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Coronavirus in Italien
"In der Tragödie entdecken wir einen Geist der Solidarität"

In der schwer von Corona betroffenen italienischen Provinz Bergamo gebe es positive Signale, sagte Carlo Alberto Tersalvi, medizinischer Direktor der Gesundheitsbehörde, im Dlf. Aber noch sei man nicht am Höhepunkt angelangt. Er erlebe zwar ein Gefühl der Machtlosigkeit, sehe aber auch die Großzügigkeit vieler Menschen.

Carlo Alberto Tersalvi im Gespräch mit Christoph Heinemann | 27.03.2020
Eine Mann mit Mundschutz berührt den Sarg seiner Mutter.
Die Provinz Bergamon hat viele Tote zu beklagen (AFP / Piero Cruciatti)
Obwohl sich die Ausbreitung des Coronavirus in Italien verlangsamt, spricht der medizinische Direktor der Gesundheitsbehörde der norditalienischen Provinz Bergamo, Carlo Alberto Tersalvi, im Dlf noch nicht von einer Trendwende. Zu Beginn der Coronakrise hätte man radikaler eingreifen müssen, sagte Tersalvi. Verzögerungen bei Ausgangsbeschränkungen hätten die Ausbreitung des Virus begünstigt.

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Christoph Heinemann: Kann man schon von einer Trendwende sprechen?
Carlo Alberto Tersalvi: Das ist noch etwas zu früh. Die Vorkehrungen, die von der Regierung auf nationaler und regionaler Ebene in Kraft gesetzt wurden, beginnen, in eine gewisse Richtung zu weisen. Ich würde aber noch warten, bevor ich von einer Trendwende spreche. Mit Sicherheit hat sich das Tempo der neuen positiv getesteten Kontakte verlangsamt. Und das ist ein gutes Signal. Wir dürfen nicht nachlassen. Wir sind noch nicht am Höhepunkt angelangt. Und das ist immer Grund zur Sorge.
Heinemann: Wie ist gegenwärtig die Lage in den Krankenhäusern?
Tersalvi: Sehr kritisch. Einige Patienten befinden sich in Intensivbehandlung. In der Provinz Bergamo gibt es drei öffentliche und drei private Kliniken. Sie sind alle voll, und die Plätze für die intensivmedizinische Behandlung sind am Limit. Es ist sehr anstrengend, in den Krankenhäusern die schwer erkrankten Patienten zu versorgen.
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Alle Beiträge zum Thema Coronavirus (imago / Science Photo Library)
Heinemann: Arbeiten die öffentlichen und die privaten Strukturen Hand in Hand?
Tersalvi: Ja, wir arbeiten zusammen. Als medizinischer Leiter der Gesundheitsbehörde koordiniere ich die Aktivitäten der öffentlichen und privaten Krankenhäuser. Die privaten Kliniken haben eine Vereinbarung mit dem regionalen Gesundheitswesen getroffen, durch die sie auch mit öffentlichen Mitteln in ihrer Arbeit unterstützt werden.
"Niemand konnte mit der vernichtenden Wirkung rechnen"
Heinemann: Die Ärzte müssen diejenigen auswählen, denen sie helfen. Wie arbeiten sie unter diesen Bedingungen?
Tersalvi: Das ist sehr schwierig. Viele weniger schwer erkrankte Patienten bleiben zu Hause. Um die kümmern sich die Hausärzte. Sie betreuen sehr viele der weniger schweren Fälle zu Hause. Und das hilft etwas.
Heinemann: Das Gesundheitssystem der Lombardei gilt als eines der besten, vielleicht das beste in Italien. Wieso gibt es nicht ausreichend Betten und intensivmedizinische Behandlungsmöglichkeiten?
Tersalvi: Weil sich dieses Phänomen so explosionsartig entwickelt hat, dass niemand mit einer so vernichtenden Wirkung rechnen konnte. Das lombardische Gesundheitssystem hält normalerweise 350 bis 400 intensivmedizinische Plätze vor. In diesen Tagen sind wir bei mehr als 1100. Das heißt, wir haben die intensivmedizinischen Aufnahmekapazitäten mehr als verdoppelt. Leider handelt es sich bei der italienischen Bevölkerung um eine alte Bevölkerung. Diese Lungenerkrankung trifft vor allem alte und sehr alte Menschen. Und das hat für sehr große Probleme und vor allem für viele Todesfälle gesorgt.
"Annahme, dass der internationale Austausch eine Ausbreitung des Virus begünstigt haben"
Heinemann: Wieso ist Bergamo das Epizentrum der Epidemie?
Tersalvi: Gute Frage! Das untersuchen wir noch. Die Provinz Bergamo und die Gegend des Serio Tals bilden eine hochindustrialisierte Zone, mit vielen Unternehmen, vielen, die mit China zusammenarbeiten. Es ist natürlich nur eine Annahme, dass der Großhandel und der internationale Austausch eine unterschwellige Ausbreitung des Virus begünstigt haben. Und als dies dann zum Ausbruch kam, war es schwer, es einzugrenzen.
Heinemann: Welche Fehler wurden zu Beginn der Krise gemacht?
Tersalvi: Das kann man jetzt nur schwer sagen. Wir sind noch zu sehr im Notfallmodus, als dass man dies schon vernünftig analysieren könnte. Sicherlich hätte man zu Beginn radikaler eingreifen müssen. Eine weitere Zone mit Ausgangsverboten hätte festgelegt und damit das Gebiet um Bergamo gesichert werden müssen. Diese Verzögerung hat die Ausbreitung des Virus leider begünstigt. Man versucht das jetzt, aber das ist viel schwieriger.
Heinemann: Hätten umfassende Tests genutzt?
Tersalvi: Das weiß ich nicht, darüber wird viel debattiert, und da gibt es unterschiedliche Denkschulen. Ich sage, an dem Punkt, an dem wir heute stehen, wo das Virus so verbreitet ist, ergibt es keinen Sinn, die Menschen zu testen.
"Viele Menschen haben Angst"
Heinemann: Wie leben die Menschen im Angesicht des Todes?
Tersalvi: Viele Menschen haben Angst. In den Tälern und den kleinen Dörfern der Provinz Bergamo leben viele alte Menschen, die Gefahr laufen, allein zu bleiben. Wo vielleicht der alte Mann und seine Frau erkrankt sind, und es sehr schwierig ist, ihnen zu Hilfe zu kommen. In der Provinz Bergamo haben wir 243 Kommunen. Das reicht von Bergamo mit 120.000 Einwohnern bis zu einigen sehr kleinen Dörfern in den Tälern mit weniger als 1000 Einwohnern. Deren Versorgung ist ausgesprochen schwierig. Und das sorgt für große Angst.
Heinemann: Welcher war in den letzten Tagen für Sie der bewegendste Augenblick?
Tersalvi: Es gibt so viele. Als Gesundheitsbediensteter erfahre ich die Machtlosigkeit, nicht so effizient zu sein, wie wir das gern hätten. Und andererseits erleben wir einen Geist und eine Großzügigkeit vieler Menschen auf allen Ebenen. Derjenigen im Gesundheitsdienst, aber auch von Leuten, die spenden, damit wir Maschinen oder notwendige Instrumente anschaffen können. Ich muss sagen: In der Tragödie entdecken wir einen Geist der Solidarität wieder, und der ist ein wichtiges Zeichen, mit dem wir neu anfangen können.
Heinemann: Und dann gab es die Bilder der Militärlastwagen, die die Särge abtransportierten …
Tersalvi: Das war einer der tragischsten Augenblicke. Ich musste mich an diesem Wochenende genau damit befassen, in Zusammenarbeit mit den Kommunen die Friedhöfe schließen. Für jemanden, der für die Gesundheit der Menschen arbeitet, war dies ein sehr schmerzhafter Moment.
Heinemann: In Deutschland ist die Lage noch nicht so schlimm. Was antworten Sie denjenigen, die meinen, die Schutzmaßnahmen, die Aufforderung, zu Hause zu bleiben, seien übertrieben?
Tersalvi: Nein, die sind nicht übertrieben. Wenn man täglich, wie in der Provinz Bergamo, 100 bis 120 Tote zählt, ist das nicht übertrieben. Das ist die Realität. Unser einziges Instrument ist gegenwärtig die Isolierung, so wie das in China durchgeführt wurde oder in der Kommune Codogno, der ersten Zone mit Ausgangsbeschränkungen. Dort hat sich die Lage deutlich verbessert, weil Kontakte unterbunden wurden. Italien kann anderen Nationen den Weg weisen, der sich als der effizienteste herausgestellt hat, um die Verbreitung des Virus zu begrenzen.
"Bei diesem Thema muss ein europäisches Bewusstsein wachsen"
Heinemann: Fühlen sich die Menschen in Bergamo und in Italien von der Europäischen Union ausreichend unterstützt?
Tersalvi: Es gibt das Gefühl, im Stich gelassen zu sein. Mit den jüngsten Maßnahmen hat die Europäische Union allerdings wieder von sich hören lassen, mit Maßnahmen zur Unterstützung der italienischen Wirtschaft und der Unternehmen, die Gefahr laufen, zugrunde zu gehen. In der Europäischen Union muss in solchen Situationen wahrscheinlich noch stärker zusammengearbeitet werden. Bei diesem Thema muss ein europäisches Bewusstsein wachsen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.