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Daniel Kehlmann
"E.L. Doctorow hat meinen Stil stärker geprägt als die meisten anderen"

Für den Autor Daniel Kehlmann war er ein großes Vorbild: der in dieser Woche verstorbene US-amerikanische Schriftsteller E. L. Doctorow. Kehlmann beschreibt im DLF-Interview die verschiedenen Doctorow-Stile, erzählt, warum der Autor ihn so beeinflusst hat und wie er sich ein wirkliches Herzensbedürfnis erfüllte.

Daniel Kehlmann im Gespräch mit Maja Ellmenreich | 22.07.2015
    Daniel Kehlmann, deutscher Schriftsteller, aufgenommen am 03.03.2012 in Mainz.
    "Doctorow war wirklich unglaublich offen, liebenswürdig und interessiert zu einem Zeitpunkt, wo überhaupt noch kein Buch von mir auf Englisch vorlag", berichtet der Schriftsteller Daniel Kehlmann im Deutschlandfunk. (picture alliance / Erwin Elsner)
    Maja Ellmenreich: Doch zunächst zu dem Mann, dessen Eltern bei der Namensgebung im Jahr 1931 hoch gepokert haben: Die Pianistin und der Musikalienhändler namens Doctorow aus New York, sie nannten ihren neugeborenen Sohn Edgar Lawrence. Die Ähnlichkeit zu Edgar Allan Poe war wohl beabsichtigt, und der Sohn erfüllte, vielleicht übertraf er sogar die Erwartungen seiner Eltern: Mit neun Jahren bereits soll er den Entschluss gefasst haben, Schriftsteller zu werden.
    Er wurde einer der größten der US-amerikanischen Literaturwelt. E. L. Doctorow hat unter anderem über Mafiabanden im New York der 30er-Jahre geschrieben, über die Kommunistenjagd in der McCarthy-Ära und über den amerikanischen Bürgerkrieg. Seine Romane "Ragtime", "Billy Bathgate", "Der Marsch" und noch viele andere – sie führten die Bestsellerlisten an und wurden mehrfach ausgezeichnet. Gestern ist E. L. Doctorow im Alter von 84 Jahren in New York gestorben.
    Der Autor Daniel Kehlmann hat einmal gesagt, durch seinen ersten Doctorow-Roman "Billy Bathgate" habe er begriffen, was das eigentlich sei, die Stimme eines Romans. Frage an Daniel Kehlmann nach Berlin: War das bei Doctorow stets dieselbe Stimme? Oder hat er für jedes Buch eine eigene Stimme gefunden?
    Daniel Kehlmann: Er hat für jedes Buch eine eigene Stimme gefunden. Das gehörte ganz stark zu seinem Verständnis des Schreibens dazu, dass er sozusagen, so hat er das beschrieben, für jedes Buch erst mal einen Schriftsteller erfindet, und der Schriftsteller schreibt dann das Buch.
    Als ich gesagt habe, durch "Billy Bathgate" habe ich verstanden, was das ist, die Stimme eines Buches, das wurde mir plötzlich klar, diese seltsame Schönheit, die darin liegt, dass man eine Haltung findet, eine innere sprachliche Haltung zu einer Geschichte und diese Haltung dann eigentlich die Geschichte hervorbringt und sich in der Geschichte äußert. Das ist der Ton oder eigentlich die Stimme eines Buches. Das war bei ihm immer sehr stark und immer anders.
    Doctorow-Stile: extrem lakonisch, stark ausufernd oder sehr experimentell
    Ellmenreich: Also die Haltung, die Stimme ist die eine Sache. Wie sieht es mit der Sprache aus? E. L. Doctorow hat ja selbst als Dozent an mehreren Universitäten gelehrt, war selbst sogar einige Jahre lang Lektor in einem Verlag. Welche Sprache also hat er für sich gefunden? Elegisch, kurz-knapp, bildreich, nüchtern, oder hat er da sich auch jedes Mal einer anderen Sprache bedient?
    Kehlmann: Ich denke, es gibt zwei oder drei verschiedene Doctorow-Stile. Nicht unendlich viele, aber es gibt zwei, drei, die sehr unterschiedlich sind. Der eine ist dieser sehr stark distanzierte, manchmal wirklich extrem lakonische Stil, der er für Bücher wie "Ragtime" oder dann auch "The March" verwendet hat, wo eigentlich immer Dinge, die bei jemand anderem zehn, zwanzig Seiten in Anspruch würden, mit so einer scharfen Lakonie auf eine Seite oder einen Absatz zusammenschrumpfen.
    Und das andere ist der Stil zum Beispiel von "Billy Bathgate", der ganz stark ausufert, also mit extrem langen Sätzen, der sehr musikalisch ist und wo man tatsächlich gar nicht glaubt, dass das derselbe Autor ist. Und noch ein anderer Stil von ihm wäre der sehr experimentelle Stil von "The Book of Daniel" wie dann auch in seinem letzten Roman "Andrew's Brain", wo er das Prinzip des unzuverlässigen Erzählers zum Extrem treibt.
    Man liest das Buch und kennt sich zunächst gar nicht richtig aus, und alles wirkt sehr merkwürdig und ein bisschen aberwitzig, und dann kommt man erst drauf, dass das Ganze das psychologische Porträt eines sehr verstörten Erzählers ist. Und dieser Erzähler ist selber die Hauptfigur. Also ich denke, diese drei Stile sind wirklich schwer auf einen Nenner zu bringen. Zwischen denen ist er selbst mit großem Erfolg hin und her gesprungen.
    "Geschichte war eines seiner Hauptthemen als Erzähler"
    Ellmenreich: Einen Nenner aber, vielleicht kann man den doch in seinem Werk ausfindig machen, ist das Spiel mit der Geschichte. Er hat ja mehrfach fiktionale Charaktere in historische Kontexte hineingeschrieben. War er für Sie ein literarischer Historiker oder vielleicht eher ein historisierender Literat?
    Kehlmann: Er war ein Literat, der gezeigt hat, wie viel man als Erzähler mit Geschichte machen kann. Die Geschichte war eines seiner Hauptthemen als Erzähler. Und eben nicht einfach nur Geschichte im Allgemeinen, sondern man könnte sagen, der immer wieder verschüttete, vergessene Zug der Ungerechtigkeit, Gewalt und Grausamkeit in der amerikanischen Geschichte. Im Fall von "Ragtime" hat er da übrigens auf Kleist zurückgegriffen und hat die Fabel ja aus "Michael Kohlhaas" genommen.
    Aber dieser Umgang mit der Geschichte war dann wiederum sehr frei. Also das heißt, er hat sehr viel erfunden, er hat bei "Ragtime", und das war eben etwas, was für mich sehr stark vorbildhaft wurde, er hat in "Ragtime" wirklich Fakten und Erfindungen gemischt, ohne sich darum zu kümmern, ob man überhaupt noch rekonstruieren kann, was hier wahr ist und was erfunden. Und er hat sich auch immer geweigert, es später aufzuschlüsseln. Also wenn man ihn gefragt hat, was stimmt denn nun, diese oder jene Szene in "Ragtime", er hat es nie verraten.
    Ellmenreich: Wenn man ihn gefragt hat, haben Sie gerade gesagt. Haben Sie ihn persönlich fragen können?
    Kehlmann: Ich habe ihn kennenlernen dürfen, ja. Ich habe zweimal mit ihm sprechen dürfen. Das eine Mal war 2006, als ich gerade nach New York kam mit einem Stipendium. Und es war ein Stipendium der New York University, und eine Professorin wusste, wie sehr ich ihn verehre, und hat gesagt, der arbeitet doch hier, und wollen Sie ihn vielleicht treffen?
    "Diese Dankesschuld, die ich ihm gegenüber empfinde"
    Und ich sagte, mein Gott, der hat doch sicher anderes zu tun. Und sie hat dann aber die Verbindung hergestellt, und Doctorow lud mich auf einen Kaffee ein und wir sprachen länger, und er war wirklich unglaublich offen, liebenswürdig und interessiert zu einem Zeitpunkt, wo überhaupt noch kein Buch von mir auf Englisch vorlag, muss ich dazusagen, einfach nur aufgrund der Tatsache, dass da ein jüngerer Schriftsteller sich so für sein Werk interessiert.
    Und das andere Mal, das mir sehr viel bedeutet hat, das war einige Jahre später, da bekam er dann den Erwin-Piscator-Preis in New York, und da durfte ich dann eine Laudatio auf ihn halten, und das war mir natürlich, wie soll ich sagen, es war mir wirklich ein Herzensbedürfnis, diese Dankesschuld, die ich ihm gegenüber wirklich empfinde – er hat meinen persönlichen Stil stärker geprägt als wohl die meisten anderen Schriftsteller – ihm das auch mal öffentlich sagen zu dürfen und zu können, und er musste es sich anhören. Ich weiß nicht, vielleicht war es ihm auch egal, aber in der Situation musste er sich das anhören.
    Ellmenreich: Der Autor Daniel Kehlmann. Mit ihm sprach ich über sein großes Vorbild, den US-amerikanischen Autor E. L. Doctorow, der gestern in New York gestorben ist. Vielen Dank nach Berlin! Die wacklige Telefonleitung bitten wir zu entschuldigen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.