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Costa Blanca
Kubanische Seele in Spanien

Seit 1955 findet in Torrevieja an der Costa Brava ein ganz besonderer Sängerwettstreit statt: Beim Habaneras-Festival wird das Liedgut gepflegt, das die spanischen Seeleute einst von ihren Reisen mitbrachten. Inszwischen reisen sogar Chöre aus China oder Indonesien an. Eines der Bewertungskriterien: Die Lieder müssen in akzentfreiem Spanisch gesungen werden.

Von Katja Bülow | 15.10.2017
    Habaneras bieten abends ein Konzert am Strand.
    Habaneras bieten abends ein Konzert am Strand. (imago / Ralph Lueger)
    Fast zwanzig Jahre ist es her, dass Miguel zum ersten Mal am alten Salzhafen in Torrevieja stand, an jenem Ort, vom dem aus in früheren Jahrhunderten die großen Windjammer nach Kuba segelten. Er selber war 1999 gerade mit seiner Frau Aned aus dem karibischen Inselstaat ausgewandert, zunächst in Barcelona gelandet und eher zufällig während eines Sängerwettstreits, dem Habaneras-Festival, in die Stadt gekommen, die sich in eine Ebene zwischen zwei Lagunen und dem Mittelmeer schmiegt. Ein Schlüsselerlebnis:
    "In Torrevieja haben wir eine Freundschaft zu Kuba gefunden, die es in keinem anderen Ort in Spanien gibt."
    Habaneras, das sind die Lieder, die die spanischen Seeleute einst von ihren weiten Reisen mit den Passatwinden mitbrachten, auf denen sie Salz, Dachschindeln und Baumaterialien aller Art in die spanische Kolonie transportierten. In kubanischen Hafenbars hatten sie oft wochenlang auf geeignetes Wetter gewartet, um wieder aufbrechen zu können. Voller Heimweh sangen sie dort ihre eigenen Lieder, jene der kubanischen Kollegen und irgendwann eine Mischung aus beidem. Miguel amüsiert sich:
    "Ich wusste erst gar nicht, was Habaneras sind. Dieser Begriff sagte mir gar nichts. Aber dann habe ich sie beim Festival hier gehört – das waren die Lieder, die meine Großmutter früher bei der Arbeit gesungen hat!"
    Jährlicher Habaneras-Sängerwettstreit seit 1955
    Der 52-Jährige mit dem Spitzbart, den schulterlangen grauen Haaren und den Lederarmbändern am Handgelenk lässt seinen Blick über die Menschen gleiten, die fröhlich plaudernd in Abendgarderobe zum alten Salzlager spazieren. Die Mauern aus Sandstein leuchten im Scheinwerferlicht, irgendwo in einer Nische probt gerade einer der zwanzig Chöre für seinen Auftritt. Seit 1955 widmet Torrevieja den Habaneras jedes Jahr im Juli einen eigenen Sängerwettstreit. Maria Isabell Planelliers-Vallejos, deren Vater beim ersten Festival Chorleiter war, erinnert sich an die Anfänge:
    "Ich habe damals selber mitgesungen. Alles war ganz klein, der Boom kam erst später. Wir haben die Gäste noch in eingeschossigen Häusern empfangen, die Sommer hier waren ruhig und unsere Idee war es, mit den Habaneras ein paar weitere Touristen anzuziehen."
    Um im Chor mitzusingen, kamen viele Salineros, also Salzarbeiter, noch vor der Schicht zu den Proben, zogen sich anschließend an und gingen dann ganz selbstverständlich zur Arbeit in die Saline. Heute ist aus dem sommerlichen Singen ein internationales Festival geworden, bei dem sogar Chöre aus China oder Indonesien anreisen, um sich in Flamenco-Pose und mit Fächern in der Hand der Jury zu stellen. Eines der Bewertungskriterien: Die Lieder müssen in akzentfreiem Spanisch gesungen werden.
    Enge Verbindung zwischen Torrevieja und Kuba
    Für Miguel und Aned ist der Sängerwettstreit nur einer von vielen Ankern zu ihrem Heimatland. Wichtiger ist für sie die enge Verbindung zwischen Torrevieja und Kuba, die sie auch im Alltag immer wieder spüren – beim Anblick von Denkmalen wie der Replik eines alten Windjammers im Hafen, bei Festen, beim Abend in Kneipen, wie dem Rincon del Norte, wo spanische Tapas mit karibischer Küche kombiniert werden. Gemeinsam mit ihrem aus Torrevieja stammenden Freund Miguel Buendia haben sie darum im Jahr 2016 ein weiteres Festival ins Leben gerufen, das spanisch-kubanische Kulturfestival "De ida y vuelta". Miguel Buendia erklärt:
    "Also die Habaneras, das ist Folklore hier und als Kind habe ich auch in so einem Chor mitgesungen. Aber wir denken, dass Kuba und die Kubaner die in Torrevieja zuhause sind, kulturell noch viel mehr zu bieten haben. Also haben wir zusätzlich ein Festival der Musik, der Malerei, des Films entwickelt."
    Während Miguel Buendia von der Veranstaltungsreihe erzählt, erwacht in seinem kubanischen Freund die Begeisterung für seine Heimat.
    "Kuba, das ist Musik, man geht dort so, als ob man tanzen würde. Und wenn jemand im Hafen so eine Holzkiste hat, wo er ein bisschen draufschlägt – tam, tatam – dann tanzen alle. Man lässt die Arbeit liegen, lässt alles liegen, und wenn dann noch eine Flasche Rum auftaucht... Madre mia!"
    "Lange Zeit die schnellstwachsende Stadt Spaniens"
    Einen Hauch dieses Lebensgefühls transportiert die Veranstaltungswoche auch nach Torrevieja. Aned, die Frau des Künstlers, stellt allerdings klar, dass es sich dabei nicht nur um ein kubanisches Festival handelt:
    "Unser Festival ist ein spanisch-kubanisches Festival, eine Mischung, wie eine Mulata. Unser Ziel ist es, den Zusammenhalt weiter zu verstärken."
    Mit Menschen anderer Kulturen gemeinsame Sache zu machen, darin sind die Torreviejenses mittlerweile einigermaßen routiniert. In den 1970er Jahren fingen sie an, bezahlbare Ferienwohnungen an all jene zu verkaufen, die immer mal wieder für ein paar Wochen im Jahr den Traum vom sonnigen Süden leben wollen. Michael Allhoff, der seit zehn Jahren als Journalist für die Costa Blanca Zeitung arbeitet, vergleicht den Erfolg dieser Immobilien der Niedrigpreisklasse mit dem des Käfers für VW.
    "Torrevieja war lange Zeit die schnellstwachsende Stadt Spaniens, wo sich die Bevölkerungszahl alle zehn Jahre verdoppelt hat. Für 30.000, 50.000 Mark konnte man sich hier ein Apartment oder ein kleines Häuschen kaufen."
    Menschen aus 140 Nationen mit Wohnsitz in Torrevieja
    Deutsche, Engländer, Skandinavier, Russen, Franzosen ... Menschen aus mehr als 140 Nationen haben derzeit ihren Wohnsitz in Torrevieja angemeldet. Allhoff schwärmt:
    "Das ist ein kleines Europa, das friedlich funktioniert."
    Meistens jedenfalls. Auch für die Rentnerin Eva Sonja Unverricht-Prott aus Bad Vilbel ist Torrevieja der Inbegriff multikulturellen Zusammenlebens. Seit etwa 20 Jahren reist sie regelmäßig in eine Siedlung am La-Mata-Strand im Norden.
    "Da sind wir insgesamt von den 50 Häusern fünf Deutsche. Die anderen sind alle Nordlichter, Schweden und so weiter. Und wenn ich sage: Which language? Dann sagt er 'Tack so mücket', dann ist es 'n Schwede und so weiter. Also es ist schon sehr schön."
    "Wenn man auswandert, fühlt man sich wie in einem Kampf"
    Spanier sind in all dem Völkergemisch mittlerweile in der Minderheit, ziehen sich gerne mal in die Familie, in ihr privates Dorf zurück. Und auch die Kubaner stellen nur eine kleine Gruppe. Doch zwischen ihnen gibt es eine Beziehung, die schon über die Jahrhunderte gewachsen ist. "De ida y vuelta", der Titel des spanisch-kubanischen Kulturfestivals, heißt wörtlich übersetzt so viel wie "Von der Hin- und Rückreise". Für Aned Ibarzábal stecken dahinter unendlich viele Geschichten, wie die ihrer eigenen Familie.
    "Ich habe eine Urgroßmutter, die Mulattin war und einen Urgroßvater aus Santander. Wir sind vermischt. Er ist auf der Suche nach Wohlstand emigriert, wie so viele. Und jetzt kommen wir, die Enkel, zurück - ein kleines Stück der DNA, um sie hier zu verstreuen."
    Ihr Mann Miguel der die meiste Zeit des Tages in seinem Atelier verbringt, räumt ein:
    "Am Anfang, wenn man auswandert, fühlt man sich wie in einem Kampf, aber das habe ich überwunden. Ich habe hier Freunde, Familie ..."
    Dennoch, in seinen Plastiken, die er auch während des Festivals ausstellt, verarbeitet der Künstler noch immer vieles, was ihn während dieses Kampfes beschäftigt hat. Für das Festival hat er ein riesiges Papierschiffchen gebaut, das im Kielwasser eine Spur aus Salzkristallen hinterlässt. Und ab und an plagt ihn natürlich trotz allem das Heimweh nach Kuba - so wie sich die Seeleute einst nach Spanien sehnten. Ob er dann auch wehmütige Lieder anstimmt? Miguels Miene heitert sich auf:
    "Singen? Na klar, aber unter der Dusche!"