Dienstag, 16. April 2024

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Claudia Roth (Bündnis 90/Die Grünen)
"Das ist keine Staatskrise, das ist eine Bewährungsprobe"

Ob eine Große Koalition die beste Möglichkeit sei, nachdem sie das Land vier Jahre lang anästhesiert habe, bezweifelt Bundestags-Vizepräsidentin Claudia Roth von den Grünen im Dlf. Sollte es doch dazu kommen, hätten die Grünen eine klare Oppositionsrolle. Eine Minderheitsregierung hingegen bedürfe großen politischen Muts.

Claudia Roth im Gespräch mit Barbara Schmidt-Mattern | 26.11.2017
    Die Bundestagsvizepräsidentin von Bündnis 90/Die Grünen, Claudia Roth, spricht am 25.11.2017 in Berlin auf dem Parteitag von Bündnis 90/Die Grünen. Im Mittelpunkt des Parteitages stehen Beratungen über das Ergebnis der Bundestagswahl und die gescheiterten Sondierungen für eine Jamaika-Koalition. Foto: Ralf Hirschberger/dpa-Zentralbild/dpa | Verwendung weltweit
    Bei der Bundesdelegiertenkonferenz der Grünen: Claudia Roth - Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages (dpa-Zentralbild / Ralf Hirschberger)
    Barbara Schmidt-Mattern: Claudia Roth, herzlich willkommen bei uns beim Interview der Woche im Deutschlandfunk.
    Claudia Roth: Ich freue mich.
    Schmidt-Mattern: Wir treffen uns hier und zeichnen dieses Interview auf, direkt nach dem Parteitag der Grünen, nach der Bundesdelegiertenkonferenz, die hier gerade in Berlin stattgefunden hat und die eigentlich - ja - jetzt so eine Art "Was-wäre-wenn-Parteitag" gewesen ist. Sie wollten eigentlich über die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen im Rahmen eines Jamaika-Bündnisses hier sich heute grünes Licht holen. Das hat nicht geklappt. Und was übrigbleibt, ist, dass Sie wieder einmal ganz nah dran waren an der Regierungsbeteiligung, wie schon 2013. Da haben Sie auch sondiert mit den Grünen. Und jetzt drohen Ihnen möglicherweise ja wieder vier Jahre Opposition. Wie sehr tut das weh?
    Roth: Also, wir waren jetzt deutlich näher dran als 2013. Dieses Mal war eine andere Situation. Es war die einzige denkbare Konstellation, nachdem die SPD ja kurz nach 18 Uhr am Wahlabend gesagt hat: "Mit uns nicht". Und dann gab es eben die eine Möglichkeit. Und das war diese Jamaika-Konstellation.
    Schmidt-Mattern: Da würde ich gerne direkt mal einhaken, denn Verhandlungsteilnehmer haben hinterher erzählt, aus allen Parteien oder auch schon währenddessen, dass Sie wohl zu später Stunde gelegentlich sich zum Karaoke singen getroffen haben, dass es Skatrunden gab, dass es sogar neue Duz-Freundschaften gibt. Sie und Wolfgang Kubicki duzen sich jetzt.
    Roth: Ja, wir duzen uns aber schon länger, weil wir eine gemeinsame Jungdemokraten-Geschichte haben. Also, das ist nicht ein neues Du. Frau von der Leyen war dann plötzlich da und hat geguckt, wie es bei uns abgeht, als sie dann gehört hat, dass wir gesungen haben. Ich habe dann eher mal so Marianne ...
    "Es gibt natürlich große Unterschiede"
    Schmidt-Mattern: Erzählen Sie doch mal, wie war das denn mit dem Singen?
    Roth: Ja, ich habe dann halt Marianne Rosenberg gesungen. 'Er gehört zu mir, wie der Name an der Tür.' Bei uns Grünen, allen, die bei den CSDs unterwegs sind, natürlich ein wohlbekannter Titel. Kommt Frau von der Leyen rein und sagt: 'Ach, das ist jetzt Andi Scheuer gewidmet.‘ Also, es war eine Situation, wo wir unglaublich viel Tee getrunken haben, und zwar Minze mit frisch geschnittenem Ingwer. Herr Seehofer hat - ach, ich weiß gar nicht, ob ich das erzählen darf, aber das ist, glaube ich, nicht despektierlich -, hat Unmengen Eiscreme gegessen - Vanilleeis.
    Schmidt-Mattern: Ich frage mich die ganze Zeit, wie es um die Verantwortung, auch der Grünen und der Union, am Scheitern dieser Gespräche steht. Wenn zwei sich offensichtlich so gut verstehen - Grüne und CDU ja vor allem - 'ist es dann nicht nachvollziehbar, dass ein dritter möglicher Partner sagt: 'Da werde ich hier misstrauisch. Da sind wir doch das fünfte Rad am Wagen. Das kann niemals vier Jahre halten.' - wie die FDP es ja argumentiert hat, warum sie ausgestiegen ist?
    Roth: Na ja, also gut, verstehen und einen guten Umgang miteinander pflegen, heißt ja nicht, dass das eine inhaltliche ganz große Nähe gibt. Also, ist mitnichten so. Es gibt natürlich große Unterschiede. Und wir haben von Anfang an gesagt, wir wollen wirklich es seriös versuchen, und zwar alle 14 zusammen, von beiden Flügeln in unserer Partei. Und haben dann auch gezeigt - was uns ganz sicher nicht einfach gefallen ist und was nicht leicht war -dass, ja, dass das Sich-rein-versetzen in den anderen, auf der anderen Seite heißt, auch selber kompromissfähig sein zu müssen, um politikfähig zu sein. Das habe ich bei den …
    Schmidt-Mattern: Haben die Grünen Fehler gemacht?
    Roth: Ja, ob wir alles richtiggemacht haben, das weiß ich nicht. Ob wir vielleicht manchmal zu schnell was abgegeben haben, das weiß ich nicht. Das ist irgendwie jetzt eigentlich auch schon wieder vorbei. Aber ich glaube, was richtig war, dass wir unglaublich mit uns gerungen haben. Ich habe keine Lust, jetzt FDP-Bashing zu betreiben. Das muss jede Partei, die dabei war, für sich entscheiden, wie sie agiert. Aber es war mitnichten so, dass die FDP nicht auch Angebote, und zwar große Angebote.
    "Wir brauchen eine stabile Regierung"
    Die Tür des Übertragungswagens geht auf, eine Stimme ruft: "Lügenpresse - und Ökofaschisten"
    Schmidt-Mattern: Wir sollten das vielleicht einfach kurz den Hörern auch erzählen ...
    Roth: Ja.
    Schmidt-Mattern: ...dass wir hier im Übertragungswagen vor der Parteitagshalle sitzen und eben die Tür zu unserem Wagen hier aufgerissen wurde von einem unbekannten Mann, der hier "Ökofaschisten", glaube ich, hier rein rief.
    Roth: Und das galt wohl mir.
    Schmidt-Mattern: Und "Lügenpresse".
    Roth: Und "Lügenpresse" galt Ihnen. Und sehen Sie, das sind die Herausforderungen, die wir haben in diesem Land. Und deswegen haben wir gesagt, wir strengen uns an, denn in diesem Land gibt es Gräben. Es gibt eine Polarisierung, es gibt Hass und es gibt Gewalt. Und dem etwas entgegenzusetzen, hätte, glaube ich, gerade so eine Konstellation von CSU, über FDP, CDU zu Grünen eine hohe Bindewirkung entfalten können.
    Schmidt-Mattern: Blicken wir nach vorne, Frau Roth. Kommenden Donnerstag, wenn die Kanzlerin von ihrer Afrika-Reise zurückgekehrt ist, treffen sich die drei Parteivorsitzenden von CDU/CSU und SPD im Schloss Bellevue. Eingeladen vom Bundespräsidenten, von Frank-Walter Steinmeier. Und dann soll es einen neuen Versuch geben, irgendwie mit der Regierungsbildung voranzukommen. Das riecht nach Großer Koalition. Ist das jetzt das letztmögliche Bündnis? Stellen sich die Grünen schon auf weitere vier Jahre Opposition ein?
    Roth: Nein, es gibt drei Möglichkeiten, drei theoretische Möglichkeiten. Also, alle Versuche, noch mal Jamaika zu reloaden - klappt nicht. Das ist, glaube ich, wirklich vorbei. Das hat Christian Lindner auch sehr eindeutig gesagt. Dann gibt es die Möglichkeit, nach einer Großen Koalition. Das riecht ein bisschen danach. Da haben Sie Recht. Ob das nun die beste Möglichkeit ist, nachdem vier Jahre dieses Land anästhesiert worden ist, das weiß ich nicht. Das wage ich sehr zu bezweifeln. Es gäbe eine andere Möglichkeit, die großen politischen Mut verlangen würde. Das wäre die sogenannte Minderheitsregierung. Da haben wir tatsächlich nicht die Tradition in unserer politischen Kultur. Wir hatten eine mal in Nordrhein-Westfalen. Da hat allerdings nur eine einzige Stimme gefehlt. Das hat aber - das war eine gute Zeit - sagen alle, weil es eine hohe …
    Schmidt-Mattern: Vor ein paar Monaten, Frau Roth, hätte ja auch jeder gesagt: 'Jamaika, vergesst es, das klappt in Deutschland nicht, nicht mit diesem schlechten Verhältnis zwischen FDP und Grünen.' Jetzt hätte es zumindest fast geklappt. Muss man nicht bei allen Überlegungen über eine mögliche Minderheitsregierung vielleicht einfach zuversichtlicher, auch ein bisschen wagemutiger sein?
    Roth: Ja, aber das liegt jetzt wirklich nicht an uns. Also, ich kann mir das wirklich vorstellen, weil es ein mutiges Experiment ist, und weil es genau die demokratischen Kräfte fordert, auf einen rechten Rand, auf eine rechtspopulistisch, rechtsextreme, rassistische Partei, wie die AfD, zu reagieren. Jetzt ist die große und wichtige Stunde unseres Bundespräsidenten, der tatsächlich ja jetzt Personen, Politiker mit der Regierungsbildung beauftragen muss. Er versucht jetzt in Richtung Große Koalition. Ich kann mir vorstellen, dass es auch so zu Ende kommt. Und die dritte Möglichkeit wäre dann die Option der Neuwahl, die, glaube ich, aus gutem Grund von vielen Menschen in diesem Land nur mit Kopfschütteln betrachtet wird, weil die sagen: 'Ja, warum? Was soll denn da Neues dabei heraus kommen? Und warum schaffen die das nicht, sich zusammenzuraufen, angesichts der Herausforderungen?' Und die Herausforderungen sind wirklich groß. Also, wir brauchen eine stabile Regierung, weil Europa umgeben von Demokratiefeinden, innerhalb Europas kracht es. Wir haben die Trumps, die Putins, die Erdogans, die Xi Jinpings. Wir haben die Klimakrise. Also, es braucht ein starkes Deutschland, ein handlungsfähiges Deutschland in dieser Welt.
    Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier geht am 20.11.2017 in Berlin im Schloss Bellevue zu seinem Rednerpult, um eine Erklärung abzugeben.  Zuvor hatte die Bundeskanzlerin den Bundespräsidenten über die Situation nach den gescheiterten Sondierungsgesprächen in Kenntnis gesetzt. Foto: Maurizio Gambarini/dpa | Verwendung weltweit
    Jetzt sei die große und wichtige Stunde unseres Bundespräsidenten, der Politiker mit der Regierungsbildung beauftragen müsse, sagt Claudia Roth von den Grünen. (dpa)
    "Eine klare, klare, klare Rolle gegen den Rechtsruck in unserem Land"
    Schmidt-Mattern: Katrin Göring-Eckardt hat ja diese Woche in mehreren Interviews ihre Skepsis gegenüber einer Minderheitsregierung mit grüner Beteiligung ausgedrückt. Und dahinter steckt offenbar bei vielen Ihrer Parteifreunde die Sorge, dass grüne Inhalte da völlig unter die Räder kommen könnten, beispielsweise der Klimaschutz, das Vorantreiben des Kohleausstiegs. Das würde Sie nicht beeinträchtigen? Oder …
    Roth: Da habe ich eher Angst, dass die Große Koalition genau wieder so weitermacht, wie sie die letzten Jahre weitergemacht hat. Und das heißt, diese Große Koalition, wenn es so weitergehen würde, würde krachend, aber wirklich krachend die Klimaziele verfehlen. Aber das ist … noch mal, das ist jetzt so viel Spekulation.
    Schmidt-Mattern: Was hingegen keine Spekulation ist, ist Ihr Beschluss des Parteitages, in dem jetzt festgehalten wurde, Sie verschließen sich Gesprächen nicht, in welcher Art sie auch immer dann mit der Union für eine Minderheitsregierung noch mal stattfinden könnten. Das ist die Linie des Bundesvorstands. Während Parteilinke, wie Jürgen Trittin, sehr offensiv dafür geworben haben, dass man jetzt in eine ganz klare Oppositionsrolle geht, und dass das auch nötig sei in Zeiten, in denen Populisten in den Bundestag eingezogen sind. Welche Linie verfolgen Sie? Klare Opposition oder Gesprächsbereitschaft mit der Union?
    Roth: Ich glaube nicht, dass das ein Widerspruch ist. Ich glaube nicht. Ich glaube, wir haben immer gesagt, dass wir offen sind für Gespräche. Das haben wir gezeigt, weil - nicht zur höheren Ehre der Grünen Partei, sondern, weil wir verdammt noch mal Veränderungen in diesem Land brauchen und eine gute und eine kraftvolle Politik. Und da wollen wir unseren Beitrag leisten. Aber vielleicht ist Jürgen Trittin eben ein großer Pragmatiker und vielleicht ist er sehr realistisch. Kommt aus Niedersachsen, hat da gerade erlebt, wie aus einer guten rot-grünen Zusammenarbeit der letzten Jahre jetzt eine Große Koalition entstanden ist und wie schnell diese Große Koalition entstanden ist. Also, ich glaube nicht, dass da Unterschiede sind zwischen Cem Özdemir und Jürgen Trittin, sondern dass Jürgen sagt, er glaubt, die Große Koalition wird entstehen und dann haben wir die klare Oppositionsrolle. Eine klare, klare, klare Rolle gegen den Rechtsruck in unserem Land, gegen den Rechtsruck in Europa, gegen eine "Österreichisierung" deutscher Politik. Und das muss ich Ihnen schon sagen, das ist etwas, wo ich mir wirklich Sorgen mache. Denn jeder von uns, von den demokratischen Parteien, stellt sich natürlich die Frage:
    ‚Was ist unsere Antwort auf die AfD, auf eine Partei, die in den Kern dessen will, was die Demokratie in unserem Land stark gemacht hat?‘ Und, wenn dann ein Herr Dobrindt sagt, nach der Wahl ‚ich habe verstanden‘ und meint, jetzt muss die CSU noch weiter nach rechts rücken, dann ist das, glaube ich, völlig falsch. Und, wenn Herr Lindner sich sehr stark an die österreichische Entwicklung … also, sehr positiv über die österreichische Entwicklung redet und ich bisweilen das Gefühl hatte, dass er in manchen seiner Äußerungen und seiner Auffassungen die CSU sogar rechts überholt, dann ist das ein Andocken an den - ja - nationalliberalen Kurs, den es in der FDP schon gegeben hat. Und dann geht es eher um Macht und viele Stimmen, als um das klare Nein, die klare Abgrenzung der demokratischen Parteien von rechts. Und deswegen braucht es uns starke Grüne.
    "Man weiß sehr genau, wofür stehen die Grünen"
    Schmidt-Mattern: Das Interview der Woche im Deutschlandfunk, heute mit Claudia Roth von den Grünen. Frau Roth, eine weitere Option, auf die wir noch zu sprechen kommen wollen, ist die, ob das Land vielleicht doch auf eine Neuwahl hinsteuert. Aus Sicht der Grünen vielleicht gar nicht die schlechteste Option. In den Umfragen stehen Sie besser da als vor der Wahl. Sie sind geschlossener denn je. Ihr Führungsduo - Özdemir und Göring-Eckardt - ist akzeptiert. Die ganze Sondierungsmannschaft hat viel, viel Applaus bekommen auf dem Parteitag. Daher die Frage. Ich habe es bei den Reden auf dem Parteitag immer wieder herausgehört in manchen Passagen. Das klang schon wieder wie Wahlkampf, nur mit dem Zusatz: 'In vier Jahren wollen wir dann das und das, und wir wollen auch die Wähler der FDP eigentlich zu uns herüberziehen.' Haben die Grünen da im Moment im Hinterkopf die leise Hoffnung auf eine Neuwahl hinzusteuern und dann vielleicht doch noch in die Regierung zu kommen?
    Roth: Nein. So tickt unsere Partei nicht. Und ich bin so stolz und bin so glücklich über diese Partei. Und ich weiß schon, warum ich in dieser Partei bin. Die redet an so einem Tag wie heute über die Klimakrise, lädt Professor Schellnhuber ein. Und er erzählt uns, wie dramatisch …
    Schmidt-Mattern: Vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, genau.
    Roth: Ja. Und er berichtet vor einem Parteitag einer Partei über die dramatischen Auswirkungen der Klimakrise schon heute. Wir gucken eben nicht danach: Wie sind die Umfragen? Und daraus entwickeln wir dann unsere Strategien, ob man jetzt für Neuwahlen sein muss, weil es uns ja ein besseres Ergebnis bringen könnte. So haben wir noch nie getickt. Wir begründen unsere Politik aus der Sache heraus und auch unsere Handlungen. Und deswegen, ja, Neuwahlen. Ich habe keine Angst vor Neuwahlen. Ich habe überhaupt keine Angst vor Neuwahlen. Aber ich glaube nicht, dass das jetzt das Naheliegendste wäre. Natürlich kann es Neuwahlen geben. Wenn die Große Koalition nicht zustande kommt, dann wird es wohl Neuwahlen geben. Und eine Minderheitsregierung - dann gibt es Neuwahlen. Und dann gehen wir da kraftvoll rein. Dann gehen wir gestärkt rein. Denn eins hat diese Sondierungsphase gezeigt, mehrere Sachen hat sie gezeigt. Eine wichtige für uns, nach innen in die Partei rein wichtige Sache ist, dass da 14 Grüne Alphatiere - wenn ich das so sagen darf - sehr vielfältig von den Flügeln, sehr ausgeprägte Persönlichkeiten, Junge, Junggebliebene, viele starke Frauen und starke Männer, dass die gemeinsam an einem Strang gezogen haben und dass diese Vielfalt als Stärke bei uns spürbar war. Und das Zweite, was diese Sondierungsphase gebracht hat ist, dass, glaube ich, mehr als im Wahlkampf wir uns mit unseren Themen profiliert haben. Man weiß sehr genau, wofür stehen die Grünen, wofür kämpfen sie. Und das wäre dann, wenn es eine Wahl geben würde, wahrscheinlich eine einfachere Entscheidung, sich für oder gegen die Grünen zu entscheiden.
    Schmidt-Mattern: Lassen Sie uns einen Schwenk machen, Frau Roth. Wir haben diese Woche auch Plenarwoche im Bundestag gehabt. Sie sind bei der konstituierenden Sitzung Ende Oktober erneut zur Vizepräsidentin des Bundestages gewählt worden. Und zumindest den Bildern nach zu urteilen, hat sich darüber niemand von den Wiedergewählten so sehr gefreut, wie Sie.
    Roth: Ich habe mich wirklich total gefreut. Weil ich finde, es ist eine wunderbare Aufgabe, eine ganz wunderbare Aufgabe, ein Privileg. Und auch für mich, ich empfinde das auch wirklich als Ehre, dass so jemand wie ich - wenn ich das so sagen darf - das deutsche Parlament oder die Idee der Demokratie, des Parlamentarismus, repräsentieren darf. Und ich habe mich so sehr gefreut, weil ich glaube, diese Idee, was macht eigentlich Demokratie aus, was macht die Gewaltenteilung aus, was macht die Legislative aus, was wollen wir nach draußen vermitteln, in einem Gebäude mit einer solchen Geschichte, in einem Land, das keinen Schlussstrich unter die Geschichte ziehen darf, da genau diese Funktion einnehmen zu dürfen, das hat mich sehr, sehr, sehr gefreut, dass man mir das, erstens zutraut, zugesteht. Und ich glaube, dass die Aufgaben deutlich stärker werden als in der Vergangenheit.
    Schmidt-Mattern: Ja. Denn wir haben jetzt eine AfD, die im Bundestag mit über 90 Abgeordneten vertreten ist. Und da geht die Frage direkt an Sie, in Ihrer Funktion als Bundestagsvizepräsidentin. Sie werden sich eine Strategie zurechtgelegt haben, wie Sie künftig mit dieser Partei umgehen wollen, Sie und Ihre Kollegen im Bundestagspräsidium. Sanktionen? Oder möglichst ignorieren? Oder welchen Weg wählen Sie?
    Roth: Also, ich glaube, Eines muss ganz klar sein: Es darf eine Auseinandersetzung, eine politische Auseinandersetzung mit einer Partei, deren Ideologie ich überhaupt nicht teile, nicht von einer Vizepräsidentin geführt werden oder von einem Präsidium. Ich finde es auch falsch, wenn man glaubt, man kann mit Geschäftsordnungsveränderungen politische Positionen, die man ablehnt, bekämpfen.
    Schmidt-Mattern: Was schon geschehen ist bei der konstituierenden Sitzung.
    Roth: Deswegen: Wir haben nicht zugestimmt beispielsweise, dass die Geschäftsordnung geändert wurde, dass der Alterspräsident nicht mehr der biologisch älteste Mensch ist im Bundestag, sondern der dienstälteste. Das war, glaube ich, schon etwas, wo man die Geschäftsordnung geändert hat.
    Schmidt-Mattern: Das muss man kurz erklären. Sonst hätte ein AfD-Abgeordneter ...
    Roth: Sonst hätte möglicherweise ein AfD-Abgeordneter die erste Rede gehalten. Also, das muss unsere Demokratie aushalten. Erstens, Geschäftsordnung gilt für alle. Aber in unserer Geschäftsordnung steht: "Ordnung und Würde des Parlaments" und das muss man achten. Und natürlich werden wir darauf, möchte ich auch darauf achten, dass die Abgeordneten gleichermaßen behandelt werden, aber dass sie sich alle auch an Regeln des Umgangs halten und dass nicht Nazi-Sprech beispielsweise einzieht in diesen Bundestag.
    Schmidt-Mattern: Was machen Sie denn dann? Rufen Sie dann die Abgeordneten zur Ordnung? Oder welche Mittel haben Sie?
    Roth: Es gibt unterschiedlichste Mittel. Es gibt die normale Rüge, wenn jemand anderes beleidigt wird. Das ist dann immer auch sehr der jeweilige Präsident, die Präsidentin, die das zu entscheiden haben. Dann gibt es einen Ordnungsruf, das ist schon ein bisschen heftiger. Dann gibt es Ordnungsgeld, das vor einigen Jahren eingeführt worden ist, das geht dann in die tausende Euro oder sogar bis zu 2.000 Euro. Und dann gibt es auch die Möglichkeit, eine Person, die gegen die Ordnung, gegen die Würde verstößt, zum Beispiel mit Volksverhetzung, Unmögliches getan zu haben, auch des Saales zu verweisen.
    Schmidt-Mattern: Birgt nicht jede Art von Ordnungsruf oder sogar Geld, das Strafgeld, das anfallen würde, aber die Gefahr, dass die AfD sich dann in der Opferrolle stilisieren könnte?
    Roth: Das wäre falsch, wenn wir diese Märtyrergeschichte machen würden. Aber die Ordnung und die Würde des Hauses muss von jedem akzeptiert werden. Und wenn jemand auf die Idee kommen würde, in einer Rede zum Beispiel Gruppen -seien es Sinti und Roma, seien es Juden, seien es Muslime - als Gruppe zu beschimpfen oder Hetzparolen loszulassen, dann geht das in Richtung Volksverhetzung, und das kann in diesem Haus nicht erlaubt sein. Und ich will wirklich, weil ich weiß es, dass so viele Menschen auf der ganzen Welt unsere Demokratie beneiden, uns um diese Demokratie beneiden, uns beneiden darum und respektieren und achten, dass wir gesagt haben: Wir wollen unsere Geschichte nicht verdrängen, wir wollen sie nicht abschließen, bei uns gibt es keinen Schlussstrich. Und deswegen ist dieser Ort ein ganz besonderer, um Demokratie lebbar zu machen. Lebendige Auseinandersetzung, heftige Auseinandersetzung, das hat sich schon völlig verändert, aber Volksverhetzung, Rassismus, Rechtsextremismus, Ausgrenzung, Demütigung hat keinen Platz in diesem Bundestag.
    Schmidt-Mattern: Wie haben Sie denn den ersten Auftritt von AfD-Abgeordneten diese Woche im Bundestag wahrgenommen? Es gab ja auch jetzt die erste Einreichung eines Antrages der AfD im Bundestag.
    Roth: Der Bundestag ist komplett anders - wir haben jetzt sechs Fraktionen -, komplett anders. Er ist übrigens sehr, sehr, sehr viel männlicher, es sind leider sehr viel weniger Frauen da. Gerade in der AfD-Fraktion sind von 93 gerade mal zehn Frauen. Also, das ist ein richtiger Männerblock. Es ist schon sehr gewöhnungsbedürftig, wenn da Leute sich auf die Schenkel klopfen, wenn es zum Thema syrische Flüchtlinge geht - was ein CDU-Kollege, Dr. Wadephul, auch sehr gut und sehr kritisch angesprochen hat. Ja, also wir müssen uns, die Kollegen müssen sich anstrengen. Wir müssen besser aufpassen. Wir müssen sehr gut argumentieren. Nicht mit Geschäftsordnungsmaßnahmen setzt man sich auseinander, sondern am besten, indem die Demokraten besser sind als die, die Demokratie verächtlich machen wollen. Und deswegen war das schon nochmal eine Herausforderung. Einer der ersten Anträge - von zwei Anträgen - war ein Antrag, Geflüchtete nach Syrien rückzuschicken, weil Assad angeblich Sicherheit garantieren kann.
    Schmidt-Mattern: Der syrische Präsident.
    Roth: Das hat niemand im Haus außer der AfD so gesehen. Und dann war aber plötzlich etwas los in diesem Haus, also was nur wieder auch lebendige Demokratie ist. Das ist lebendige Auseinandersetzung, Debatten. Es waren richtige Battles, die da stattgefunden haben. Wenn wir das durchhalten, dann haben wir eine große Chance, besser zu sein als die, die die Demokratie verachten.
    Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner äußert sich am 20.11.2017 vor Beginn der Sitzung von FDP-Bundesvorstand und Fraktion nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungen von CDU, CSU, FDP und Grünen in Berlin gegenüber Journalisten.
    Nach dem Ende der Sondierungsgespräche: Es sei nicht unmittelbar absehbar gewesen, dass Jamaika scheitern würden, so Claudia Roth im Dlf (dpa / Bernd von Jutrczenka)
    "Es braucht ein Parlament, das Anträge einbringt"
    Schmidt-Mattern: Daraus schließe ich - ich hätte Sie nämlich eigentlich gerade fragen wollen, inwieweit ein Parlament in Zeiten einer nur geschäftsführenden Regierung überhaupt handlungsfähig ist -, dass Sie dieses Parlament für handlungsfähig halten. Es gibt da ja etwa die Linkspartei, die das anzweifelt und unter anderem drauf verweist, dass wir bislang nur einen Hauptausschuss haben, dass es aber keine Verteidigungsausschuss gibt im Moment, keinen Europaausschuss. Also, im Grunde liegt die eigentliche parlamentarische Fleißarbeit völlig brach.
    Roth: Also ich glaube, das wird sich sehr bald ändern. Denn es war ja nicht unmittelbar absehbar, dass Jamaika, dass die Sondierungen scheitern würden. Und jetzt ist der Beschluss da, dass der Ältestenrat eingerichtet wird - der wird, glaube ich, am 11. Dezember zum ersten Mal tagen. Und ich glaube, die Einschätzung der unterschiedlichen Fraktionen ist schon die, dass wir schnellstmöglich jetzt die Ausschüsse einrichten, obwohl wir noch nicht wissen, wie die Ministerien dann im Einzelnen zusammengesetzt sind. Und das ist unsere Aufgabe. Wir sind die Legislative, wir haben auch die Bundesregierung - auch wenn es eine Übergangsregierung ist - zu kontrollieren. Ich meine, Regierungshandeln geht ja weiter und da braucht es natürlich ein Parlament, das kontrolliert. Es braucht ein Parlament, das Anträge einbringt zum Beispiel.
    Schmidt-Mattern: Aber können Sie das denn im Moment, kontrollieren? Das ist ja gerade die Frage.
    Roth: Ja. Und deswegen müssen ganz, ganz schnell die Ausschüsse, da bin ich sehr dafür, dass die Ausschüsse sehr, sehr schnell eingerichtet werden. Ein Hauptausschuss mit 47 Mitgliedern kann nicht die Vielfalt des Parlaments repräsentieren und die ganze Kontrollfunktion aufnehmen. Es gibt ein Beispiel. Am 18. März läuft die Sperre des Familiennachzuges aus für subsidiär Geschützte. Das wird ganz spannend sein.
    Schmidt-Mattern: Der Familiennachzug war ja ein ganz heikles Thema bei der Jamaika-Sondierung.
    Roth: Das wird sehr spannend sein, was jetzt kommt von den einzelnen Parteien. Ich will natürlich, dass diese Familienzusammenführung wieder möglich ist - und dafür braucht es die Ausschüsse. Die werden sicher sehr bald eingerichtet werden. Und dann wird dieses Parlament eine wichtige Funktion haben, gerade in diesen unsicheren Zeiten.
    Schmidt-Mattern: Frau Roth, dann bleibt mir eigentlich im Moment nur noch eine abschließende Frage - viele Bürger fragen sich das ebenfalls -, bis wann wir eigentlich wieder eine neue Regierung haben werden. Ursprünglich war wenigstens einmal an Weihnachten gedacht, jetzt ist schon von Ostern die Rede. Was glauben Sie?
    Roth: Also, ich habe hier keine Glaskugel in diesem Ü-Wagen. Ich will nur mal Eines sagen: Also, letztes Mal, als die Große Koalition verhandelt hat, hat es auch bis Januar gedauert - also, die waren auch nicht schneller. Und noch einmal: Wir haben mit vier Parteien verhandelt und sondiert. Da war nämlich immer noch die bayrische Schwester, die CSU dabei, die wirklich kein Honigschlecken ist. Also, ich kann es Ihnen wirklich nicht sagen. Ich glaube, bis Weihnachten - sollten die Gespräche in Richtung Große Koalition weitergehen -, dann werden die selber auch nochmal anfangen zu sondieren und zu versuchen, Koalitionsverhandlungen aufzunehmen. Ich kann es nicht sagen, aber es wird auf jeden Fall in diesem Jahr keine Regierung mehr geben. Aber das ist keine Staatskrise, das ist eine Bewährungsprobe. Wir haben ein sehr, sehr gutes Grundgesetz, wir haben ein Parlament, das arbeiten kann, wir haben eine Übergangsregierung - aber wirklich nur eine Übergangsregierung - und deswegen keine Angst. Sondern jetzt die Auseinandersetzung suchen und so schnell wie möglich die institutionellen wichtigen Geschichten im Bundestag einrichten. Und dann werden wir zeigen, was eine lebendige Demokratie ist. Da bin ich mir sehr sicher.
    Schmidt-Mattern: Claudia Roth, herzlichen Dank für dieses Gespräch.
    Roth: Ich danke Ihnen ganz, ganz herzlich.