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Daniel Beer
"Das Totenhaus"

Verbannung gehörte zu den brutalsten Strafen im russischen Zarenreich: Kriminelle, aber auch Kritiker des Zarenhauses wurden in die unwirklichsten Gebiete des Landes gezwungen, vor allem nach Sibirien. Der Historiker Daniel Beer schildert in seinem Buch die Hölle sibirischer Straflager.

Von Sabine Adler | 26.11.2018
    Hintergrundbild: Russland: Gruppe von Deportierten und Gefangenen (in der Regel politische Gegner des Zar-Regimes) in den sibirischen Lagern. 19. Jahrhundert (Zeichnung) Vordergrundbild: Buchcover
    Sibirien zur Zarenzeit: eine Keimzelle der Revolution von 1917 (imago stock&people / S.Fischer Verlag)
    Bis zum 16. Jahrhundert zogen durch die Weiten Sibiriens nomadische und halbnomadische Stämme, die von der mongolischen Goldenen Horde beherrscht wurden. Nach deren Untergang eroberte Iwan der Schreckliche den schier unendlichen Raum vom Ural bis zum Pazifik und vom Polarkreis bis zur mongolischen Grenze.
    Der Zar sicherte den neuen Herrschaftsbereich mit Wehrdörfern, stellte aber fest: Dem Land fehlten die Menschen. Arbeiter, Bauern, Händler wurden dringend benötigt. Doch da kaum jemand freiwillig in die unwirtliche Gegend zog, wurden die Menschen dorthin verbannt. Zunächst Strafgefangene, erklärt Daniel Beer per Videoleitung aus London, wo er an der Universität Moderne Europäische Geschichte lehrt: "Zu Beginn des 17. Jahrhunderts lebten in Sibirien, das anderthalb mal so groß ist wie Europa, nur rund 200.000 Menschen", erzählt Beer.
    "Als die Vertreter des Zaren-Reichs Gefangene nach Sibirien deportierten, ging es auch immer darum, diese an bestimmten Orten für unterschiedliche Arbeiten zu verwenden." Etwa im Straßenbau oder in Bergwerken, die zunächst nur primitiv entwickelt waren, oder auch für Holzfällerarbeiten. "Anfangs ging es um mehr oder weniger improvisierte Strafansiedlungen", sagt Daniel Beer. "Im 18. Jahrhunderts aber wurden Strafgefangene ganz bewusst in Sibirien angesiedelt und zur Strafarbeit herangezogen. Sibirien sollte so als gesamter Kontinent besiedelt und an das europäische Russland angebunden werden. Ende des 18. Jahrhunderts wurde aus der anfänglichen Ad-hoc-Besiedlung ein wichtiges strategisches Ziel des russischen Reichs."
    Gigantisches Gefängnis in der Kälte
    Anders als in Nordamerika war die Kolonialisierung Sibiriens nicht von Pioniergeist und Aufbruch geprägt, sondern von Strafe und Druck. Sibirien diente als gigantisches Gefängnis. Dorthin entledigte sich Russland seiner Kriminellen, und die zaristische Justiz erfand immer neue Straftatbestände, um möglichst viele Häftlinge samt Familien ostwärts schicken zu können.
    Doch in ebendieser Zwangsbesiedlung lag der Webfehler des Systems, den der britische Historiker Daniel Beer auf den gut 600 Seiten eindrucksvoll herausarbeitet und von dem er selbst überrascht war: "Ich hatte nicht erwartet, dass es sich um ein nicht funktionierendes System handelte. Es hatte desaströse Auswirkungen für Sibirien selbst und für die Kolonialbestrebungen Russlands in Sibirien."
    Für die Regierung unter den Zaren sei das ein offenes Geheimnis gewesen, sagt Beer. "Von 1820, 1830 an wurden Inspektoren nach Sibirien geschickt, um das Strafsystem zu reformieren. Doch alle kamen zu dem Schluss, dass es eine Fehlkonstruktion war. Wenn Strafgefangene eine Region kolonisieren sollen, kann das nicht zum Erfolg führen. Das Verbannungssystem galt als reformbedürftig und überholt, ein moderner Strafvollzug im europäischen Teil Russlands war nötig. Aber die Antwort war immer die gleiche: gute Idee, aber zu teuer. Und so blieb es dabei, für den Strafvollzug so wenig Geld wie möglich auszugeben."
    Grausame Haftbedingungen
    Der 45-jährige Autor durchforstete akribisch Archive des Innen- und Justizministeriums in Sankt Petersburg und Moskau, Akten der zaristischen Geheimpolizei, Dokumente in Irkutsk und in Tobolsk. Immer auf der Suche nach Berichten, in denen Beamte die Zustände in den sibirischen Gefängnissen, Dörfern und wenigen Städten beschrieben.
    Wie entbehrungsreich und roh das Leben in Sibirien zur Zarenzeit gewesen sein muss, erfuhr der Autor auch aus Gerichtsprotokollen, Protestappellen von Gefangenen, die bessere Bedingungen forderten oder um die Rückkehr aufs Festland baten, gemeint war der europäische Teil Russlands.
    Daniel Beer spielt mit dem Buch-Titel "Das Totenhaus" ganz bewusst auf den Roman von Fjodor Dostojewski "Aufzeichnungen aus einem Totenhaus" an. Der Schriftsteller, der wegen Beteiligung an einer Revolte zum Tode verurteilt, dann aber in die Verbannung geschickt worden war, verbrachte die gesamte Haftzeit in Sibirien in Ketten.
    Einer anderen Gruppe prominenter Verbannter widmet der Autor ein ganzes Kapitel, nämlich den Dekabristen, vor allem deren heldenhaften Ehefrauen. Die waren ihren ebenfalls wegen Aufruhr verbannten Männern hinterhergezogen, um ihnen in der Haft beizustehen. Alle zum Tode verurteilten, aber begnadigten Offiziere entstammten dem Adel und hatten Nikolaus I. 1825 den Eid verweigert.
    Ihre Haftbedingungen unterschieden sich freilich erheblich von denen der übrigen Verbrecher. Schon in der Anreise. Gewöhnlich wurde der Weg zu Fuß zurückgelegt, was zwei, sogar drei Jahre dauern konnte. Am Ziel kamen die Häftlinge derart entkräftet und demoralisiert an, dass sie zur Arbeit kaum noch fähig waren.
    Strafsystem als Katalysator für die Revolution
    Großen Raum nehmen die Schilderungen der widrigen Bedingungen ein, unter denen Gefangene wie Angehörige aber auch entsandte Beamte in Sibirien lebten. Auf Sachalin waren sie derart katastrophal, dass die Insel als Verbannungsort schließlich aufgegeben wurde. Sittenlosigkeit und Gewalt liefen völlig aus dem Ruder.
    Das Verbannungssystem, mit dem die Zaren einen neuen Strafvollzug schaffen und gleichzeitig Sibirien urbar machen wollten, kostete die Herrscher viele Sympathien und war mit Grund für die Revolution 1917. Deren Anführer Lenin wie auch dessen Verbündeter Stalin erlebten die Verbannung am eigenen Leibe, was sie nicht davon abhielt, daran später festzuhalten und das Strafsystem weiter auszubauen.
    Daniel Beer: "Ohne jeden Zweifel waren die sowjetischen Gulag-Straflager sehr viel schlimmer. Die Überlebensquoten waren viel niedriger, auf jeden Fall in der schrecklichsten Zeit, also in den 1930er Jahren und während des Zweiten Weltkrieges war die Chance, ein Gulag-Straflager lebend zu verlassen, sehr viel geringer als während der Zarenzeit."
    "Ein schwacher Staat"
    Die plastischen Schilderungen der Züchtigungsversuche an Gefangenen sind für zart besaitete Leser mitunter schwer auszuhalten. Und doch sind sie wichtig, um das Russland jener Zeit und nachfolgende Entwicklungen zu verstehen.
    Für Daniel Beer ist die Brutalität auch ein Gradmesser von Zivilisation: "Russland in jener Zeit ist ein schwacher Staat, ohne entwickelte administrative Strukturen. Die Beamten sind isoliert, oft tausende Kilometer von Städten entfernt. Und einige von ihnen waren erwiesenermaßen selbst gewalttätig und gefährlich. Gewalt wurde mit Disziplin gleichgesetzt und auf furchterregende Weise in demonstrativen Akten vorgeführt. Fürchterliche Auspeitschungen und Hinrichtungen dienten der Einschüchterung der Verurteilten und erzwangen so ihren Gehorsam."
    Selbstverständlich weiß der Autor, dass Sibirien mit dem Ende der Zarenherrschaft nichts von seinen Schrecken verlor, doch er beschränkt sich konsequent auf die Jahre bis 1917. Wer dieses Buch liest, lernt viel über den russischen Staat und seine Untertanen und versteht das Land vielleicht um einiges besser.
    Daniel Beer: "Das Totenhaus. Sibirisches Exil unter den Zaren", übersetzt von Bernd Rullkötter,
    S. Fischer Verlag, 624 Seiten, 28 Euro.