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Colin Crouch: "Die bezifferte Welt"
Von Demokratieverlust und Wissensentzug

Der Neoliberalismus ist der Feind des Wissens - so die zentrale These im neuen Werk des Soziologen Colin Crouch. Denn jahrelange Erfahrung von Fachkräften sei immer weniger gefragt in einer Welt, die von einfachen Zahlen beherrscht würde. Und zudem manipulierten Privatunternehmen Wissen nach Belieben zum eigenen Vorteil.

Von Andreas Kolbe | 07.09.2015
    Der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch, aufgenommen 2013 im Studio von Deutschlandradio Kultur
    Der Soziologe Colin Crouch. Für ihn ist der Neoliberalismus der Feind des Wissens. (Deutschlandradio / Bettina Straub )
    Dass etwas schief läuft im Öffentlichen Dienst Großbritanniens, daran lässt Colin Crouch von der ersten Zeile seines Buches an keinen Zweifel. Ob im Gesundheitswesen, an den Schulen oder in der öffentlichen Verwaltung: Das sogenannte New Public Management, der Einzug marktwirtschaftlicher Methoden und Strukturen in den öffentlichen Dienst, habe an vielen Stellen zu absurden Entwicklungen geführt. Zum Beispiel bei der Polizei:
    "Die Politik gab der englischen Polizei Erfolgsquoten für die Aufklärung von Autodiebstählen und Einbruchsdelikten vor, weil Untersuchungen gezeigt hatten, dass das subjektive Sicherheitsempfinden der Bürger vor allem durch diese Straftaten beeinträchtigt wurde – weshalb ein Rückgang in diesem Bereich dem Versprechen wirksamer Kriminalitätsbekämpfung besondere Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft verliehen hätte. Nicht zuletzt diese Vorgabe führte jedoch dazu, dass die Polizeibehörden in mehreren englischen Städten den organisierten sexuellen Missbrauch von Kindern ignorierten, da diese Verbrechen für ihre Leistungskennziffern nur eine untergeordnete Rolle spielten."
    Colin Crouch nennt es die Logik der Finanzmärkte: so viele Lebensbereiche wie möglich unter marktwirtschaftlichen Aspekten zu betrachten und sie damit letztlich auf Kennziffern oder Geldwerte zu reduzieren. Das sei die zentrale Losung neoliberaler Politik, die Crouch zufolge derzeit weltweit immer mehr an Anhängern und Einfluss gewinnt.
    Ärzte, die deutlich zu oft Demenz diagnostizieren, weil sie dafür eine Prämie erhalten
    Grundsätzlich sei der Ansatz nicht verkehrt, gesteht der Autor ein: wenn etwa die Eltern schulpflichtiger Kinder oder behandlungsbedürftige Patienten anhand von Vergleichswerten und Rankings die Angebote öffentlicher Schulen oder Kliniken vergleichen könnten. Statt von staatlichen Stellen einen Platz zugewiesen zu bekommen, könnten sie selbst entscheiden. Und die Anbieter würden gezwungen, Leistungen und Effizienz zu verbessern.
    "Allerdings hat das Arrangement auch seine Schattenseiten. So kann immer nur eine Auswahl von Parametern in die Leistungsmessung einbezogen werden, da sonst die Datenmenge zu groß würde und der Konsument überfordert wäre. [Daraus] ergeben sich zwei Nachteile. Erstens wären es letzten Endes eben doch wieder Minister, Behördenleiter und ihre Berater, die bestimmten, was ein rankingrelevanter Leistungsparameter ist und was nicht. [ ... ] Ein zweites Problem [ ... ] liegt darin, dass [ ... ] einer kleinen Anzahl – zumeist politisch relevant erscheinender – Aspekte einer Dienstleistung eine überragende Bedeutung beigemessen wird, während andere zwangsläufig in den Hintergrund treten. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wird dadurch die tatsächliche Qualität der jeweiligen Dienstleistung ebenso verzerrt wie ihre Bedeutung für den Klienten."
    Beispiele für solche Fehlentwicklungen hat Crouch reichlich zusammengetragen. Ärzte, die deutlich zu oft Demenz diagnostizieren, weil sie dafür eine Honorar-Prämie erhalten. Eigentlich sollte das Programm dazu beitragen, Demenzerkrankungen früher zu erkennen. Oder Universitäten, die ihr Lehrangebot auf Fächer konzentrieren, die den Absolventen ein hohes Einkommen versprechen. Gute Berufsaussichten waren eine der entscheidenden Kennziffern im Uni-Ranking geworden. Erkenntnisgewinn, zivilisatorischer und kultureller Fortschritt spielten darin keine Rolle mehr.
    Es sind vor allem Beispiele aus Crouchs Heimatland Großbritannien, das eine Vorreiterrolle in Sachen Neoliberalismus eingenommen habe. Detailliert geht er auf das englische Schulsystem ein – auch weil seine Frau jahrelang in diesem Bereich gearbeitet hat. Sie habe auch große Teile des Materials für das Buch zusammengetragen, wie der Autor in der Danksagung offen zugibt.
    Doch im Kern geht es nicht um die vielen Beispiele, die das Problem mal unterhaltsam, mal aber auch schockierend illustrieren. Es geht um das System dahinter. Der Neoliberalismus – so die zentrale These – sei der Feind des Wissens. Zum einen, weil Fachwissen und jahrelange Erfahrung von Fachkräften immer weniger gefragt seien, in einer Welt, die von einfachen Zahlen und Kenngrößen beherrscht wird. Zum anderen, weil durch die Ökonomisierung vieler Lebensbereiche mächtige Privatunternehmen entstünden, die Informationen und Wissen nach Belieben zu ihrem eigenen Vorteil manipulierten oder ganz zurückhielten.
    Scheindemokratie als Showveranstaltung zur Beruhigung der Massen
    "Unter dieser Machtfülle hat in besonderem Maße das demokratische Gemeinwesen zu leiden, denn zuverlässige Informationen sind sein Lebenselixier. Sobald die Inhaber großer Einflusssphären über die Macht verfügen, Informationen zu unterschlagen oder die Öffentlichkeit mit einseitigen, irreführenden oder sonstwie manipulierten Informationen zu versorgen, wird das betroffene Gemeinwesen zur Geisel ihrer Eigeninteressen."
    Hier knüpft Crouch an seine früheren Überlegungen zur Postdemokratie an, wonach große Teile der Gesellschaft verdummen, während einige Wenige an den Schalthebeln der Macht sitzen und zur Beruhigung der Massen eine Scheindemokratie als Showveranstaltung inszenieren.
    "Unsere Epoche ist nicht die erste in der menschlichen Geschichte, in der die einfachen Leute von den Großen und Mächtigen von Grund auf betrogen werden; vielmehr ist dies immer eine der Konstanten menschlicher Gesellung gewesen. Die hier aufgeworfenen Probleme sind nicht deshalb drängend, weil sie irgendwie neuartig oder von ungewöhnlichem Format wären, sondern weil sie in einer Zeit, die in punkto Transparenz und Verantwortung hohen Anforderungen zu genügen für sich in Anspruch nimmt, ganz bestimmte katastrophale Folgen haben können. [ ... ] Unsere Abhängigkeit vom Wissen verwandelt sich auf diese Weise schleichend in eine Abhängigkeit von solchen Vertretern privater Interessen, deren Verhalten sich lediglich in dem Maße an Moral und Ethik orientiert, in dem sie vom Markt dazu gezwungen werden – oder eben nicht."
    Beeindruckend ist, wie klar, strukturiert und sortiert der Autor seine Überlegungen darlegt. Gleich zu Beginn skizziert er These, Argumentation und Aufbau des Buches, so dass sich der Leser jederzeit in dem durchaus komplexen Gedankenkonstrukt Crouchs zurechtfindet.
    Etwas unglücklich – und womöglich abschreckend – ist der vom Verlag gewählte deutsche Titel des Buches: "Die bezifferte Welt – Wie die Logik der Finanzmärkte unser Wissen bedroht". Dass es vor allem um den öffentlichen Sektor geht und nicht nur unser Wissen gefährdet ist, sondern auch die Demokratie, geht daraus leider nicht hervor. Der englische Originaltitel "The Knowledge Corrupters. The Financial Takeover of Public Life" passt da besser.
    Und noch eine Einschränkung: Wie bei so vielen politischen Debattenbeiträgen zeigt Crouch zwar Fehlentwicklungen auf und stellt entscheidende Fragen. Fertige Lösungen für die aufgeworfenen Probleme liefert er allerdings nicht mit. Hier bleibt er auch auf Nachfrage im Ungefähren.
    "Ich glaube, wir müssen verloren gegangenes Vertrauen zurückgewinnen. Das heißt im Öffentlichen Dienst vor allem eine intensivere Kommunikation zwischen Fachleuten und Bürgern, ein besserer Austausch von Informationen und Wissen. Es gibt gute Ansätze im Gesundheitswesen und in Schulen, wo das klappt. Kennziffern zu verwenden anstelle von Vertrauen, führt uns eher davon weg. Dann werden nur sehr begrenzt Informationen ausgetauscht. Wir müssen also das Vertrauen zurückgewinnen durch bessere Kommunikation."
    Colin Crouch: "Die bezifferte Welt – Wie die Logik der Finanzmärkte unser Wissen bedroht"
    Aus dem Englischen von Frank Jakubzik
    Suhrkamp, 250 Seiten, 21,95 Euro
    ISBN 978-3-518-42505-3