Russische NGOs und das Agenten-Gesetz

Der Staat und die "Frauen vom Don"

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Walentina Tscherewatenko - sie leitet die "Frauen vom Don" © Gesine Dornblüth
Von Gesine Dornblüth · 03.04.2017
Die "Frauen vom Don" ist eine der ältesten zivilgesellschaftlichen Organisationen Russlands. Sie berät Menschen mit sozialen Problemen: Gewalt, Drogen, Schulden. Jetzt wurde die NGO ins Register "ausländischer Agenten“ eingetragen: Seitdem ist ihre Arbeit erschwert.
Es ist Samstagmorgen, und Walentina Tscherewatenko ist gerade ins Büro gekommen. Sie leitet die "Frauen vom Don", eine Bürgerrechtsorganisation im südrussischen Nowotscherkassk.
Samstags ist Bürgersprechstunde. Die erste Klientin ist bereits da – und bekommt erstmal eine Tasse Kaffee. Olga Plasulja war drei Stunden mit dem Bus unterwegs.
"Meine Schwester lebt in der Ukraine. Die hat mir gezeigt, was entspannt: Du musst in den Himmel gucken."
Sie lehnt den Kopf in den Nacken. Olga Plasulja trägt eine rosa Strickmütze mit einer Filzblume, ein Wollkleid. Sie war Melkerin, ist in Rente. Ihre Tochter sitzt im Gefängnis. Sie kümmert sich um die Enkel. Nun will die Vormundschaftsstelle die Kinder ins Heim stecken.
"Haben mir zacepka gemacht ..."
Olga Pljasulja holt einen handgeschriebenen Zettel mit Unterschriften hervor. Die Dorfbewohner bezeugen, dass sie sich gut um die Kinder kümmert, sie seien sauber und gut gekleidet. Auch der Priester unterstützt sie, er hat ihr Geld für die Busfahrkarte nach Nowotscherkassk gegeben.
"Bekannte haben gesagt: Wende dich an Walentina Tscherewatenko. An die Frauen vom Don. Sie haben gute Anwälte. Und sie helfen. Immer. Sie sind unabhängig. Bei mir im Bezirk hat mir niemand geholfen. Ich habe an die Kinderbeauftragte des russischen Präsidenten geschrieben. Damit die Behörden uns in Ruhe lassen und ich meine Enkel in Ruhe großziehen kann. Bisher habe ich keine Antwort. Ich habe meine Telefonnummer mit nach Moskau geschickt. Vielleicht rufen sie mich ja an. Aber meine letzte Hoffnung liegt auf den Frauen vom Don. Über die sagen die Leute nur Gutes. Ich glaube an sie."

Von der Heinrich-Böll-Stiftung unterstützt

Was die Leute sagen, ist das eine. Was der Staat sagt, das andere. Das Justizministerium hat die "Frauen vom Don" in das Register sogenannter "ausländischer Agenten" eingetragen. Ein entsprechendes Gesetz trat 2012 in Kraft. Es gilt für Organisationen, die a) Geld aus dem Ausland bekommen und die b) politisch tätig sind. Die "Frauen vom Don" werden unter anderem von der deutschen Heinrich-Böll-Stiftung unterstützt. Als "ausländische Agenten" müssen sie nun sämtliche Publikationen mit einem entsprechenden Zusatz versehen.
Valentina: "Setzen Sie sich noch eine Weile hin, Olga Vasiljevna, okay? Ein bisschen ... Sie kommt gleich ..."
Die 61-jährige Walentina Tscherewatenko hat lange als Elektroingenieurin gearbeitet, Anfang der 1990er-Jahre machte sie ein Zweitstudium in Sozialarbeit und gründete 1993 die "Frauen vom Don". Hinter dem Schreibtisch hängt ein Kalender aus dem Jahr 2013. Er dokumentiert die Arbeit der "Frauen vom Don" in zwei Jahrzehnten: Anti-Gewalt-Seminare, Versöhnungsprojekte im Nordkaukasus, Schulungen für Frauen.
Die Organisation hat gegen den Eintrag in das Agentenregister geklagt. Sie seien nicht politisch tätig, betont Tscherewatenko, erfüllten folglich ein zwingendes Kriterium für "ausländische Agenten" nicht. Sie haben in allen Instanzen verloren.
"Selbst wenn du dich für so etwas wie Müllentsorgung einsetzt, heißt das: Du zeigst unseren Feinden unsere schwachen Seiten. Also bist du politisch tätig."
Tscherewatenko hofft auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Sie ist überzeugt: Der Agentenstatus ist nicht nur falsch, sondern auch schädlich, denn er stigmatisiere die betroffenen Organisationen. Sie bekommt das täglich zu spüren.
"Anfangs war es besonders schwer. Ich bekam Anrufe, die Leute haben ins Telefon geschrien: Deine Hände sind voller Blut, deine Chefs töten unsere Leute im Donbass, also auch du. Und es gab Leute aus der NGO-Szene, die haben gesagt, wir kommen nicht mehr in euer Büro, weil dort Agenten sitzen. Es ist nicht einfach, das auszuhalten. Leute, die in Not sind, kommen weiter zu uns. Leute, die die Nähe zur Macht suchen, müssen sich von uns distanzieren."
Seit die "Frauen vom Don" als ausländische Agenten gelten, scheuen insbesondere Behördenvertreter den Kontakt mit ihnen. Ohne die staatlichen Stellen könnten sie Menschen in Not aber nicht helfen, erläutert Tscherewatenko.
"Wir schreiben ja nicht nur einen Antrag und vergessen ihn dann. Wir wollen Probleme lösen. Aber mir scheint manchmal, es hat gar keinen Sinn, sich an die Behörden zu wenden, weil die Leute dort Angst haben, dass sie für die Zusammenarbeit mit uns entlassen werden oder dass andere unschöne Dinge passieren."
Als "ausländische Agenten" haben die "Frauen vom Don" außerdem Probleme, Projektgelder zu bekommen.
"Wir haben letztes Jahr an allen russischen Ausschreibungen teilgenommen. Früher haben wir Geld bekommen, wenig zwar und selten, aber es kam. Zum Beispiel für unsere Sprechstunde."

Kein Geld für Honorare

Jetzt ist kein Geld für Honorare da. Die Juristen arbeiten ehrenamtlich. Gegen Walentina Tscherewatenko wurde sogar ein Strafverfahren im Zusammenhang mit dem Agentengesetz eröffnet. Sie soll die "Frauen vom Don" mutwillig nicht in das Agenten-Register eingetragen haben. Absurd, sagt sie.
"Solche Entscheidungen trifft bei uns die Mitgliederversammlung. Ich setze die Entscheidungen nur um. Die Mitgliederversammlung hat beschlossen, die Organisation nicht ins Agentenregister einzutragen. Nicht ich persönlich."
Ihr drohen bis zu zwei Jahre Haft. Eine alte Frau schaut zur Tür herein. Walentina Tscherewatenko bittet sie, sich einen Moment zu gedulden.
"Sie hat Streit mit ihrem Neffen. Sie hat ihm vor einiger Zeit ihre Wohnung überschrieben, er hat sie verkauft und dafür ein Haus gekauft. Er hat sie zwar zu sich in das Haus genommen, aber fern von ihrer gewohnten Umgebung, in der sie viele Jahre gelebt hat, und sie fühlt sich sehr schlecht. Deshalb gibt es einen riesigen Konflikt in der Familie. Die Oma kommt jeden Samstag zu uns, weint, und wir geben ihr Baldriantropfen und alle möglichen anderen Beruhigungsmittel. Wir reden auch mit dem Neffen und seiner Frau."
Das persönliche Strafverfahren gegen Walentina Tscherewatenko wegen des Agenten-Registers ist das erste dieser Art in Russland. Tscherewatenko glaubt zu wissen, weshalb es ausgerechnet sie traf.
"Das Strafverfahren gegen mich wurde nach der Sache mit Nadjeschda Sawtschenko eingeleitet. Ihr Name wird zwar nirgendwo erwähnt. Aber die Sache wurde so aufgeblasen, da gab es hinterher kein Zurück mehr."
Najdeschda Sawtschenko ist die ukrainische Kampfpilotin, die in Russland zu 22 Jahren Haft verurteilt wurde. Der Prozess fand in Rostow am Don statt. Sawtschenko war zeitweilig im Hungerstreik. Walentina Tscherewatenko hat sie deshalb in der Haft besucht, zufällig am Internationalen Frauentag.
"Am 8. März hat meine Mutter Geburtstag. Ich wollte zu ihr und war dabei, Blumen zu kaufen. Dann fiel mir ein: Ich fahre ja nicht sofort zu meiner Mutter, sondern erst ins Untersuchungsgefängnis. Und deshalb habe ich auch für Nadjeschda Sawtschenko Tulpen gekauft. Eine Journalistin hat mich damit gesehen und ein Foto im Internet veröffentlicht. Danach liefen die Leute Sturm gegen mich. Es hieß, das seien Blumen für eine Mörderin. Es hieß, ich sei eine Volksverräterin."

Dickes Fell angewöhnt

Sawtschenko hat ihren Hungerstreik nach dem Besuch abgebrochen. Darauf sei sie stolz, sagt Tscherewatenko. Sie hat sich über die Jahre ein dickes Fell angewöhnt. Denn einfach war es für die "Frauen vom Don" schon lange vor dem NGO-Agenten-Gesetz nicht.
Rückblende: Das Jahr 2008. Die Frauen vom Don haben ihr Büro zu diesem Zeitpunkt in einem leerstehenden Kindergarten in Nowotscherkassk. Walentina Tscherewatenko ist bereits da die Chefin. Drei Aktivistinnen aus einer Nachbarstadt sind da. Sie trinken heißen Tee, essen Butterbrote.
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Das Büro der "Frauen vom Don" in Nowotscherkassk© Gesine Dornblüth
Walja Kowalenko ist eine der drei Aktivistinnen und leitet die Initiative "Mütter ohne Drogen” in der Stadt Schachty. Sie hat ihr Leben lang als Köchin gearbeitet, in einer staatlichen Großküche. Sie begann, sich zu engagieren, als sie von der Drogenabhängigkeit ihres Sohnes erfuhr. Das war in den '90er-Jahren. Drogen waren damals noch ein Tabuthema. Sie schrieb ein Flugblatt. Ein Exemplar hat sie all die Jahre aufgehoben.
"Ich lese Ihnen das vor: 'Junkie, halt ein! Eltern! Großväter! Großmütter! Tanten! Onkel! Neue Russen! Beamte! Schwestern! Brüder! Wir gründen ein Hilfskomitee für unsere drogenkranken Kinder.' Und hier steht die Telefonnummer. Das haben wir an jedem Laternenpfahl aufgehängt."
In Schachty schlossen sich 400 Mütter zusammen. Sie brachten die Polizei gegen sich auf. Denn Polizisten verdienten am Drogenhandel mit.
"Die Polizisten haben Angst gehabt vor uns Müttern. Mehr noch: Sie haben uns gehasst!"
Mit Hilfe Walentina Tscherewatenkos und der "Frauen vom Don” gelang es den Müttern, Journalisten aus Moskau nach Schachty zu holen. Das Fernsehen berichtete. Die Situation besserte sich. Walja Kowalenko kümmert sich im Jahr 2008 um die Mütter der Drogentoten. Denn viele von ihnen sind mittellos und allein. Und sie stellt fest:
"Leute wie uns braucht zurzeit niemand. Wir werden nicht finanziert, und niemand hilft uns. Weil wir die Wahrheit sagen. Und die Wahrheit gefällt niemandem."
Auch dem Bürgermeister von Nowotscherkassk nicht. Die Stadtverwaltung droht den "Frauen vom Don" wiederholt, den Mietvertrag nicht zu verlängern. Walentina Tscherewatenko vermutet zu diesem Zeitpunkt persönliche Motive. Sie war zeitweilig Abgeordnete im Stadtrat von Nowotscherkassk und geriet damals mit dem Bürgermeister aneinander.

"Es liegt an der Popularität unserer Organisation"

"Es liegt an der Popularität unserer Organisation und an mir persönlich. Ich hatte nie große politische Ambitionen. Aber trotzdem ist das ein großes Problem. Und dann habe ich als Abgeordnete immer gedacht, ich darf die dunklen Seiten in unserem Leben nicht aussparen. Wo keine Lampe hängt, muss eine hin. Und da sind unsere Ansichten über das Leben in der Stadt auseinandergegangen."
Ein Jahr später, 2009, gewinnen die "Frauen vom Don" den Preis einer US-amerikanischen Stiftung, kaufen von dem Geld ein Haus und ziehen um. Eine weitsichtige Entscheidung, deren Wert im Nachhinein immer größer wird. Bei allen Schwierigkeiten, die sich insbesondere im Zuge des Agentengesetzes ergeben, haben sie nun wenigstens ein unkündbares Büro. Sie hätte nicht gedacht, dass es einmal so weit kommen werde wie im Jahr 2017, sagt Walentina Tscherewatenko heute:
"Niemals. Aber ich glaube, ich weiß, weshalb es so weit gekommen ist. Wir haben viele Jahre im Kaukasus und viel in Konfliktgebieten gearbeitet. Wir wissen, was dort vor sich geht. Wir setzen uns für Dialog ein, stellen Kontakte her. Dann passierte das mit der Ukraine. Hier im Gebiet Rostow gibt es fast keine Menschenrechtsorganisationen mehr, die ihre Meinung dazu offen sagen. Daher wurden die Frauen vom Don einfach zu sichtbar."
Russlands völkerrechtswidrige Annexion der ukrainischen Krim auch so zu nennen, ist in Russland strafbar. Walentina Tscherewatenko geht so weit wie möglich.
"Ich sage zur Ukraine nur dies: Wir werden uns alle dafür verantworten müssen. Jeder von uns. Wir sind Bürger dieses Landes und dienen ihm. Daran besteht für mich kein Zweifel. Ich bin nicht bereit, in einem schmutzigen Haus das Licht zu löschen und zu sagen, dass alles sauber ist. Das nämlich wäre wirklich Verrat."
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