Armutsrisiko Pflege

Heimbewohner müssen immer mehr selbst bezahlen

07:19 Minuten
Ein Rollator auf einem Flur. Im Hintergrund eine Tür.
Auch steigende Kosten für Pflege können in Armut führen. © Imago / Photothek
Von Anke Petermann · 06.04.2020
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Die Pflege muss durch eine bessere Bezahlung aufgewertet werden, fordern viele – nicht erst seit der Coronakrise. Schon jetzt müssen Pflegebedürftige im Durchschnitt 2000 Euro aus der eigenen Tasche zahlen, wenn sie in ein Heim umziehen.
Im Februar wurde Anna Meyer klar, dass sie die Pflege ihrer zunehmend dementen Mutter Erika nicht länger schaffen würde. Die fast 90-Jährige und ihre Tochter heißen in Wirklichkeit anders. Sie möchten anonym bleiben.:
"Wir mussten uns entscheiden. Wenn ich meine Mutter weiter im gemeinsamen Haus behalten hätte, hätte ich meinen Job aufgeben müssen."
Anna Meyer suchte für ihre Mutter einen Heimplatz im Rhein-Main-Gebiet und wurde fündig: ein Zimmer mit großen Fenstern und Blick ins Grüne, frisch saniert, mit funktionaler Grundmöblierung. Aber teuer.
"770 Euro zahlt die Pflegeversicherung bei Pflegegrad II. Es bleiben 2500 Euro, die meine Mutter zahlen muss."
Ein Eigenanteil, der in Ballungsgebieten nicht ungewöhnlich ist. Der Bremer Gesundheitsökonom Heinz Rothgang erläutert am Telefon:
"Wir haben Eigenanteile für die pflegebedingten Kosten von 700 Euro. Dazu kommen die Kosten für Unterkunft und Verpflegung, für Investitionskosten, für die Ausbildungsumlage. Das heißt, wir sind im Durchschnitt bei 2000 Euro Eigenanteil insgesamt. Das überfordert die Einkommen der meisten Senioren, die in Pflegeheime gehen."

"Rente und Erspartes reichen auf Dauer nicht"

Auch die Renteneinkünfte von Erika Meyer, die als Zimmermädchen und Küchenhilfe gearbeitet hat. Und jahrelang unbezahlt als Hausfrau. Im März wurde sie ins Pflegeheim aufgenommen – mit Quarantäne in den ersten Tagen. Corona-bedingt dürfen Angehörige das Heim nicht betreten. Anna Meyer belastet das Besuchsverbot. Die Finanzierungsfrage stresst sie zusätzlich. Der Eigenanteil zehrt neben der Rente auch die Ersparnisse ihrer Mutter auf. Bis auf 5000 Euro Schonvermögen und ein Taschengeld von etwas über 100 Euro monatlich.
"Rente und Erspartes reichen auf Dauer nicht. Demnächst fehlen 700 Euro im Monat, um den Heimplatz zu bezahlen. Deshalb beantrage ich jetzt für meine Mutter ‚Hilfe zur Pflege‘ beim Sozialamt. Ich selbst habe ja weit weniger als 100.000 Euro Brutto-Einkommen, so dass ich mich finanziell nicht beteiligen muss – hoffe ich zumindest."
Nur wer mehr als 100.000 Euro pro Jahr verdient, muss für die Heimkosten der pflegebedürftigen Eltern aufkommen. Markus Mai, Präsident der Pflegekammer Rheinland-Pfalz, sagt am Telefon:
"Wir sind der Auffassung, dass die Pflegebedürftigen schon über Gebühr zur Kasse gebeten werden. Und in der Konsequenz natürlich Träger, die dann einspringen, wenn der Pflegebedürftige arm gemacht wurde, das ganze Vermögen weg ist und die Rente selbst nicht mehr ausreicht, um die Pflegeheimkosten zu übernehmen."
Am Ende müssen also die Kommunen zahlen, die als Träger "Hilfe zur Pflege" gewähren, allerdings erst nach einem komplizierten Antragsverfahren, wie Anna Meyer inzwischen weiß. Der Eigenanteil an den Heimkosten ist im vergangenen Jahr drastisch gestiegen, erklärt der Bremer Pflegeexperte Heinz Rothgang:
"…unter anderem, weil Einrichtungen zunehmend auf Tarifverträge übergehen, die vorher nicht tariflich gezahlt haben. Was sie tun müssen – wegen des Pflegenotstands. Und diese Welle wird weiter rollen."

"Wir fordern 4000 Euro Mindestlohn in der Pflege"

Nicht nur, weil die Coronakrise den Pflegenotstand verschärft. Sondern weil höhere Löhne in der Branche laut Kabinettsbeschluss künftig gesetzlich verordnet werden sollen, entweder über Tarife oder über Mindestlöhne, die angehoben und für verbindlich erklärt werden.
"Wir fordern 4000 Euro Mindest-Bruttolohn in der Pflege", sagt Markus Mai von der Pflegekammer. Das würde die Betreuungskosten im Heim erhöhen. Der Eigenanteil, den die Pflegebedürftigen zu tragen haben, würde steigen. Das will Markus Mai verhindern, ‚wir wollen die Heimbewohner nicht arm machen‘, sagt er stellvertretend für die Pflegekräfte. Deshalb müsse die Bundesregierung den Eigenanteil von den Tarifsteigerungen entkoppeln. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn will im Sommer einen Reformvorschlag präsentieren. Die Forderung von Gewerkschaften und Sozialdemokraten, eine Vollversicherung solle Pflegebedürftige komplett entlasten, lehnt der CDU-Politiker ab. An seiner Seite skizzierte der Bremer Gesundheitswissenschaftler Rothgang auf einem Bürgerdialog-Podium Anfang des Jahres folgendes Konzept.
"Meine Vorstellung ist, dass die Pflegeversicherung künftig alle notwendigen Kosten zahlt, und der Bewohner nur einen festen Sockel. Dass wir das System umkehren, vom Kopf auf die Füße stellen."

Wer soll die steigenden Pflegekosten bezahlen?

"Sockel-Spitze-Tausch" nennt Rothgang seinen Vorschlag denn auch. Bislang zahlt die Pflegekasse nur einen festen Sockelbetrag Die Heimbewohner begleichen den Rest, der in Zeiten steigender Heimkosten immer größer wird. Das will Rothgang umkehren. Wer aber trägt dann die Mehrkosten durch bessere Personalschlüssel und höhere Löhne? Alle Arbeitnehmer, über dann steigende Pflegebeiträge?
"Dass man das jetzt nicht nur den Versicherten anlasten kann, ist meines Erachtens auch klar",
…sagt Regine Schuster, Vorstandschefin der Pflegegesellschaft Rheinland-Pfalz, in der Heimträger zusammenarbeiten:
"Wir können nicht immer die Anteile der Pflegeversicherung erhöhen, sondern wir müssen im Rahmen eines steuerfinanzierten Betrages gucken, wie wir das dauerhaft sicherstellen."
Steuerzuschüsse oder eine komplette Steuerfinanzierung – das müsste noch diskutiert werden. Ebenso, wie hoch der Sockelbetrag sein sollte, den Heimbewohner zu zahlen hätten – zuzüglich zu Unterkunft und Verpflegung. 470 Euro hatte der Bremer Gesundheitsökonom Rothgang modellhaft errechnet, dieser Vorschlag steht im Raum. In diesem Jahr noch müsse ein konkretes Reformkonzept her, damit das Thema vor den Bundestagswahlen 2021 abgearbeitet werden könne, findet Markus Mai, Chef der Pflegekammer Rheinland-Pfalz.
Das würde auch Anna Meyer helfen. Sie hat für den umfangreichen Antrag auf "Hilfe zur Pflege" für ihre Mutter einen Extraordner angelegt.
"Kontoauszüge meiner Mutter muss ich kopieren, fürs vergangene Halbjahr. Sparkonten für die vergangenen zehn Jahre auflisten und belegen. Dummerweise habe ich die alten Sparbücher weggeworfen. Alle Versicherungsunterlagen meiner Mutter zusammentragen. Ihren Lebenslauf soll ich schreiben. Ich finde unglaublich, was das Sozialamt alles haben und wissen will – das ist richtig kompliziert."
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