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"Dämonen" am Schauspiel Frankfurt
Vollendete Unfertigkeit

Was der berüchtigte Stücke-Sezierer Sebastian Hartmann am Schauspiel Frankfurt präsentiert, ist keine Nacherzählung von Dostojewskis "Dämonen". Der Regisseur zeigt vielmehr die Fieberträume seiner Protagonisten. In seinen besten Momenten verschmilzt der schillernde Abend zu einem großen Ganzen, manchmal erscheint er jedoch auch wie eine unfertige Arbeitsprobe.

Von Alexander Kohlmann | 01.02.2015
    Am Ende bleibt nur die Liebe übrig. Da steht sie nun alleine, Dascha oder vielmehr die Schauspielerin, die diese Figur spielt, denn russische Namen und eindeutige Rollen gibt es bei Sebastian Hartmann nicht. Sie steht neben ihrem Geliebten Nikolai, der längst Selbstmord begangen hat. Vor dem geschlossenen eisernen Vorhang, im hell erleuchteten Publikumsraum hat er sich ganz nackt ausgezogen und mit weißer Farbe ein Skelett auf die Haut gemalt. Auch das andere Paar in Dostojewskis Figurenkabinett erkennt die Liebe zueinander erst zum Schluss.
    Als der bärtige Stepan in einem Krankenhausbett stirbt, ist seine mit ihm gealterte Freundin Warwara bei ihm. Noch im Tod bleibt er der verkappte Intellektuelle, hat immer noch eine philosophische Plattitüde auf der Zunge - bevor er stirbt und das Bett vom skelettierten Nikolai auf der Bühne im Kreis geschoben wird.
    Zwei Lebensabende stehen am Schluss. Davor hat Sebastian Hartmann ein faszinierendes Horror-Kabinett gebaut - quer durch Dostojewskis Roman, den dringend gelesen haben sollte, wer hier die Handlung nur einigermaßen verfolgen will.
    Das Russland vor der Revolution setzt Hartmann, der auch als Bühnenbildner fungiert, mit einer schlichten Konstruktion in Szene. Eine russische Blockhütte kreist auf der Drehbühne. Die Rückseite ist offen. Im Inneren ist sie weiß gestrichen. Hier stehen die Stühle von Warwaras Salon - und ein Galgenstrick hängt von oben herab. Neben der Hütte kreist auf der Bühne auch eine riesige, schwarze Fassade, mit schwungvollen barocken Schnörkeln und leeren, ausgebrannten Fenstern - das archaische Russland und die Errungenschaften der Kulturgeschichte - sie liegen dicht beieinander. Beide Elemente können verschoben werden, immer neue Räume entstehen so.
    Durch diese Bauten huschen Gestalten in historisierenden Kostümen, schwarze Hüte und Gewänder im Neonlicht, es könnte auch eine Mormonen-Kolonie in den USA sein. Eine zutiefst kranke Gesellschaft ist das - bei Dostojewski wie bei Hartmann. Da liegt eine körperlich und geistig behinderte Frau im Krankenhausbett, alle stehen drum herum - wie böse Geister. Sehen zu, wie ihr Bruder sich besäuft und sie schlägt. Schwanger war sie, von Nikolai. Das erfahren wir viel später, als der langhaarige Lebemann von Dämonen geplagt wird. Einer ist eben jenes kranke Mädchen, das er schwängerte - aus Überdruss, zum Zeitvertreib. Vor der Rückwand der Holzhütte treffen sie wieder aufeinander, nackt im durchsichtigen Krankenhaus-Leibchen, verknäulen sich, lassen nicht los. Dann dreht sich die Hütte - und ist voller kreischender Opfer - die Opfer von Nikolais lebenslanger Moral-Verneinung, die ihn zum Ende doch packen, bei seinem Gewissen.
    Kein Ende in Sicht
    Bei Dostojewski erzählt die Geschichte, formal klar strukturiert, ein Ich-Erzähler und Beobachter in drei langen Teilen - bei Hartmann verschwimmen die Erzählebenen zu einem unentwirrbaren Ganzen. Wie ein Fiebertraum des sinnsuchenden Nikolai erscheint der Abend. Er ist die zentrale Figur, um die sich bei Hartmann alles dreht. Im schönsten Bild des Abends steigt er auf das Dach der Hütte, wo sein Freund schon auf ihn wartet.
    Im philosophischen Gespräch beginnen sie zu fliegen, während sich die Hütte zu drehen beginnt und die gesamte Bühne nach unten fährt. Ein Strudel der Erkenntnis ist das, der allerdings exakt in der Position endet, in der beide gestartet sind - mit Denken alleine ist noch kein Leben bestritten worden.
    In Szenen wie dieser erzählt Sebastian Hartmann die komplexe Vorlage nicht einfach nur nach, sondern er spiegelt. Er setzt sich und sein Ensemble den Dostojewski-Seelenqualen aus und rotzt schlussendlich auf die Bühne, was die Literatur mit ihnen gemacht hat. Deshalb erscheinen Hartmann-Abende oft so unfertig, es geht nicht um "jemanden etwas erzählen", sondern um ein gemeinsames Reflektieren, das mit der Aufführung nicht endet. Im Gegenteil: Mit der Premiere nimmt das Publikum an der endlosen Probenarbeit teil.
    Einziges Problem dieser Methode, auch diesmal, ist, dass dieser Regisseur kein Ende findet. Die Bühne dreht sich immer weiter, die Szenen werden immer unfertiger, verlieren sich in Improvisationen und Pistolenschüssen, aber finden dann doch den Dreh zum berührenden, postmortalen Zusammentreffen der Liebenden. Vielleicht kann man einen Hartmann-Abend überhaupt nur als einen Probenbesuch und Arbeitsstand rezipieren - mit vielen fantastischen Ansätzen, vielleicht zu fantastisch, um sie endgültig zu einem großen Ganzen zusammenzuführen.