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Chronist der Großstadt

Edgar Degas fand die Motive für seine Werke im Alltag der Menschen in der Großstadt. In Momentaufnahmen, die wie durch das Kameraauge eines Fotografen beobachtet wirken, hielt er Tänzerinnen fest, die Gestrandeten von Paris und die feine Gesellschaft der Stadt. Heute vor 175 Jahren wurde Edgar Degas geboren

Von Björn Stüben | 19.07.2009
    Sie fühlen sich offenbar unbeobachtet, ihre Posen sind entspannt. In Gedanken versunken erholen sich junge Ballerinen während einer Unterrichtsstunde. Nur eine der Tänzerinnen balanciert auf der Spitze und der prüfende Blick des Lehrers folgt ihr dabei. Es ist der französische Maler Edgar Degas, der diese und ähnliche Szenen immer wieder auf seinen Bildern festhielt. So intensiv, wie sich Claude Monet den Seerosen widmete, so gerne warf sein Zeitgenosse Degas ungenierte Blicke hinter die Kulissen des Pariser Opernhauses. Der Dichter und Kunstkritiker Guillaume Apollinaire bescheinigt seinen Werken anlässlich einer Auktion im Juli 1918:

    "Viele dieser Gemälde und wundervollen Pastelle voller Leben und Licht werden eines Tages ihren Weg in unsere Museen finden, um Zeugnis für die Tiefe der unnachahmlichen französischen Grazie abzulegen, einer Grazie, die so duftig ist, dass der farbige Staub der Pastelle von Degas sie am besten für spätere Zeiten eingefangen hat."

    Edgar Degas wurde am 19. Juli 1834 in Paris geboren. Nach einem abgebrochenen Jurastudium an der Sorbonne besuchte er ab 1855 die Pariser Ecole des Beaux-Arts, an der damals Jean-Auguste Dominique Ingres lehrte. Im Louvre kopierte der Schüler fleißig die alten Meister. Anschließend zog es ihn nach Florenz, Neapel und vor allem nach Rom, wo er sich mit den Meistern der Renaissance auseinandersetzte. Doch immer wieder kehrte Degas nach Paris zurück. Durch Edouard Manet hatte er einen Kreis junger Maler kennengelernt, mit denen er 1874 erstmals und dann immer wieder gemeinsam ausstellte. Sie alle propagierten eine unkonventionelle Malweise. Kritiker sahen in ihnen "Geisteskranke" oder "Kunstkaspern", die offenbar auf ihren Leinwänden lediglich "Impressionen" der Natur abbilden wollten. Degas wurde zu einem der führenden Köpfe der Gruppe der Impressionisten. Doch die Natur interessierte ihn wenig. Max Liebermann, der 1899 eine erste Abhandlung über seinen französischen Kollegen verfasste:

    "Nach akademischen Begriffen kann er weder zeichnen noch malen. Statt tiefer philosophischer Ideen bringt er das Leben der Tänzerinnen, der Putzmacherinnen, der Jockeys auf die Leinwand - kurz das Allertrivialste.

    Degas wird und kann niemals populär werden. Auch scheint er absichtlich den Beifall der profanen Menge zu vermeiden. Er arbeitet nur für wenige Feinschmecker, den trivialen Geschmack des großen Haufens hassend. Ein stolzer Einsamer."

    1862 entdeckte Degas japanische Holzschnitte, auf denen ihn vor allem die für ihn neuartige Komposition, weniger die Zeichnung interessierte. Degas inspirierten sie zu Szenen in Bordellen, Bars oder auf den Pferderennbahnen der französischen Hauptstadt. Seine Bilder wirkten wie Momentaufnahmen, den Schnappschüssen der Fotografen nicht unähnlich. Aber dennoch bekannte er:

    "Es hat nie eine weniger spontane Kunst gegeben als die meine. Was ich mache, ist das Resultat des Nachdenkens und des Studiums der großen Meister. Von Inspiration, Spontaneität, Temperament weiß ich nichts."

    Inspiriert von den Serienfotografien des Engländers Edward Muybridge, die Bewegungsabläufe von Mensch und Tier dokumentierten, begann Degas seit 1881 Wachsmodelle junger Tänzerinnen in unterschiedlichsten Posen zu formen. Der Realismus dieser Skulpturen provozierte beim Publikum jedoch einen Skandal.

    "Nur zu meiner eigenen Freude habe ich in Wachs Tiere und Menschen modelliert, nicht, um mich vom Malen und Zeichnen abzuwenden, sondern um meinen Gemälden und Zeichnungen mehr Ausdruck, mehr Inbrunst, mehr Leben zu geben. Es sind Übungen, die mich in Schwung bringen sollen, Vorlagen, weiter nichts."

    Seit 1890 plagte ihn ein Augenleiden, das fast zur völligen Erblindung führte. Degas, der seine Werke in die Tradition der alten Meister eingereiht sehen wollte, hatte sich mit seinen malerischen Momentaufnahmen aus dem Lebensalltag gleichzeitig einer Modernität in der Kunst verschrieben, wie sie damals von Charles Baudelaire propagiert wurde:

    "Die Modernität ist das Vorübergehende, das Entschwindende, das Zufällige, ist die Hälfte der Kunst, deren andere Hälfte das Ewige und Unabänderliche ist."

    Edgar Degas starb im September 1917. Zur Geschichte der modernen Malerei hat er jedoch weitaus mehr beigetragen als nur seine berühmten Hommagen an die Ballerinen der Pariser Oper.