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"Constellations" in Hamburg
Ein Stück zum Schwindligwerden

Die deutschsprachige Erstaufführung von Nick Paynes "Constellations" - inszeniert von Wilfried Minks am St. Pauli-Theater in Hamburg - ist ein Stück zum Schwindligwerden - schon für das Publikum; erst recht aber für Judith Rosmair und Johann von Bülow, die in rasendem Tempo Spielweisen und Haltungen wechseln müssen.

Von Michael Laages | 25.11.2014
    Gott, oder wenigstens Venus, würfelt halt doch – und setzt zum Beispiel eine Quantenphysikerin und einen Imker aufeinander an. Sie lernen einander beim Barbecue kennen, und außer Plattitüden haben sie zunächst nicht viel zu sagen; zumal sie vorzugsweise in Theorien grübelt – Relativität hie, Quanten da.
    "Wir habe da also diese beiden Theorien, die sich fundamental widersprechen, " führt sie aus, und da schwirrt ihm schon der Kopf. Und weiter: "Die Relativitätstheorie umfasst die Sonne, den Mond, die Sterne – und die Quantenmechanik kümmert sich um Moleküle, Quarks, Atome ... sowas eben. Wir haben sozusagen die gleiche Frage zweimal gestellt und zwei völlig unterschiedliche Antworten bekommen." "Na das ist ja richtig sexy!"
    Er, der Imker, denkt halt eher an "das eine", eben an die Sache mit den Bienen und den Blumen ... Nick Paynes Stück lässt ihn (wie patent auch immer er die Sache mit dem Öko-Honig betreibt) eine ganze Weile vor allem staunen über die junge Frau aus dem Physik-Institut an der Uni; und deren strukturelles Denken aber überträgt der Autor nun auf das Stück:
    "Im Quanten-Multiversum existiert jede Wahl; jede Entscheidung, die Du getroffen hast (oder auch nicht), in einem unvorstellbar riesigen Ensemble von Parallel-Universen."
    "Alles?"
    "Alles!"
    Alles ist möglich, auch bei Payne – durch ziemlich viele mögliche "Parallel-Universen" treibt er Szene um Szene, jede für sich. Etwa, wenn er, der Imker, der Physikerin später den lang erwarteten Heiratsantrag macht – erst hat er ihn sich vorsichtshalber aufgeschrieben, dann (zweite Variante) hat er den Zettel zu Hause vergessen, und schließlich kommt er (drittens) im freien Vortrag nicht wirklich voran und auf den Punkt - und klagt, dass er sich das alles doch bloß hätte aufschreiben sollen.
    Ende offen
    So geht das ununterbrochen. Schon der Beginn (das Kennenlernen beim Barbecue) beinhaltet auch die Option, dass er und sie einander ganz und gar uninteressant finden könnten – um aber die Story selber in Gang zu halten, kommen sie dann doch zueinander. Natürlich mit sehr unterschiedlichen Strategien und Geschwindigkeiten. Sie verlieren einander wieder, denn in ihr rumort etwas Unausgesprochenes, eine Unruhe, vielleicht eine Krankheit. Ihre Mutter ist schon sehr lange sehr krank. Von Sterbehilfe ist die Rede, ganz kurz. Vom Aufhören.
    Dann aber, noch so ein Zufall wie zu Beginn, führt ein Tanzkurs die beiden wieder zusammen, und jetzt richtig, Ehe-Option inklusive. Zugleich aber erweisen sich die Wortfindungsschwierigkeiten, unter denen sie von Beginn an litt, als Zeichen eines Tumors im Kopf: Nur noch ein Jahr hat sie - mit oder ohne Operation. Jetzt denkt sie daran, selber den Schlusspunkt zu setzen. Ende offen. Logisch – im Multiversum der Möglichkeiten.
    Ein Stück zum Schwindligwerden ist das - schon für uns, das Publikum; erst recht aber für Judith Rosmair und Johann von Bülow, die in rasendem Tempo Spielweisen und Haltungen wechseln müssen, von Augenblick zu Augenblick, von Parallel- zu Parallel-Universum. Und schließlich muss die Inszenierung diesem Abenteuer ja gewachsen sein.
    Nun ist in Hamburg die sichere Hand des Regisseurs Wilfried Minks zu bestaunen – der letzte Zeuge des großen Theater-Auf- und -Umbruchs der 60er-Jahre, an Peter Zadeks Seite, ist 84 geworden in diesem Jahr. Und hellwach bleibt er den filmschnittschnellen Perspektivwechseln in Paynes Versuchsanordnung auf der Spur. Für das Spiel des Paares ist, ganz sparsam, ein Klappsofa reserviert; dahinter aber läuft eine Art mathematisch-physikalisches, vor allem aber bühnenhohes Rad sehr langsam von rechts nach links - eine wissenschaftliche Figur, ein Signet des Stücks wie der Welt, abstrakt und beunruhigend.
    Der Erfolg für Payne ist absehbar – das Deutsche Theater in Berlin folgt im Januar diesem Hamburger Start, und weitere Auseinandersetzungen mit diesen "Constellations" werden sich allemal lohnen. Minks am Beginn aber war das Beste, was Stück und Autor passieren konnte.