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Chronist des deutschen Bürgertums

Walter Kempowski hat sich Zeit seines Lebens für die Vergangenheit interessiert. Im Jahr 2006 - schon schwer erkrankt - arbeitete er noch an seinen Tagebücher, wie besessen von dem Gedanken, das Vergangene zu konservieren. Heute starb der deutsche Chronist.

Von Uwe Pralle | 05.10.2007
    "Ich hab mein ganzes Leben lang nichts weiter gemacht, als mich mit der Vergangenheit zu beschäftigen, mit dieser Frage nach den drei Blutstropfen im Schnee sozusagen. Wo kommen sie her, warum. Das ist mein Lebenszweck."

    Vom Vergangenen und seinen unheimlichen Spuren in den Gedächtnislandschaften niemals losgekommen zu sein, und das um so weniger, als seine Heimat ihm räumlich jahrzehntelang verschlossen war - diese Erfahrung hat er mit Schriftstellern ähnlichen Alters wie Günter Grass und Uwe Johnson geteilt. Doch bei Walter Kempowski, dem jüngsten Sohn einer Rostocker Reeder-Familie, 1929 in der Hansestadt an der Ostsee geboren, kam zu den fatalen Folgen des NS-Regimes, der Zerstörung Rostocks durch Bomben, dem Tod des Vaters in den letzten Kriegstagen, dem Einmarsch der Roten Armee, noch ein weiterer Einschnitt hinzu, der ihn sich früh aufs Vergangene zu fokussieren zwang.

    "Ich brauchte nichts zu eruieren, ich brauchte nicht nachzulesen, bei mir war alles im Kopf gespeichert, und das hing mit meiner langen Haftzeit zusammen, ich war ja mit achtzehn Jahren verhaftet worden und die Nazi-Zeit war sozusagen noch frisch in meiner Erinnerung und die ganze Zeit über kam nichts Andersartiges hinzu. Die andern Menschen meiner Generation haben in dieser Zeit ihren Beruf gelernt, studiert und so weiter, ich habe immer nur gesessen und die Erinnerungen wach gehalten. Und deshalb, als ich herauskam und mich mit dem Buch "Tadellöser & Wolff" zu beschäftigen begann, da war alles noch ganz frisch, nicht, ich wusste alles ganz genau. Außerdem hatte ich meinen Bruder als zweites Gedächtnis, ab und zu hab ich ihn angerufen, hab gesagt, wie war das noch, wie war das noch."
    Die bürgerliche Welt seiner Kinder- und Jugendzeit, durch das große Inferno der NS-Zeit gleichzeitig ramponiert und diskreditiert, war in Kempowskis Gedächtnis so ultragenau eingebrannt wie eine von Blitzen grell erleuchtete Kulisse, bevor sie im Gewitter unterging. Sicherlich hat es für Kempowski die Unheimlichkeit dieses sich innerhalb weniger Jahre vollziehenden Untergangs noch verstärkt, dass die SA- und Hitlerjugend-Wirklichkeit draußen - so weit es ging - aus seiner bürgerlichen Familien-Innenwelt ausgesperrt blieb und ihm geradezu ihre Gegenwelt schien:

    "Meine Eltern waren freundlich zu uns, nette Menschen, konservativ der Vater, kaisertreu, ne, aber kein Nazi, und wir haben gegenseitig uns respektiert, und es wurde immer viel gelacht bei uns zuhause. Wir wohnten in der Augustenstrasse 90, war aber ganz schön."
    Es sollte später zu Kempowskis Obsession werden, auf dem Papier wieder aufzubauen, was faktisch zerstört war, und diese Obsession hat sich nicht nur des Papiers bedient, auf dem später die Romane und sogenannten Befragungsbücher seiner "Deutschen Chronik" gedruckt waren.

    "Rostock war immer meine Heimat. Ich hab mir sogar ein Modell aus Papier gebaut, die wichtigsten Häuser und Gebäude, und da habe ich oft davor gesessen mit der Taschenlampe, sozusagen die Schatten werfen lassen. Und auch eine große Fotosammlung, Rostock vorne, hinten, oben, unten."
    Bevor Ende der 60er Jahre, mitten in der turbulenten 68er-Zeit, deren Folgen in Kempowski bald einen bissigen Antipoden finden sollten, seine literarischen Ambitionen erstmals auch öffentlich sichtbar wurden, musste er allerdings die Etappe bürgerlichen Lebens nachholen, die ihm die achtjährige Haft im "gelben Elend" von Bautzen geraubt hatte - auch wenn er darin später zuweilen seine eigentliche "Universität des Lebens" sah.

    "War für mich sehr wichtig, klar. Da hab ich erst mal leben gelernt. War ja ein Taugenichts, bevor ich da hinkam, war ich achtzehn, viel Alkohol zu mir genommen und geraucht, und was nicht alles, geschwänzt in der Schule, und da begann der Ernst des Lebens, da wurde nicht gefackelt."
    Nachdem er 1956, ebenso wie sein älterer Bruder Robert, vorzeitig aus der Haft entlassen worden war, die wegen Spionage eigentlich auf fünfundzwanzig Jahre verhängt war, ging er in den Westen, wo er in Göttingen das Abitur nachholte und studierte. So konnte er sich endlich anschicken, seine seit Kindestagen gehegten drei Berufswünsche zu verwirklichen: Schulmeister, Archivar und Schriftsteller.

    "Nartum und Rostock: das sind für mich der Nord- und der Südpol."
    Er lebte bereits einige Jahre als Dorfschullehrer in Nartum zwischen Bremen und Hamburg, als 1969 sein erster Roman "Im Block" erschien. Dieses Protokoll der Bautzener Haftzeit war schon in seiner charakteristischen Collage- und Textblocktechnik geschrieben, an der er viele Jahre im Stillen gefeilt hatte. Allerdings ließ "Im Block" noch nicht den Erfolg ahnen, der sich wenige Jahre später einstellen sollte.

    "Hab ich dreizehn Jahre dran gearbeitet und 900 Stück verkauft. Das ist ein Rekord, nicht? Von dem Geld hab ich mir 'nen Wintermantel gekauft und meine Frau eine Handtasche gekriegt. Ja, das war ein schlechter Start, aber dann kam der "Tadellöser & Wolff", und ich glaub, ich hab eine ganze Million von den Büchern verkauft, stellen Sie sich das mal vor, im Lauf der Jahre, nicht."

    Dieser Erfolg von "Tadellöser & Wolff" hatte allerdings weit zurückreichende Wurzeln.

    "Ich habe die ersten Aufzeichnungen über das Buch gemacht vierzehn Tage nach meiner Entlassung. Jetzt gerade bearbeite ich die Tagebücher dieser Zeit und stelle mit Erstaunen fest, dass ich einen so langen Vorlauf hatte. Stellen Sie sich mal vor: 1971 ist das Buch erschienen, also von 1956 bis 1971 habe ich praktisch gearbeitet an dem Buch. Soll man nicht unterschätzen. Ich bin ein Genauigkeitsfanatiker, und da musste eben alles stimmen, ganz genau. Dass Heiligabend 1940 auf nen Sonntag fiel zum Beispiel, das muss stimmen, ne."

    In der langen Reihe seiner Werke ist "Tadellöser & Wolff" bis heute so etwas wie das Wahrzeichen Kempowskis geblieben. Der bemerkenswerte Erfolg des Romans ist natürlich weder allein durch die akribische Detailtreue zu erklären noch etwa dadurch, dass dieser Roman über den Rostocker Familienalltag in den sechs Kriegsjahren bis 1945 mit seinen lokal- und zeithistorischen Intarsien, aber auch der schrulligen Sprache der Kempowskis zur richtigen Zeit die passende Projektionsfläche fürs bürgerliche Vergangenheitsverständnis seit den 70er Jahren bot.

    Kempowskis erzählerische Strategie ist es immer gewesen, das Typische der bürgerlichen Welt herauszupräparieren, die in den neun Bänden seiner "Deutschen Chronik" anhand der Familiengeschichte der Kempowskis zwischen 1885 und 1960 Revue passiert. Und zwar ist dieses Typische für ihn erzählerisch immer so elementar gewesen, weil es darauf zielte, die Erfahrungen des Publikums mit ins Spiel kommen zu lassen.

    "Und doch gibt es in diesem Film so viele angedeutete Stellen, dass der Leser immer die Möglichkeit hat, sich sein Teil hinzuzudenken. Das aktiviert ihn, und ich glaube, das ist das Geheimnis auch, warum das Buch zum zweiten, dritten, vierten Mal gelesen wird und der Film auch immer sehnlichst erwartet wird. Die Leute sind nicht nur beteiligt, sie geben auch immer ihre eigene Erinnerung dazu. Und sogar die Jugend, die das gar nicht erlebt hat. Mir ist es passiert in Amerika, dass dort ein Amerikaner behauptete, genauso wäre es bei ihnen zu Hause auch gewesen. Ich sagte: Entschuldigen Sie mal, das kann doch gar nicht stimmen, Sie sind Amerikaner, sie haben den Krieg doch gar nicht erlebt, und so weiter. Nee nee, im Prinzip war es ganz genauso. Ist das nicht merkwürdig? Also ich scheine etwas Allgemeingültiges getroffen zu haben."
    Kempowskis literarische Arbeit bis zum Abschluss der "Deutschen Chronik" im Jahr 1984 mit dem Roman "Herzlich willkommen" beruhte auf seinem Archiv, das im Laufe der Jahre zur riesigen Lagerstätte von Dokumenten und Erinnerungen anwuchs.

    "Dies Archiv hat verschiedene Aufgaben. Einmal die Dokumentierung meiner Recherchen. Es sind also Bücher dort enthalten, die ich unbedingt brauche, nicht, meinetwegen die ganze Rostock-Literatur, das ist ein ganzer Haufen von Büchern, die ich ständig gebraucht habe. Das ist nicht aus einer Sammelleidenschaft entstanden. Ich bin überhaupt kein Sammler. Ich hab zwar Briefmarken, aber ich sammle sie nicht, und ich hab zwar Zinnfiguren, aber ich sammle sie auch nicht. Das ist einfach nur soweit angeschafft worden, wie ich es brauchte, um meine Bilder, die in mir sind, hervorzulocken. Das andere sind die fremden Fotos, die ich auf Flohmärkten kaufe oder mir schicken lasse durch die Anzeige. Das hat einfach nur den Grund, dass ich bei Andern suche, wie es bei denen gewesen ist, um die Gültigkeit meiner Romane mir selbst zu dokumentieren, zu meiner eigenen Beruhigung. Das dritte ist das biographische Archiv, das darin besteht, dass ich viele unveröffentlichte Autobiographien sammle in diesem Archiv, um sie der Forschung zugänglich zu machen. Das hat mit meinem eigenen Werk nichts zu tun."
    So jedenfalls schien es Kempowski noch, bevor er 1987 mit der Arbeit am "Echolot" begann, das neben den Romanen schließlich in den 90er Jahren zur massiven zweiten Säule seines Werkes wurde.

    "Ich hab in der "Chronik", in diesen neun Bänden, damit schon angefangen. Zur "Chronik" gehören zu den sechs Romanen ja drei Bücher, in denen ich auch dokumentarisch gearbeitet habe. Man muss sich das ungefähr so vorstellen, dass die "Chronik" wie so eine groteske Burleske ist. Eine Art großes, lebhaftes Theaterstück. Und darunter steht das "Echolot" als ein strenger, ostinatohafter Akkord, ein breites Klangband sozusagen. Das Eine ist ohne das Andere nicht zu denken. Ich hätte es nie verantworten können, dass ich die "Chronik" als eine Geschichte der deutschen Bürgerlichkeit aus der eigenen subjektiven Sicht so hätte dastehen lassen können."
    Im Schatten des "Echolot" ist noch ein letzter und persönlichster Teil von Kempowskis Werk entstanden, der sich womöglich als der literarisch beständigste erweisen wird.

    "Ich sitze hier in Nartum auf dem Lande und weitgehend auch isoliert und bearbeite jetzt meine vielen Tausend Seiten von Tagebüchern, jahrgangsweise, ergänze sie durch Briefe und so weiter, und das ist sozusagen die dritte Säule meiner Publikationen, die allerdings erst in etwa zehn Jahren abgeschlossen sein wird."

    Diese Tagebücher gehören zum Besten, was seit langem in diesem Genre erschienen ist. Sie sind kauzig, anrührend, ironisch, provozierend, manchmal parodistisch und süffisant, witzig, boshaft und melancholisch - kurzum: sie zeigen Walter Kempowski in allen Facetten seiner Persönlichkeit, auch mit den Ressentiments, denen er zuweilen auch öffentlich die Zügel schießen ließ, wenn es um Hirnrissigkeiten wie die Rechtsschreibreform ging:

    "Ich hab's ja immer schon gewusst, dass das nicht funktioniert. Was mich interessiert ist, dass bisher kein einziger Name dieser Hornochsen herausgekommen ist, die uns die Reform eingebrockt haben. Aber wie gesagt, in Deutschland ist alles möglich, der Blödsinn besonders, nä!"

    Ein "Volksdichter", wie ein Bundespräsident meinte, war Walter Kempowski nie, sondern der Chronist deutscher Bürgerlichkeit, der sich lange Zeit, und das nicht zu Unrecht, allzu sehr verkannt fühlte.

    "Jahrelang hat man mich hier in der Bundesrepublik nicht besonders geachtet, fünfzehn Jahre lang war ich den Leuten suspekt. Das hat jetzt umgeschlagen und jetzt bin ich aufgenommen in die verschiedenen Literaturkreise, die Leute zitieren mich, das ist natürlich auch wunderbar."

    Und so konnte er schließlich mit spöttischer Genugtuung sagen:

    "Ich war ein lästiges Übel."