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"Crashtest Nordstadt"

Die Dortmunder Nordstadt gilt als Problembezirk. Mit Crashtest Nordstadt hat der Regisseur Jörg Lukas Matthaei Theater im Stadtraum entwickelt, das die Welten aufeinanderprallen lassen will: das Konzept der Börsenzockerei gegen die Lebenswelt der Akteure.

Von Christiane Enkeler | 15.06.2012
    "Ihr seid unser Testpublikum heute. Danke, dass ihr gekommen seid."

    Jörg Lukas Matthaei, der Regisseur von "Crashtest Nordstadt", begrüßt uns alle zur Generalprobe. In einer entweihten Kirche haben wir eingecheckt und eine Erklärung unterschrieben, dass wir uns auch filmen lassen während des Abends.

    "Ihr seid meine Aktien, mein Portfolio, und ich hoffe, wir werden einen unvergesslichen und spaßigen Abend erleben, und wir werden natürlich gewinnen."

    Mit vier anderen menschlichen Aktien, deren Wert steigt und fällt, gehöre ich Mark, der breitbeinig auf einem der roten Sessel sitzt, grauer Anzug, Sonnenbrille auf der Glatze. Mark ist der Checker unserer Gruppe, der uns immer wieder per Handy motivieren wird. Er handelt mit und setzt auf uns, während wir in der Stadt Aufgaben lösen. In einem Hotel müssen wir für eine junge Dame Prioritäten setzen, man könnte auch sagen: Werte ordnen. Sie bewertet dann wiederum uns. Das hat Auswirkungen auf den Kurs.

    "NAX steht bei 4104, 97, das ist Minus 6,3406 Prozent, also ich weiß jetzt nicht wirklich... – der Nordstadt-Aktien-Index. Also der hat leicht abgenommen, aber ich bin auf Position zwei im Bereich Security, glaub ich. Das ist doch schon was, in der Nordstadt. – Das steht bei mir auch für Immobilien. – Och! – Rang zwei."

    Über unsere Handys erfahren wir immer wieder, was wir gerade wert sind.
    Wir haben das System noch nicht so ganz begriffen, aber die Leute sind nett. Jetzt schickt man uns zum Chaostreff. In einem abgedunkelten Raum sitzen junge Menschen auf Sofas hinter Laptops. Sie kommunizieren nur über ihren Bildschirm mit uns, bis wir wie in einem Computerspiel ihre Aufgaben gelöst haben.

    "Willkommen im Chaostreff."

    Weiter geht's in die Gronaustraße, wo wir im Team Blumen am Bahndamm einpflanzen. Sonst macht das Frau Pohl, die schon seit 54 Jahren hier wohnt.

    So hatte sie die Initiative ergriffen, um gegen Drogen und Prostitution vorzugehen, erfolgreich, wie sie sagt. Sie vermietet hier auch.

    "Das ist manchmal sehr schwierig, und zwar deshalb, weil ein schlechter Ruf immer vorauseilt, und die Leute haben Vorurteile und beurteilen etwas, was sie noch nie gesehen haben oder gar nicht kennen."

    Als ich wieder zu den anderen stoße, fehlt einer, wurde feindlich übernommen.

    In der Eagles Church, einer freien evangelischen Gemeinde mit Gospelschwerpunkt (im gleichen Gebäude wie eine Moschee), sollen wir zusammen singen.

    In der Kirche und beim Pflanzen sind wir nicht so gut. Rainer aus unserer Aktiengruppe weist darauf hin, dass die Nordstadt durchaus ein Flair habe, gepflegte Hinterhöfe und gute Verkehrsanbindungen. Er wohnt hier im Viertel.

    "Wir haben hier 'ne Reihe von Straßen gesehen, auch die, ja, die Schleswiger Straße zum Beispiel, also so die Frage hier: Straßenstrich, gibt's den eigentlich noch oder hat der sich nur in die Wohnungsprostitution verlagert, wir konnten hier sehen, dass hier also öfter gedealt wurde, wir können also sehen, also ne, wie gerade zum Beispiel auch, dass also hier Frauen rumlaufen, die sich dann im Laufen anbieten, die hätte ich jetzt ansprechen können."

    Einerseits läuft also jeder durch die Straßen und kann versuchen, sich einen eigenen Eindruck zu verschaffen. Andererseits will Regisseur Jörg Lukas Matthaei das Verhältnis zwischen Beobachtern und Betrachteten umdrehen.

    "Wir machen keine Safari durch den sozialen Brennpunkt, sondern wir machen im Gegenteil ein Format, wo man als Besucher oder Besucherin die Erfahrung macht, dass ich halt verschoben werde, dass ich halt Fremden vertrauen muss, dass ich in Situationen komme, wo ich die Regeln vielleicht erst mal nicht verstehe und sie lernen muss."

    Das gilt für unsere Gruppe an fünf Stationen von insgesamt rund 20.

    Die beiden Wirtschaftslehrer aus unserer Gruppe, Britta und Sebastian, wollen ihre Schüler noch in den Crashtest schicken.

    "Das, was da gerade wirtschaftlich passiert ist, ist völlig normal. Dass Menschen damit gehandelt werden, ist jetzt weniger normal, das sind normalerweise Unternehmenswerte, aber hinter den Unternehmen stehen natürlich Menschen. Und insofern ist da durchaus 'ne Anbindung gegeben, ja klar."

    "Wenn sich die Auszubildenden jetzt während des Crash-Tests selbst wie Werte fühlen, mit denen gehandelt wird, dann hat das natürlich noch mal ne ganz andere Komponente, wenn sie sonst selbst diejenigen sind, die die Buchführung lernen und rechnen und Gewinnmaximierung sich überlegen und all solche Geschichten."