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Chruschtschows Enthüllung

Drei Jahre nach dem Tod von Diktator Josef Stalin lag der sowjetischen Parteiführung ein Bericht über die grausame Verfolgung politischer Gegner unter dem Despoten vor. Zunächst sollte er unter Verschluss bleiben. Doch am 25. Februar 1956 enthüllte Nikita Chruschtschow die Verbrechen seines Vorgängers vor den Delegierten des 20. Parteitages in Moskau.

Von Reiner Tosstorff | 25.02.2006
    "Wir haben uns mit der jetzt und zukünftig für die Partei überaus wichtigen Frage zu befassen, wie der Kult mit der Person Stalins sich allmählich entfalten konnte, dieser Kult, der in einer ganz bestimmten, konkreten Phase zur Quelle einer Reihe außerordentlich ernster und schwerwiegender Verfälschungen der Parteigrundsätze, der innerparteilichen Demokratie und der revolutionären Gesetzlichkeit wurde."

    Mit diesem Satz stimmte Nikita Chruschtschow die Delegierten des 20. Parteitags auf etwas ein, mit dem sie wenige Tage zuvor nicht im Traum gerechnet hätten. Eigentlich war der am 14. Februar 1956 eröffnete Kongress ja auch schon abgeschlossen. Man hatte zehn Tage lang die wirtschaftlichen und politischen Aufgaben diskutiert und - wie immer - einstimmig den Vorgaben der Parteiführung zugestimmt. Ein neues Zentralkomitee war bereits gewählt worden. Nichts Spektakuläres also. Da wurden die sich schon auf die Abreise vorbereitenden Delegierten zu einer nicht-öffentlichen Sitzung zurückgerufen.

    "Stalin hielt sich nicht damit auf, die Menschen zu überzeugen, aufzuklären und geduldig mit ihnen zusammenzuarbeiten, sondern er zwang anderen seine Ansichten auf und verlangte absolute Unterwerfung unter seine Meinung. Wer sich seiner Konzeption widersetzte oder einen eigenen Standpunkt zu vertreten, die Korrektheit der eigenen Position zu beweisen suchte, wurde unweigerlich aus dem Führungskollektiv ausgestoßen und anschließend sowohl moralisch als auch physisch vernichtet."

    Der drei Jahre zuvor verstorbene Josef Stalin hatte bis dahin den Kommunisten als Maß aller Dinge gegolten. Und nun trug sein Nachfolger als Parteisekretär vier Stunden lang den atemlos lauschenden Delegierten vor, wie blutig seine Herrschaft gewesen war. An vielen Beispielen schilderte Chruschtschow, wie prominente Parteikader im Auftrage Stalins umgebracht worden waren.

    "Und welche Beweise legte man vor? Die 'Geständnisse' der Verhafteten – und die Untersuchungsrichter akzeptierten sie! Und wie ist es möglich, dass ein Mensch Verbrechen zugibt, die er gar nicht begangen hat? Nur auf eine Weise, nämlich auf Grund der Anwendung physischer Gewalt zur Geständniserpressung – indem man ihn bis zur Bewusstlosigkeit foltert und ihn seiner menschlichen Würde beraubt."

    Die Parteiführung hatte nach Stalins Tod Untersuchungen über das ganze Ausmaß der Verfolgung vornehmen lassen. Doch sollten die Ergebnisse zunächst geheim bleiben. Chruschtschow ergriff dann die Initiative und setzte in heftigen Diskussionen durch, sie wenigstens auf dem Parteitag bekannt zu geben. Denn schließlich galt:

    "Manche Genossen mögen uns fragen: Wo waren die Mitglieder des Politbüros des Zentralkomitees? Warum setzten sie sich nicht rechtzeitig gegen den Persönlichkeitskult zur Wehr? Und warum tut man es erst jetzt?"

    Tatsächlich war Chruschtschow sehr bemüht, die Abrechnung ganz auf die Person Stalins zu konzentrieren. Ihm wurde Lenin als großes Vorbild gegenübergestellt. Damit blieb die Führungsrolle der Partei weiterhin legitimiert:

    "Wir dürfen diese Angelegenheit nicht aus den Reihen der Partei hinaus, insbesondere nicht in die Presse dringen lassen. Aus diesem Grunde behandeln wir sie hier auf einer geschlossenen Sitzung des Parteikongresses. Wir müssen die Grenzen kennen; wir dürfen dem Feind keine Munition liefern; wir dürfen unsere schmutzige Wäsche nicht vor seinen Augen waschen."

    Doch Chruschtschows Rede, Millionen Parteimitgliedern vorgelesen, wurde schnell bekannt und gelangte in den Westen. Nachgesprochen im Rundfunk, wie hier im 'Sender Freies Berlin' im Juni 1956, erreichte sie etwa die Hörer in der DDR. Weltweit führte sie zu dramatischen Diskussionen in den kommunistischen Parteien.

    Noch heute streiten die Historiker über Chruschtschows persönliche und politischen Motive für die Rede. Für Millionen Lagergefangene aber bedeuteten die folgenden Monate Befreiung und Rehabilitierung, und das bleibt sein historisches Verdienst. Doch ein weitergehender Aufbruch zu grundlegenden Veränderungen scheiterte an der ungebrochenen Macht der Parteibürokratie, der zudem das Klima der Blockkonfrontation im Kalten Krieg half. Chruschtschow musste schließlich 1964 gehen, nicht wegen der Abrechnung mit Stalin, sondern wegen eigener Fehler. Dafür wurde er nun jedoch nicht mehr umgebracht.
    Josef Stalin
    Josef Stalin. (AP)