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Clubs und Bars als Theaterbühne

"Kaltstart" - so nennt sich das größte deutsche Nachwuchstheater-Festival im deutschsprachigen Raum. Bei der diesjährigen Ausgabe in Hamburg werden 50 Produktionen aus allen Bereichen der Darstellenden Kunst gezeigt - und das ohne großes Bühnebild oder große Bühnentechnik.

Von Elske Brault | 16.07.2009
    Junge Menschen in Turnschuhen, ein DJ am Plattenteller: Durch eine Szenekneipe gelangt man in den kleinen, heißen Theatersaal im ersten Stock. Dort leidet Werther, wie er das zurzeit häufig auf deutschen Theaterbühnen tut, in Hamburg, Berlin oder Kiel. Und hier nun in einem Gastspiel des Theaters für Niedersachsen.

    "Lieber Werther hat sie gesagt. Es war das erste Mal, das sie mich Lieber hieß."

    Regisseur Gero Vierhuff, mit 37 Jahren immer noch zum Nachwuchs zählend, lässt seinen Werther zu Rockmusik tanzen und gegen die Wand springen, weinen und barmen. Alles mit voller Kraft. Und das ist typisch für die Inszenierungen dieses Festivals. Michael Börgerding, Leiter der Hamburger Theaterakademie für Regiestudenten, entdeckt eine neue Ernsthaftigkeit.

    "Das drückt sich auf der Bühne dadurch aus, dass man sich so bestimmten Motiven wie Tragik wieder widmet. Oder dass man auch ganz großen Stoffen wie Ödipus versucht zu begegnen. Auch Anja Hilling, Schwarzes Tier Traurigkeit, ist ja eigentlich ein ganz großes, tragisches Stück. Und das wird nicht ironisch gebrochen oder vorgeführt. Die Figuren werden nicht mehr psychologisch-realistisch erzählt, aber sie werden als glaubhafte Figuren behauptet."

    "Alles ist Theater. Alles, was ich mache, betrachte ich aus der Distanz und stelle es sofort in Frage. Manchmal will ich angeben, manchmal ficken, manchmal mein Taschengeld oder billig erkaufte Anerkennung von Freunden."

    Es soll eben nicht alles bloß Theater sein, sondern den Zuschauer angreifen wie dieses Stück: "Horror Vacui", die Angst vor der Leere. Autor Gregor Dös und Regisseur Alexander Keil thematisieren darin das Problem der Wohlstandskinder, keine echten Probleme zu haben und doch jede Menge Angst.

    "Mein Leben fühlt sich gar nicht richtig an. Die erhoffte Erfüllung hab ich irgendwie nicht mitbekommen. Alles läuft gut, irgendwie nach Plan. Und doch fühle ich mich falscher, unvollständiger als je zuvor. Wie kann das sein?"

    Nach der Dekonstruktion, wie ein Réné Pollesch sie betrieben hat, versuchen die jungen Theatermacher nun eigene, neue Konstruktionen. Formal ist alles schon mal da gewesen. Also lautet die Losung: lasst uns einfach unsere Geschichten erzählen, und zwar miteinander. Auffällig sind im Festivalprogramm die vielen Stückentwicklungen, die häufige Zusammenarbeit von Nachwuchsregisseuren mit Nachwuchsautoren. Die präsentieren in der Autorenlounge täglich Mini-Dramen in szenischen Lesungen. Vieles mutet pubertär an, es geht um die Eifersüchteleien eines halbwüchsigen Geschwisterpaares in einer Schweizer Mittelstandsfamilie oder um die Grabenkämpfe in einer Studenten-WG. Große politische oder soziale Themen kommen nicht vor, die Jungen bilden ihren Alltag ab. Und der besteht aus lauter kleinen, unspektakulären Selbstbehauptungsanstrengungen. Alle dürfen sich auf diesem Festival präsentieren, aber sie müssen das ohne finanzielle Unterstützung schaffen. "Kaltstart" lädt zwar Produktionen aus dem gesamten deutschsprachigen Raum ein, kann den Mitwirkenden aber kein Hotelzimmer, sondern nur eine Matratze bei Freunden bieten. Regisseur Kevin Rittberger, der vor drei Jahren seine erste eigene Produktion komplett selbst bezahlt und bei Kaltstart gezeigt hat, findet das ganz in Ordnung.

    "Ich bin der Meinung, wenn man Theater machen will, dann macht man das auch ohne Geld und über Jahre ohne Geld. Ich hab das vorn paar Jahren in Argentinien, in Buenos Aires, wo ich für’n paar Wochen war, beobachtet. Wo es wirklich eine großartige, blühende Theaterlandschaft gibt eben unterhalb der Subventionsgrenze. Wo eben Theaterschaffende neben ihren Jobs wahnsinnig tolle Theaterabende machen."

    Rittberger hat es mittlerweile an die großen Staatstheater geschafft, genau wie die Regisseurin Jorinde Dröse. Beide betonten bei einer Podiumsdiskussion gestern Abend, es könne gar nicht genug Nachwuchsfestivals geben. Denn es sei so wichtig, sich zu vernetzen. Erstaunlich bloß, dass dies nicht im Netz passiert, im World Wide Web, sondern beim sehen reden anfassen auf diesem Festival, das Kuschelatmosphäre spendet eben nicht im Zeltlager rund um Rockkonzerte, sondern bei der Party nach "Kabale und Liebe". Teilnehmer und Publikum sind Digital Natives, mit dem Internet aufgewachsen. Doch wie sehnlich sie die virtuelle Welt mit realem Leben füllen wollen, zeigte exemplarisch ein Gastspiel aus Bern. "Final Showdown" ist ein Stück ohne Worte. Zwei Schauspieler stellen zu Computergeräuschen Filmszenen nach, bekämpfen und verfolgen einander wie Fleisch gewordene Figuren aus Ego-Shooter-Spielen. Jenseits des Klassiker-Repertoires der Staatstheater hat Theater offenbar eine große Zukunft. Denn die auf der Bühne, sie leben. In echt.