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Copy-and-Paste-Kultur

Ob in Klassenzimmern, in Redaktionsräumen, in Denkfabriken oder Literatenstuben - überall wird voneinander abgeschrieben und das Erschlichene als Selbsterdachtes verkauft. Der Fall Guttenberg ist nur die Spitze des Eisbergs - das geistige Eigentum als Gut ein flüchtiges Reh.

Von Hajo Steinert | 01.03.2011
    Schamlos kupfern Autobauer die Form von Kotflügeln der Konkurrenzfirma ab. Der neue deutsche Salzstreuer sieht dem des italienischen Top-Designers zum Verwechseln ähnlich. Die literaturwissenschaftlich gestählte Kästner-Gedichtinterpretation des Zehntklässlers stammt wortwörtlich aus dem Internet.

    Die junge Dichterin - wie hieß sie noch gleich - hat in ihrem Bestseller mit dem hässlichen Wort "Roadkill" im Titel treffsicher von einem eifrigen Blogger abgeschrieben. Mein schönstes Bild des Leipziger Avantgardisten ist handsigniert. Aber hat es der Mann wirklich selbst gemalt? Und haben Sie es gesehen, das Kleid der schönen Oscar-Preisträgerin gestern? Sieht es dem der Siegerin des Vorjahres nicht verblüffend ähnlich? – Nichts wie ran an die Schlaggitarre! Freunde historischer Rockmusik halten sich noch heute bei Jim Morrisons "Hello, I Love You" die Ohren zu, ist doch die Melodie total von den Kinks geklaut: "All day and all of the night".
    Ja, jeden Tag und jede Nacht wird rund um den ganzen Erdball abgeguckt, nachgebaut, abgeschrieben, nachgemalt, abgelauscht. Man kommt nicht mehr mit. Was für Industrie, Design, Mode, Schule, Literatur, Kunst und Musik gilt, gilt selbstredend auch für die Wissenschaften. "Die Gedanken sind frei ..." Jeder kann sie sich holen. Auch in den Wissenschaften wird eifrig abgeschrieben. Im Zeitalter des "Anything Goes" erfährt ein bildungsbürgerliches, auf das Individuelle und Originelle hinweisendes wunderbares bildungsbürgerliches Gut wie "geistiges Eigentum" immer mehr, immer dreister eine kollektivwirtschaftliche, geradezu planwirtschaftliche Interpretation.

    Für Lehrkräfte älterer Semester, die nicht wie ihre Eleven mit der Muttermilch, Monat für Monat, Jahr für Jahr mit dem neuesten Schrei aus der Computerindustrie angefeuert werden, ist dieser rasende Trend kaum noch überprüfbar. Von der Seminararbeit im ersten Semester bis zur Doktorarbeit - Plagiate an allen Fronten. Das Urheberrecht – ein wackliges Ding. Google, Copy&Paste und Heerscharen von gut verdienenden Ghostwritern machen es möglich.

    Sicher, entwaffnet steht der Erwischte nun da. Den Doktortitel darf er nicht mehr tragen. Und nicht mehr die Verantwortung für Deutschlands Soldaten. Politiker aus der gegnerischen und aus der eigenen Partei, unentschiedene Worte der Kanzlerin persönlich, die resolute Unterschriftenaktion Zehntausender Wissenschaftler und am Ende auch der ob seines ursprünglichen Fehlurteils reuige Doktorvater haben zu seinem Sturz beigetragen.

    Selbst Guttenbergs treuer Stab in den Redaktionsräumen der Bildzeitung hat am Ende den Sturz seines Helden nicht verhindern können. So dumm sind die Deutschen also doch nicht, als dass sie in der Mehrzahl auf den Populismus schmierigster Art reinfallen. Von Tag zu Tag bröckelte es an der Front selbst treuester Bildzeitungsleser. Allerdings, Grund zu Erleichterung, Schadenfreude, Häme, Genugtuung und Jubel über den Rücktritt hat keiner. Es war und bleibt ein trauriges Kapitel der jüngsten Geschichte, ein Kapitel ohne Sieger.

    Der Fall Guttenberg ist nur die Spitze des Eisbergs. Die Debatte über eine Kultur der Wahrung und des Schutzes individuellen geistigen Eigentums steht aber jetzt hoffentlich auf der Tagesordnung ganz oben im Betrieb unserer Wissenschaften und darüber hinaus in unseren Firmen, Kreativwerkstätten, Schulen, Redaktionen und Universitäten. Somit hat der Fall Guttenbergs zwar nichts Gutes. Eine Mahnung steckt in ihm allemal.