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Cynan Jones: "Graben"
Ein moderner Schauerroman

Der Kurzroman "Graben"des walisischen Autors Cynan Jones entführt den Leser in ein archaisches, alttestamentarisches Szenario, in dem der Kampf ums Dasein ständig vom Tod und vom Töten begleitet wird. Es ist ein faszinierend düsterer Roman, der einen sofort in den Bann schlägt.

Von Thomas Palzer | 13.07.2015
    Es ist eine archaische, blutige und dem Fortschritt gegenüber gleichgültige Welt, die der walisische Autor Cynan Jones in seinem lakonischen Kurzroman "Graben" auferstehen lässt - eine Welt, deren wortkarge Archaik den Menschen auf seine Kreatürlichkeit zurückwirft. Darin und in den Resonanzräumen, die die sehr knappe Sprache erzeugt, die mehr andeutet als ausführt, ist "Graben" den erratischen Welten nicht unähnlich, die der Amerikaner Cormac McCarthy seit gut fünf Jahrzehnten erschafft.
    Daniel, ein junger Farmer und Schafzüchter, trauert um seine Frau, der von einem ausschlagenden Pferd der Schädel zertrümmert wird. Mit ihr hat er die Farm bewirtschaftet, die sie von seinen Eltern übernommen haben. Nun ist er allein und kaum noch in der Lage, die Arbeit zu bewältigen. Einmal wird er von seiner Mutter besucht, die sich Sorgen macht, doch der Sohn bittet sie nur, ihn nicht mehr zu besuchen, er müsse da allein durch, es sei doch egal, wie es ihm ginge.
    Die einzige Gnade, die Daniel in "Graben" zuteil wird, besteht darin, dass der Arzt ihn nicht darüber aufklärt, dass seine Frau zum Zeitpunkt ihres Todes schwanger gewesen ist.
    "Sie waren beide auf Farmen aufgewachsen und wussten, was sie erwartete, doch es war die Modernisierung, die sie auslaugte. Der Papierkram, das Katalogisieren, die Formulare, mit denen sich ihre Eltern niemals hatten herumschlagen müssen und die sie verwirrten und manchmal schier überwältigten. Jedes Mal, wenn ein Tier transportiert wurde, musste das notiert, jede Impfung aufgezeichnet werden. Das ergab schon durchaus einen Sinn bei den großen Farmen jenseits der Grenze mit ihren Betriebsleitern, Büros und Angestellten. Eine kleine Farm aber behinderte dieser Papierkram nur, und keiner von ihnen beiden war dafür geschaffen, also wurde er zu einer großen Last."
    In Jones modernem Schauerroman ist die Natur gleichgültig gegenüber der Kreatur und ihren Leiden. Auch der Autor enthält sich bei der Schilderung der Ereignisse weitgehend jeder moralischen Wertung. In vielen kurzen Abschnitten, die in gleichsam langen Blenden Bild an Bild reihen, wird ein alttestamentarisches Szenario entfaltet, in dem der Kampf ums Dasein ausdauernd begleitet wird vom Tod und vom Töten.
    "Graben" ist die Geschichte zweier Männer, wie sie unterschiedlicher nicht sein können. Der eine, jung und Schafzüchter, der sich voller Fürsorge im Schafstall als Geburtshelfer betätigt und den Muttertieren beim Ablammen zur Seite steht, ist von dem Drang beseelt, ein rechtschaffener Mensch zu werden. Nach dem Tod seiner Frau, die er von Jugend auf kennt, fühlt er sich verlassen und einer existentiellen Leere ausgesetzt, die sich in der Verlassenheit der Farm und der knappen, schmucklosen, fast biblischen Erzählweise spiegelt. Nur die Arbeit scheint ihn noch am Leben zu halten.
    "Schnell eilte die Katze von draußen herein und rieb sich an den Heuballen, dann ging sie in eine Ecke und legte sich hin, und ihn überkam eine leise Liebe zu der Katze. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Er sah die Katze an, hielt die Tränen zurück und spürte, wie er verzweifelt lächelte. O Gott, sagte er. Du warst so gut. Es war so gut, dich zu haben."
    Der andere ist ein namenloser Mann, wenig älter, verschlossen, brutal und vorbestraft, dem der Erzähler den individuellen Namen verweigert und den er nur der "große Mann" oder der "große Zigeuner" nennt. Nicht weit von Daniels Farm bewohnt dieser große Mann ein heruntergekommenes Haus auf einem Schrottplatz. Er verdingt sich als Schrotthändler, Hundezüchter und Rattenfänger. Er hat in der rauen Welt im Westen Englands unter den Farmern seine Nische gefunden. Ab und an schlüpft er auch in die Rolle eines Schädlings, dann nämlich, wenn er sich als Gelegenheitswilderer betätigt.
    "Als sie fertig waren, reihten die Männer die Ratten auf und zählten sie. Der große Mann nahm die Ratten, die noch nicht tot waren, trat auf ihre schuppigen Schwänze und schlug ihnen mit einem Elektrozaunpfosten, den er von der Scheunenwand geholt hatte, systematisch die Schädel ein."
    Zwei Motivstränge orchestrieren unheilvoll die Geschichte: ständig zerbersten Schädel, und ständig wird gegraben - von Männer mit Klappspaten; von Dachsen; von den auf sie angesetzten Hunden; von einem Raupentraktor, mit dessen Hilfe in der Nähe von Daniels Farm Rohre verlegt werden.
    Zurück zu Daniels Gegenspieler. Der große Mann organisiert für die Farmer brutale, illegale Schaukämpfe. Mithilfe eigens dafür abgerichteter Terrier sucht und fängt er Dachse, die er zum Vergnügen der Besitzer in einer ausgeleuchteten Grube von den Hunden zerfleischen lässt. Zuvor werden Wetten abgeschlossen. Chancen haben die Dachse keine - den Tieren sind Krallen und Zähne gezogen.
    "Ein Mann beugte sich mit einer Zange vor und stupste den Dachs an, als der Hund wieder angriff. Der Dachs richtete sich auf und schnappte nach dem Hund, es gab ein großes Gejohle, und der Hund sprang dem zuschnappenden Dachs, der so schnell war wie ein Blitz, aus dem Weg."
    Zunächst berühren sich die Wege der beiden Männer kaum. Doch eines Tages treffen sich der friedliebende Schafzüchter und der gewalttätige Hundezüchter. Es kommt zu einem Finale mit tödlichem Ausgang. Das dritte Motiv, das den Roman durchzieht, ist der illegale Schaukampf - der Dachse und Hunde, Daniels mit dem großen Zigeuner. In beiden Fällen johlt dazu eine grobianische Welt und schließt ihre Wetten ab.
    "Graben" ist ein wunderbar lakonischer und faszinierend düsterer Roman, einer, der sofort in den Bann schlägt und der vom Tod handelt, vom Sterben und von der Legitimität des Tötens. Graben - das kann urbar machen bedeuten, aber auch: ein Grab anlegen, beerdigen. Eine moderne Fassung der archetypischen Geschichte von Kain und Abel.
    Cynan Jones: "Graben", aus dem Englischen von Peter Torberg, München 2014, Verlagsbuchhandlung Liebeskind, 176 Seiten, 16,90 Euro