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"Damals herrschte völlige Kopflosigkeit"

Swetlana ALexijewitsch hat in ihrer Chronik über die Atomkatastrophe von Tschernobyl Menschen porträtiert, die von der Katastrophe persönlich betroffen sind. Die Schicksale sind beeindruckende Zeitzeugenberichte.

Von Karla Hielscher | 28.04.2011
    In ihrem 1997 erschienenen Buch über Tschernobyl hat die weißrussische Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch auf der Grundlage von Hunderten einfühlsamer Interviews mit den Betroffenen dem Fühlen und Denken der Opfer dieser Katastrophe Gehör verschafft. Die authentischen Stimmen der Frau des Feuerwehrmanns der ersten Stunde, die man nicht zu ihrem sterbenden Mann lassen wollte, da dieser nun ein "hochgradig radioaktiv verseuchtes Objekt" sei; der alten Bäuerin, die nicht begreift, warum sie aus ihrem Dorf verjagt werden soll, "wo doch alles wächst und blüht"; der soldatischen Liquidatoren, die erst Jahre später - nachdem immer mehr von ihnen krank geworden und gestorben sind - begriffen haben, was geschehen ist und vieler, vieler anderer verbinden sich zu einem kunstvoll komponierten Oratorium über den atomaren Schrecken. 25 Jahre nach der Katastrophe von Tschernobyl ist dieses Buch - mit einem aktuellen Vorwort zur Atom-Debatte - wieder aufgelegt worden. Sein Untertitel lautet "Eine Chronik der Zukunft".

    "Für mich war es sehr wichtig, in diesem Buch - deshalb habe ich es auch "eine Chronik der Zukunft" genannt - zu zeigen, dass die Probleme, mit denen diese Menschen, mit denen wir Weißrussen als erste konfrontiert wurden, dass das die Probleme unserer Zukunft sind. Diese Welt der Technologie, der Atomtechnologie ist vom Menschen nicht beherrschbar. Wir sind Geiseln dieser Situation."

    Das sagte die Autorin in einem Interview im Jahre 1997. Inzwischen sehen wir jeden Tag die verstörenden Bilder aus Fukushima, die die schlimme Befürchtung von Swetlana Alexijewich bestätigen. Dazu die Autorin heute:

    "Natürlich tauchten im Gedächtnis sofort die Bilder auf, die ich in Tschernobyl gesehen habe: die Hilflosigkeit und Fassungslosigkeit der Menschen, die irgendwie versuchten, auf alte Weise zu reagieren. Denn Tschernobyl war die erste derartige große Katastrophe. In Fukushima gab es schließlich schon die Erfahrung von Tschernobyl, die Menschen waren besser vorbereitet. Damals herrschte völlige Kopflosigkeit und die Menschen reagierten so, als ob ein Krieg begonnen hätte. Wir und die ganze Welt haben damals alles auf das totalitäre System geschoben, darauf, dass das eben bei den Russen mit ihrer Schlamperei passiert ist. Sonst in der Welt ist alles anders. Als dann mein Buch erschienen war und ich viel in der Welt herumgereist bin, habe ich überall gehört: Unsere Atomstationen sind gut, bei uns ist alles in Ordnung. Aber es hat sich gezeigt - und das war mein erster Gedanke - dass es nicht am totalitären System liegt, sondern dass es um kompliziertere Probleme geht, um das Verhältnis des Menschen zur Technik überhaupt. Und dass der Mensch heute seine anmaßende Haltung aufgeben, dass er sich eingestehen muss, wie begrenzt seine Möglichkeiten sind. Als ich diese Bilder sah, wie in nur wenigen Minuten aus einer kleinen, dicht besiedelten Stadt - ich war in Japan, ich habe gesehen, wie dicht da alles besiedelt ist - nichts weiter als ein Müllhaufen übrig geblieben war, da dachte ich: das ist nun der Fortschritt. Eine so verfeinerte Kultur, so schöne Häuser - ich hatte in Hokkaido auch die Atomstation gesehen, das war ein wunderschöner Anblick. Und plötzlich hat man gesehen, dass für die Natur das alles ein Nichts ist. Dass das ein ungleicher Kampf ist! Das haben wir vergessen. Darüber müssen wir nachdenken."

    Die Katastrophe in Fukushima hat die von vielen verdrängten Erfahrungen von Tschernobyl wieder ins Bewusstsein gebracht. Und es zeigt sich, dass die Welt bisher keine Lehre daraus gezogen hat, dass die Menschen nicht wirklich grundlegend darüber nachgedacht haben.

    " Ich bin ein Mensch, wir sind Menschen einer Welt, wo das Allerschrecklichste, was wir uns vorstellen können, der Krieg ist, der Atomkrieg. Aber die friedliche Nutzung des Atoms, die ist völlig ungefährlich Und plötzlich hat sich gezeigt, dass die friedliche Nutzung der Atomkraft genauso gefährlich ist wie die kriegerische. Für mich war damit offensichtlich geworden, dass wir an der Schwelle einer Herausforderung stehen, auf die wir absolut nicht vorbereitet sind. Über Tschernobyl haben wir, denke ich, zu wenig geredet. Wir haben es vom politischen Aspekt her betrachtet - also Gorbatschow sagt nicht die Wahrheit, der ist Totalitarist - und vom medizinischen. Aber überhaupt nicht überdacht wurde der weltanschauliche Aspekt. Weil man trotzdem noch dachte, dass das ein Zufall ist, dass das eben bei den Russen passiert ist: die haben, als sie das bauten, geklaut, die haben Wodka getrunken, und überhaupt alles falsch gemacht, die haben da ein totalitäres System, der Mensch ist unterdrückt. Und dann zeigte sich, dass alles ganz anders ist. Und das konnte man sehen, wenn man genau hinschaute! Als die Wissenschaftler die Atomenergie erfanden, hieß es, dass das Risiko eines Unfalls einer in zweitausend Jahren ist. Wir aber hatten innerhalb von 30 Jahren schon den Unfall in Amerika, Tschernobyl und jetzt Fukushima. Und es war natürlich sehr bedauerlich, dass man nicht beweisen konnte, dass wir nur der Anfang waren. Die Menschen bewegen sich noch in den alten Vorstellungen, die aus dem 19. Jahrhundert kommen, dass sie die Natur beherrschen, dass es in ihrer Macht steht, die Welt zu verändern. Aber das ist der Geist des 19. Jahrhunderts! Und dabei haben wir Kräfte freigesetzt, die wir nicht in der Lage sind zu beherrschen."

    Es ist die Ideologie des unaufhörlichen Wirtschaftswachstums unserer Konsumgesellschaft mit ihrem ständig größer werdenden Energieverbrauch, für den die Atomenergie unerlässlich zu sein scheint.

    "Sogar damals schon vor 25 Jahren als ich nach Tschernobyl reiste und alles gesehen habe - und wir haben damals zu Sowjetzeiten sehr bescheiden und ärmlich gelebt - war trotzdem offensichtlich, dass die Werte unserer Zivilisation irgendwie falsch sind. Obwohl die Menschen in Russland bescheiden lebten, gingen sie völlig unsinnig mit Energie um. Niemand hat Strom gezählt, das kostete ein paar Kopeken. Und gleichzeitig arbeiteten diese gefährlichen Atomstationen, durch die wir nicht nur selbst umkommen sondern die ganze Welt verseuchen können. Und dann ist da natürlich noch dieses Zusammentreffen, dass an dem Tag, an dem die Katastrophe in Japan passierte, da sind in Amerika alle bald ausgerastet, weil da irgend so ein neuer iPod verkauft wurde. Das ist es wie wir leben: aus irgendeinem Grund brauchen wir alle zwei Jahre einen neuen Computer, weil das alte System schon wieder nicht mehr geeignet ist; schon nach drei Jahren passt seinem Besitzer aus Prestigegründen sein Auto nicht mehr. Das ist eine völlig verrückte Zivilisation, die in die Sackgasse führt. Und ich bin sicher, Tschernobyl und Fukushima, das sind die ersten ernsten Warnzeichen - und wiederum aus der Zukunft - die uns sagen, dass die Natur das nicht weiter aushalten will und aushalten kann. Und der weitere Bau dieser Atomkraftwerke ohne Ende ist nur dazu da, diese unsere menschlichen Schwächen zu bedienen. Das ist eine absolut falsche Entscheidung."

    Ja, das Buch von Swetlana Alexijewitsch hat durch Fukushima eine ganz unerwartete, bedrückende Aktualität bekommen. Was die Menschen aus Tschernobyl Swetlana Alexijewitsch berichteten, hier wiederholt sich alles: die als Helden gefeierten Männer, die völlig ungeschützt das Dach des Reaktors säubern oder jeden Tag in unzureichenden Schutzanzügen im zerstörten Block ihre Arbeit tun; die Familien, die - obwohl sie zunächst vor der Radioaktivität, die man nicht sehen und nicht riechen kann, keine Angst hatten - aus ihren Häusern in der verstrahlten Zone hastig evakuiert werden und nicht einmal ihre geliebten Haustiere mitnehmen dürfen; das pralle, frische Obst und Gemüse, von dem man auf dem Kiewer Markt nicht sagen darf, dass es aus Tschernobyl kommt.

    Swetlana Alexijewitsch ging es in ihrem Buch um die Rekonstruktion der "Empfindungen und Gefühle von Menschen, die an das Unbekannte gerührt haben." Über die Gefühle der Betroffenen in Japan wissen wir noch sehr wenig.

    Swetlana Alexijewitsch: Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft. Aus dem Russischen von Ingeborg Kolinko. Mit einem aktuellen Vorwort der Autorin. Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt, Berliner Taschenbuch Verlag 2. Auflage April 2011. 298 Seiten, 9,90 Euro