenheit eines hohen SED-Funktionärs aufdeckt. Maykl Trutz wird degradiert und verdämmert in der Provinz – wie so viele unbequeme "Intelligenzler" bei Hein, der seinen Lesern bürokratische Details nicht erspart. Den vom grausamen Schicksal ihrer Väter geprägten Söhnen Rem Gejm und Maykl Trutz ist zwar ein spätes Wiedersehen vergönnt, doch werden sie durch eine finale Gewalttat endgültig getrennt.
    Radikal, dabei in leisem Ton schildere Christoph Hein die Zurichtungen des Subjekts unter den Bedingungen seines Landes, damals noch die DDR, urteilte einmal der Literaturwissenschaftler Wolfgang Emmerich. Dieses Vermögen stellt Hein in "Trutz" wiederum souverän unter Beweis, indem er Mnemosyne, die Muse der Erinnerung, in heikler Mission vom faschistischen Berlin ins stalinistische Moskau entsendet. Damit variiert und fokussiert er ein zentrales Thema seines Schreibens und der Literatur schlechthin: das Gedächtnis. Bereits in Christoph Heins eindringlichem Roman "Horns Ende" aus dem Jahr 1985 resümierte die Titelgestalt, Direktor eines Provinzmuseums im fiktiven Bad Guldenberg:
    "Welch ein entsetzlicher Gedanke, ohne Gedächtnis leben zu wollen. Wir würden ohne Erfahrungen leben müssen, ohne Wissen und ohne Werte. Löschen Sie das Gedächtnis eines Menschen, und Sie löschen die Menschheit."
    Christoph Hein: "Trutz"
    Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 477 Seiten, 25 Euro