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Comeback für die Großmütter des Punk

Ende der 60er-Jahre beschloss ein Vater, seine drei Töchter zu Stars zu machen. Er gründete mit ihnen die Band "The Shaggs". Bald galten sie als schlechteste Band der Welt - und erreichten mit ihrem Schrammelrock Kultstatus. Nun kehrt die letzte verbliebene Schwester auf die Bühne zurück.

Von Jürgen Kalwa | 05.10.2013
    Es ist Nachmittag in Brooklyn. In einem dieser alten Reihenhäuser unweit der ehemaligen Hafenanlagen, wo man laut Musik machen kann, ohne die Nachbarn zu stören. In einem Wohnzimmer, das zu einem Studio umfunktioniert wurde - vollgestopft mit Instrumenten, Mikrofonständern, Technik und Leuten - wird ein neues Lied aufgenommen. "Another Crazy Day on the Farm”.

    Die Sängerin, eine Hausfrau Mitte 60, ist aus New Hampshire angereist. Die Stimmung ist gut. Auch wenn sie sich mit ihrem Part etwas schwer tut. Sie kennt den Text, aber die Melodie kommt mit Haken und Ösen daher.

    "Ich schreibe die Texte, Jesse die Musik, darauf hab ich nämlich keine Lust mehr."

    Jesse Krakow - Avantgarde-Rocker, Bassist, Komponist und Cheforganisator der Begleitband, ist geduldig und sanft.

    "Er sagt, es sei meine Band, ich finde, ich bin nur die Sängerin. Aber wir kommen klar."

    Sie - das ist Dot Wiggin. Und Jesse Krakow ist einer ihrer größten Fans. Was schwer nachzuvollziehen ist, wenn man hört, worauf diese Faszination beruht.

    Der Traum des Vaters
    "Philosophy of the World” ist der Titelsong des gleichnamigen Albums, erschienen 1969. Geschrieben von Dot Wiggin, eingespielt mit ihren Schwestern Helen und Betty und bekannt geworden in der Kategorie "schlechteste Band aller Zeiten”. Der Name der Gruppe: The Shaggs.

    Sie waren damals - Ende der sechziger Jahre - drei junge Mädchen in der Provinz, getrieben von den Ambitionen ihres Vaters Austin, einem armen Fabrikarbeiter, der das Geld zusammenkratzte, weil er davon träumte, dass seine Töchter im Fernsehen auftreten und berühmt werden.

    "Es war der Traum meines Vaters, er wollte uns in der Ed Sullivan Show sehen. Deswegen zahlte er unseren Musikunterricht und kaufte Instrumente. Letztendlich haben wir es also für ihn getan."

    Austin Wiggin bezahlte - für die Studiozeit und die Langspielplatten, auf denen dieses kalte akustische Nebularium verewigt wurde. Es störte ihn nicht, dass nichts passte. Nicht die Melodie zur Begleitung auf schlecht gestimmten elektrischen Gitarren. Und nicht das Tempo der Schlagzeugerin - Dots Schwester Helen, die trommelte, als wäre sie ganz woanders. Stattdessen schrieb er auf die Albumhülle im Begleittext: "Man mag die Musik lieben oder hassen, aber egal welches Gefühl, man weiß, dass man Künstlern zuhört, die echt sind.” Das Publikum war allerdings echt nicht begeistert:

    ""Wir sind bei einem Talentwettbewerb aufgetreten und wurden mit Cola-Dosen beworfen und ausgebuht. Da wussten wir, dass sie uns nicht mögen.”"

    Besser als die Beatles
    Manche fanden die Shaggs aber irgendwie genial. Respekt vor dem Dilettantismus als Haltung, wie er in anderen Strömungen der Rockmusik im Laufe der Jahre immer wieder aufkeimte. Sei es im psychodelischen Rock. Oder im Berlin der Achtzigerjahre. Das Motto: "Richtig schlecht ist schon wieder richtig gut”. Frank Zappa erklärte die Shaggs für "besser als die Beatles”. Und der exaltierte New Yorker Musikjournalist Lester Bangs pries das Album bei der Wiederveröffentlichung Anfang der Achtzigerjahre in der New Yorker "Village Voice” und im deutschen "Playboy” als Meisterwerk. "Gott segne die Shaggs”, schrieb er.

    Diese Begeisterung lebt im Abstand von ein oder zwei Jahrzehnten immer wieder auf. 1999 war es zum Beispiel wieder so weit, als das wichtige Kulturmagazin "New Yorker” das Thema entdeckte und niemand anderer als Tom Cruise die Rechte an dem Artikel für eine Kinoversion kaufte.

    Aus dem Plan wurde zwar nichts. Jahre vergingen. Und so arbeitet sich nun eine neue Generation an dem Thema ab. Zum Beispiel in Form eines Musicals, das 2011 aufgeführt wurde. Ein Drahtseilakt war das, sagt die Autorin Joy Gregory, die den Stoff einer naiven, von der Welt abgeschirmten und vom Vater dominierten Girlgroup faszinierend fand:

    ""Im Innern der Figuren existiert durchaus konventionelle Musik. Aber in dem seltsamen Kraftfeld, in dem sie leben, kommt das anders heraus. Um das hinzubekommen, haben wir der Schlagzeugerin gesagt: Hör auf niemanden. Spiel dein eigenes Ding.”"

    Kultstatus - was ist das?
    Aus dem Off-Broadway-Musical soll nun - ohne Cruise - doch noch ein Film werden. Gespeist von jener unbeschreibbaren Verzückung, die vor allem verkopfte Musiker bei den scheppernden Klängen der Shaggs empfinden. Die Menschen, die mit Dot Wiggin an ihrem Comeback arbeiten, haben einen griffigen Slogan gefunden: Die Shaggs: die "Großmütter des Punk”.

    Das Comeback läuft unter dem Namen Dot Wiggin Band. Schlagzeugerin Laura Cromwell:

    ""Normale Rockmusik kann dich nicht auf dieses Level bringen, wo dein Kopf zu explodieren droht und du dich fragst: Was ist das? Wo die Musik etwas mit dir macht, was du nicht kennst. Das kann einen durcheinanderbringen. Aber auch befreien. Es kommt darauf an, wie du zuhörst.”"

    Ein Gespräch mit Dot macht rasch klar, dass solche Gedanken für sie eher böhmische Dörfer sind. Sie sieht ihre Musik und ihre Hinterlassenschaft in einfachen Dimensionen. Und ohne jede Selbstironie. Helen, die Schlagzeugerin, ist vor ein paar Jahren gestorben. Auch der Vater Austin ist schon lange tot. Und so ist sie diejenige, die die Erinnerung wachhält.

    ""Ich trete für die Fans auf. Es heißt, wir hätten Kultstatus. Vor 2000 hatten wir wirklich keine Ahnung, was das ist.”"