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D-Day
"Dieser Krieg war notwendig"

Michael Wolffsohn hält Krieg als Mittel der Politik manchmal für notwendig. Das zeige die Landung in der Normandie, deren Opfer heute in Frankreich gedacht wird. Die Invasion der Alliierten 1944 sei eine politische Entscheidung gewesen, militärisch wäre sie nicht nötig gewesen, sagte der Historiker im DLF.

Michael Wolffsohn im Gespräch mit Christoph Heinemann | 06.06.2014
    Undatiertes Archivbild von 1944: Invasion an der Normandieküste.
    Undatiertes Archivbild von 1944: Invasion an der Normandieküste. (picture alliance / dpa / United Press International)
    Christoph Heinemann: Die Entscheidung war längst gefallen, mit der Operation Overlord wurde sie besiegelt. Heute vor 70 Jahren eröffneten die Alliierten im Zweiten Weltkrieg eine neue Front gegen Nazi-Deutschland: Mit der Landung in der Normandie, einer militärischen Anstrengung, für die man den Begriff gigantisch verwenden darf, mit der man vielleicht sonst sparsam umgehen sollte. Heute eine große Gedenkfeier mit Barack Obama und Wladimir Putin - diese Paarung ist aus aktuellen Gründen erwähnenswert - und mit Angela Merkel. Die Teilnahme der Bundeskanzlerin zeigt, was in den vergangenen sieben Jahrzehnten politisch erreicht wurde. Viele Veteranen sind an die Atlantikküste gereist, Kriegsgegner reichen sich heute die Hände.
    Am Telefon ist der Historiker Professor Michael Wolffsohn, der bis zu seiner Emeritierung vor zwei Jahren neuere Geschichte an der Universität der Bundeswehr in München gelehrt hat, heute als Publizist tätig ist. Guten Tag.
    Michael Wolffsohn: Guten Tag, Herr Heinemann.
    Heinemann: Professor Wolffsohn, reichlich historische Uniformen, viel altes Kriegsgerät ist in die Normandie geschafft worden. Frage an den Wissenschaftler: Dienen Hollywood-ähnlich inszenierte Erinnerungsfeiern der historischen Aufklärung?
    Wolffsohn: Oh ja! Außerdem macht Hollywood oft gute Filme, nicht zuletzt über die Landung der Alliierten in der Normandie. Mit anderen Worten: Dazu gibt es gar keine Alternative. Es gibt sehr viel Klamauk in der Politik im Allgemeinen für deutlich schlechtere und unwichtigere Dinge.
    "Präsenz und Mitsprache der USA"
    Heinemann: Welche Rolle spielte die Landung oder, wie manche in Deutschland ja immer noch sagen, die Invasion für den Verlauf des Krieges?
    Wolffsohn: Es war eine wichtige, aber mehr politische Entscheidung und auch Durchsetzung, denn es gab ja schon die Ostfront, wo sich das Kriegsgeschehen zugunsten der Roten Armee, die bekanntlich von den Amerikanern vornehmlich unterstützt worden ist, entwickelte. Mit anderen Worten: Es wäre durchaus möglich gewesen, auch nur mit der Ostfront Hitler-Deutschland zu besiegen. Aber es war politisch natürlich für den Westen und nicht zuletzt damit für die Westdeutschen und für Westeuropa ganz wichtig, dass der Westen, sprich die Amerikaner vor allem nach Europa kamen, denn das bedeutete ganz konkrete aktive Präsenz und Mitsprache des Westens, allen voran der USA.
    Heinemann: Aber militärisch bedeutete Stalingrad die Wende des Krieges?
    Wolffsohn: Mit Sicherheit und Stalingrad und das Vorrücken der Roten Armee wäre ohne die amerikanischen Nachschublieferungen und Zahlungen an die Rote Armee unmöglich gewesen. Also ganz klar gesagt: Ohne die USA wären Westeuropa und Deutschland nicht befreit worden.
    Heinemann: Professor Wolffsohn, der Kampf gegen Nazi-Deutschland und der Sieg gegen Nazi-Deutschland bildete für die Westalliierten den letzten Sieg ihrer Geschichte. Die Franzosen scheiterten in Indochina, Rjemjen Fu, die Amerikaner in Vietnam. Ist der Blick zurück auch ein Beitrag zur Gegenwartsbewältigung?
    Wolffsohn: Ja, aus meiner Sicht definitiv und historisch objektiv auch. Ich will das begründen. Wir sehen gerade an diesem Krieg, dass eines der heute häufig benutzten Argumente falsch ist, nämlich dass durch Kriege die Dinge in der Regel schlechter werden. Dieser Krieg, den ja der Westen nicht wollte, den Hitler-Deutschland, also ein Tyrann, ein Verbrecher begonnen hatte, war defensiv, reaktiv notwendig, und das ist manchmal auch so. Ob und wenn ja welcher Krieg nach 1945 gewonnen oder verloren wurde, ist ein anderes Kapitel. Wir fassen zusammen: Ja, manchmal ist leider Krieg als politisches Mittel notwendig.
    "Politik basiert nicht auf Gefühlen"
    Heinemann: 70 Jahre danach sind die europäischen Siegermächte geschwächt, Frankreich all zumal, während Deutschland als entscheidende europäische Macht gilt. Wie sollte Deutschland mit Blick auf die Geschichte mit dieser Rolle umgehen?
    Wolffsohn: Ich würde nicht sagen, dass Deutschland als entscheidende europäische Macht gilt. Das war es nie, ist es nie und wird es nie werden. Das ist ja das Grundproblem deutscher, europäischer und Weltpolitik. Deutschland ist sicherlich der stärkste europäische Staat, nicht zuletzt wirtschaftlich, aber er ist nicht stark genug, um gegen die anderen bestehen zu können. Daraus abgeleitet: Deutschland muss, soll und hat sich nach '45 Gott sei Dank im gesamten europäischen Gefüge eingefügt. Aber dieser Drahtseilakt zwischen Eigeninteresse einer übermächtigen europäischen Macht, sprich Deutschland auf der einen Seite und auf der anderen Seite die Integration, die Gemeinsamkeit mit anderen, das war, ist und bleibt ein Drahtseilakt deutscher Politik.
    Heinemann: Herr Wolffsohn, könnte die Erinnerung an die einstige Waffenbrüderschaft die Konfrontation zwischen Russland einerseits, den USA, West- und Mitteleuropa andererseits entspannen?
    Wolffsohn: Klares Nein, denn Politik basiert nicht auf Gefühlen, sondern auf Fakten und nationalen Interessen, und gerade dieser heutige Tag, das Jubiläum, zeigt uns die auch nicht zuletzt moralische und damit gefühlsmäßige Gebrochenheit. Denn die Alternative zu Hitler war eine Zusammenarbeit des Westens mit Stalin, also die Wahl zwischen Pest und Cholera. In unübertrefflicher Weise hat das der russisch-jüdische Schriftsteller Wassili Grossman in seinem Jahrhundertbuch "Leben und Schicksal" dargestellt. Wer gegen Hitler kämpfte, hat zugleich auch mit Stalin gekämpft, und das war ein moralisches, politisches Dilemma für den Westen. Aber dazu gab es gar keine Alternative, weil die noch größere Gefahr eben Hitler und Hitler-Deutschland gewesen sind. Hier und heute sehen wir einen Nichtdemokraten Putin, einen Machtmenschen, zusammen mit demokratischen Politikern. Genau diese moralische Gespaltenheit von damals finden wir vergleichbar heute.
    Heinemann: Sind, um auf den Machtmenschen zu sprechen zu kommen, eurasische Gedankenspiele, also Wladimir Putins Idee einer Pax Sowjetika in neuer Verpackung, ist das für die Europäische Union mittelfristig gefährlich?
    Wolffsohn: Nein! Aber das wäre ein längeres Thema. Das Ausgreifen des Machtmenschen Putin wird dazu führen, dass er sich langfristig verschlucken wird an dieser Beute. Das werden wir nicht morgen und übermorgen erleben, aber mit Sicherheit. Zweiter Punkt der Gefahr, der inländischen Gefahr für Russland, dass dieses Vielvölkerreich - und das ist Russland heute noch - im Grunde genommen implodieren wird. Hier ist zu viel, ich sage es mal umgangssprachlich, gefressen worden von Russland, und das wird auch hochkommen und rauskommen.
    Heinemann: Im Moment allerdings nicht erkennbar.
    Wolffsohn: Das ist richtig. Aber Historiker müssen trainiert sein, die längerfristigen Entwicklungen zu betrachten und nicht nur zeitpunktbezogen denken, sondern zeitraumbezogen.
    Rechtspopulismus in Europa: Nicht mit Nazis vergleichbar
    Heinemann: Blicken wir noch mal auf einen längeren Zeitraum mit Blick jetzt vielleicht auf die Europawahl, auf das Ergebnis der Europawahl. Wieso ist 70 Jahre danach der Rechtspopulismus mit teilweise ja auch braunen Einsprengseln, also das, was damals besiegt wurde, europaweit wieder salonfähig?
    Wolffsohn: Ich bin da nicht ganz Ihrer Meinung, wenngleich ich Ihre moralische Position teile. Der Rechtspopulismus ist eine, auch aus meiner Sicht widerwärtige politische Erscheinung, die bekämpft werden muss. Aber die Probleme, die von diesen Parteien angesprochen werden, sind objektiv vorhanden. Es sind neue Probleme, es sind andere Probleme, es ist - tut mir leid - eine neue Rechte, die mit der alten nur sehr bedingt vergleichbar ist - erster Punkt.
    Zweiter Punkt: Europa befindet sich heute bevölkerungspolitisch, also demografisch in einem Fundamentalwandel. Das ist eine Revolution, eine gesellschaftliche Revolution, und jede Revolution bringt Verwerfungen. Eine solche Verwerfung ist die neue Rechte in Europa. Wir müssen uns mit den Themen dieser neuen Rechten intensiver als bisher befassen. Wir müssen das ernst nehmen und nicht durch irgendwelche wohlmeinenden Phrasen dann im Grunde genommen nicht mehr behandeln. Also Thema behandeln ja, gleichzeitig die neue Rechte mit ihren Rezepten bekämpfen.
    Heinemann: Der Historiker Professor Michael Wolffsohn - danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.
    Wolffsohn: Auf Wiederhören! Danke Ihnen!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.