Dienstag, 23. April 2024

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Dada-Almanach
Vom Aberwitz ästhetischer Contradiction

100 Jahre Dada wird dieses Jahr auch von den Verlagen gefeiert - etwa von Manesse mit einem schönen Dada-Almanach sowie vom Wallstein Verlag mit dem ersten Band einer Werkausgabe der Schriftstellerin Emmy Hennings. Zusammen mit Hugo Ball gehörte sie zum Gründerkollektiv. Wichtige Neuerscheinungen zu 100 Jahren Dada.

Von Anja Hirsch | 05.02.2016
    Ein Buch fächerartig aufgeschlagen
    Zum 100. Geburtstag des Dadaismus bringen viele Verlage neue Bücher auf den Markt. (imago/Mint Images)
    "Nehmt eine Zeitung.
    Nehmt Scheren.
    Wählt in dieser Zeitung einen
    Artikel von der Länge aus, die
    Ihr Eurem Gedicht zu geben beabsichtigt.
    Schneidet den Artikel aus.
    Schneidet dann sorgfältig jedes
    Wort dieses Artikels aus und gebt
    sie in eine Tüte.
    Schüttelt leicht."
    Nach Tristan Tzara, der diese Bastelanleitung geschrieben hat, braucht man nicht viel für ein dadaistisches Gedicht. Ein bisschen schneiden, ein bisschen schütteln, und fertig ist's. Der Rumäne Tristan Tzara war einer der Gründerväter des Züricher "Cabaret Voltaire", das heute vor hundert Jahren in der Spiegelgasse 1 eröffnet wurde. Mitten im Vernichtungsszenario des Ersten Weltkriegs versammeln sich Künstler-Exilanten in der neutralen Schweiz zu bizarren Soirées. Hugo Ball, der sich Kartonröhren überstülpt und als "magischer Bischof" auftritt, muss eigens auf die Bühne getragen werden. Und wenn das Publikum seiner überdrüssig ist, rettet der Dada-Trommler Richard Huelsenbeck die Stimmung und greift nach Oxfordstöckchen und Kesselpauke. Die Programme sind ein Erfolg. Doch schon Ende Juli schließt das Cabaret. Hugo Ball will eigene Wege gehen. Stattdessen gibt es die "Galerie Dada" und weitere Aktionen. Die Bewegung wird von Zürich aus in andere Zentren getragen - etwa mit Tzara und André Breton nach Paris, mit Max Ernst nach Köln, mit Kurt Schwitters nach Hannover oder mit Richard Huelsenbeck nach Berlin. Hier agiert auch Raoul Hausmann, einer derjenigen Dada-Protagonisten, deren Lautgedichte wie magische Beschwörungen zwischen Maschinengewehrgeratter klingen - hier zu hören im Originalton aus einem späteren Jahr, 1959, entnommen einer CD-Box des Hörverlags.
    "Bbb"
    Aufrütteln und zugleich unterhalten will zum Hundertjährigen auch der im Manesse-Verlag erschienene neue Dada-Almanach, der subversiv-verspielt daherkommt. Präsentiert werden "Liebesoden und Couplets", "Totentänze und Lamentos" oder "Miszellen und Prosa", auch von weniger bekannten Dadaisten wie dem Chilenen Vincent Huidobro, der den verrückten Virus nach Spanien trug. Schließlich gibt es noch "Manifeste und Standpauken" zu lesen. Der Almanach feiert die Bewegung graphisch. Die Buchstaben sind rot und schwarz, Schrifttype und -größe variieren, die Zeilen stehen gerne mal diagonal oder formen das, was sie ausdrücken, etwa einen "Zeppelin" - visuelle Poesie. Dass der Dadaismus allerdings nicht nur ein bourgeoiser Splitter im Weltgeschehen sein wollte, sondern politisch richtungsweisend, ist belegt mit hier gleichfalls zu findenden Autoren wie Walter Mehring, Zulieferer unter anderem für das politische Kabarett "Schall und Rauch" von Max Reinhardt in Berlin. Mehrings Satiren sind Ventil für eine düstere Wirklichkeit. Hier der Beginn seines ersten Original-dada-Couplets mit dem Titel "berlin simultan", erstmals 1920 erschienen im Dada-Almanach, den Richard Huelsenbeck herausgab:
    "Das Volk steht auf! Fahnen raus!
    Bis früh um fimfe kleine Maus
    Im Ufafilm
    Hoch Kaiser Wil'm!
    Die Reaktion flaggt schon am Dom
    Mit Hakenkreuz und Blaukreuzgas
    Monokel kontra Hakennas
    Auf zum Pogrom!
    Beim Hippodrom!"
    Nicht, dass es an Büchern mit und über Dada mangelte. Es gibt etwa die älteren Sammlungen von Germanisten wie Karl Riha oder Hermann Korte. Den Almanach-Herausgebern geht es indes nicht um Vollständigkeit. Sie wollen Orientierung geben - auch mit knappen Infoboxen im Anhang - und die Lust am kreativen Impuls der Bewegung erwecken. Das ist gelungen.
    Expressive Prosa - endlich wiederentdeckt
    Im Züricher Cabaret Voltaire stand 1916 unter vielen Männern aber auch eine Frau im Rampenlicht: Emmy Hennings, das enfant terrible der Szene. Schon vor ihrer Verbindung zu Hugo Ball - das Paar gilt als initiatorischer Wirbelsturm - tingelte sie über viele Bühnen. Lange haftete ihr der Ruf an, eine katholische Schwärmerin und Morphinistin zu sein, die Antikriegslieder trällerte. Ihre Eigenständigkeit als Künstlerin und vor allem Schriftstellerin steht inzwischen außer Frage. Endlich liegt auch der erste Band einer kommentierten Studienausgabe vor. Er enthält ihren wichtigsten Roman "Gefängnis", in welchem Emmy Hennings eine dreimonatige eigene Hafterfahrung verarbeitet, die sie in den Jahren 1914 und 1915 nach einem kleineren Diebstahl sowie Beihilfe zur Passfälschung verbüßen muss. Der Roman beginnt wie ein absurdes Theaterstück. Die Protagonistin, die schon von ihrem Prozess weiß, liegt im Bett, morgens um acht. Es klopft.
    "Es bleibt mir nicht viel Zeit zum Überlegen. Soll ich sagen: 'Bedaure, bin soeben verrückt geworden?' Oder: 'Ich bin im Begriff zu sterben?' Das Gesicht zur Tür gewandt, riskiere ich, halblaut zu äußern 'Der Tod entschuldigt alles.'
    Ein Herr tritt ein. Tür war nicht verschlossen. Natürlich nicht..."
    1919 im Berliner Erich Reiss Verlag erschienen, damals zentrales Publikationsorgan für expressionistische Literatur, umfasst Hennings Roman den Zeitpunkt der Festnahme der Protagonistin bis zu deren Freilassung. Das Erleben der Ich-Erzählerin steht im Mittelpunkt. Der atemlose, fast mündliche Stil bewirkt eine unglaubliche Nähe zu ihr. Sie leidet; - verfügt aber andererseits auch über magische Vorstellungskraft und betreibt Selbstsuggestion. Das Polizeipräsidium, beschrieben im überschwänglichen Ton einer Else Lasker-Schüler, mit der Emmy Hennings die Tendenz zur Wirklichkeitsflucht teilt, wirkt geradezu einladend:
    "Ach das saubere Haus! Alles gefällt mir. Alles entzückt mich: Die sauberen grauen Türen, hellgrau lackiert. Gewiß frisch gestrichen. Die blank geputzten Messingtürklinken! Wer das wohl alles beaufsichtigt, damit es so adrett bleibt? In meiner Pension ist doch alles so schmuggelig! Hier sich ein Zimmer mieten!"
    Sie selbst und ihre Mitgefangenen sitzen wegen Bagatellen ein oder wissen nicht einmal den Grund für die Bestrafung. Die Ohnmacht gegenüber einer fast willkürlich agierenden Justiz überwiegt. Im Zerrspiegel introspektiv-verspielter Passagen, die immer wieder mit hyperrealen Beschreibungen der Dreierzelle, der Mithäftlinge oder Spaziergänge im Gefängnishof wechseln, wird so die große Verzweiflung sichtbar. Emmy Hennings Roman ist allerdings weit mehr als nur eine Gefängnisreportage. Er wird zur Auseinandersetzung mit dem großen Thema einer existenziell gefühlten Schuld, das sich durch Hennings gesamte Lyrik und Prosa zieht. Die Herausgeber Christa Baumberger und Nicola Behrmann zeigen, aus wie vielen Quellen Hennings schöpft. Der große Anmerkungsapparat verweist auf Bibelzitate, Schlagertexte, Volksglaube, Redewendungen und Zitate von Shakespeare bis Goethe. So lässt sich diese expressive Prosa endlich wiederentdecken - nicht zuletzt auch als Anklage einer Autorin, die von verengenden Zuschreibungen wie "Dadafee" unbedingt befreit gehört.
    "Ich habe eine Aversion, die Menschen zu unterhalten. Daran litt ich früher nicht. Es fällt mir schwer, lachen zu machen. Wenn es mir dennoch gelungen ist, gehe ich nach meinem Lied in den Hof, um zu weinen."
    Dass die dadaistische Bewegung mehr war als das Ausstoßen von Urlauten oder die Umsetzung von Collagetechniken, zeigt auch Martin Mittelmeier in seinem Buch "DADA. Eine Jahrhundertgeschichte." Die gemeinsame Erkenntnis aus allen Büchern: Dada ist vielschichtig, je tiefer man eindringt. Geben wir Hugo Ball an diesem Denkdatum das letzte Wort - hier, was er nach dem Eröffnungsabend des "Cabaret Voltaire" heute vor hundert Jahren notierte:
    "Das Lokal war überfüllt. Gegen sechs Uhr abends, als man noch fleißig hämmerte und futuristische Plakate anbrachte, erschien eine orientalisch aussehende Deputation von vier Männlein, Mappen und Bilder unterm Arm; vielmals diskret sich verbeugend. Es stellten sich vor: Marcel Janco, der Maler, Georges Janco... - Arp war zufällig auch da..."
    Dada-Almanach. Vom Aberwitz ästhetischer Contradiction
    Textbilder, Lautgedichte, Manifeste
    Hrsg. von Andreas Puff-Trojan und H.M. Compagnon
    (Manesse Verlag, München)

    Gefängnis – Das graue Haus – Das Haus im Schatten
    Drei Romane der Kabarettistin und Schriftstellerin
    Emmy Hennings in einem Band
    Hrsg. von Christa Baumberger und Nicola Behrmann
    (Wallstein Verlag, Göttingen)

    Lyrikstimmen: Die Bibliothek der Poeten
    CD. 420 Gedichte. 100 Jahre Lyrik im Originalton
    (Der Hörverlag, München)