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Daniel Kehlmann
Hemmungslos subjektiv

Daniel Kehlmann ist nicht nur ein erfolgreicher Schriftsteller, sondern auch ein besessener Leser. Im Rowohlt-Verlag hat der Autor von Weltbestsellern nun ein Buch vorgelegt, in dem er Auskunft über seine Lektüre-Obsessionen gibt: "Kommt, Geister" heißt der Band - es handelt sich um die Textfassung der "Poetik-Vorlesungen", die Kehlmann im Sommersemester 2014 an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt gehalten hat.

Von Günter Kaindlstorfer | 02.12.2015
    Daniel Kehlmann, deutscher Schriftsteller, aufgenommen am 03.03.2012 in Mainz.
    Daniel Kehlmann, deutscher Schriftsteller, aufgenommen am 03.03.2012 in Mainz. (picture alliance / Erwin Elsner)
    Man muss hemmungslos subjektiv sein: Das war wohl Daniel Kehlmanns Devise, als er am 3. Juni 2014 das Audimax der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität betrat, um vor mehr als 1.000 Zuhörenden die erste von fünf "Frankfurter Poetik-Vorlesungen" zu halten:
    "Ich wollte über mich sprechen als Autor, ohne eigentlich über mich zu sprechen. Das war das, was ich mir vorgenommen habe."
    Soll heißen: Kehlmann sprach vor allem über seine Lieblingsautorinnen und -autoren, und das sind, man weiß es, weniger die strammen Realisten und schon gar nicht die tollkühnen Syntax-Zertrümmerer der "Konkreten Poesie" und der "Wiener Gruppe", sondern Leute wie Gabriel Garcia Marquez, Leo Perutz, J.R.R. Tolkien und Jorge Luis Borges, innovationsfreudige Konstrukteure phantastischer Literaturwelten also, von denen sich Kehlmann einiges abgeschaut hat, wie er bekennt:
    "Als ich in Wien Germanistik studiert habe, galt die Wiener Gruppe als das Allergrößte und das Allerinteressanteste, aber mich hat das nie so gefesselt. Mich haben Borges oder Perutz mehr gefesselt, die eine geschlossene, nachvollziehbare syntaktische Struktur haben, die auch vordergründig Ereignisse der realen Welt erzählen, aber wenn man genauer liest, merkt man plötzlich, das ist gar nicht so."
    Mythen und Märchen sind der unersetzliche Urstoff aller Literatur, gerade auch in der Moderne, so Kehlmann. Interessant wird's für den in Wien und Berlin lebenden Schriftsteller immer dann, wenn sich dieses Interesse an mythischen Motiven mit strukturellen Experimenten paart, wie Leo Perutz - eines von Kehlmanns Idolen - in mehreren Büchern meisterhaft vorgeführt hat:
    "Das Faszinierende an Perutz ist: Er ist ein metaphysischer Autor ohne irgendwelche religiösen Aspekte zu haben. Er ist jemand, der sich sehr interessiert für, sagen wir einmal, geheimnisvolle Zusammenhänge hinter der sichtbaren Wirklichkeit, ohne dass das esoterische Bedeutungen annimmt. Insofern ist er unter den deutschsprachigen Autoren der am stärksten Nabokov-Ähnliche, und das zeigt sich bei ihm wiederum auch dadurch - abgesehen davon, dass er spannende Bücher schreibt - dass er so sehr an erzählerischer Struktur interessiert ist. Und das ist eben auch etwas, das mich sehr beschäftigt: die Frage, was man an existenzieller Wahrheit über das Leben erzählen kann über die STRUKTUR von Büchern, und was man damit für Experimente machen kann. Also, dieses Interesse für Struktur habe ich sehr stark von Perutz gelernt, und da ist so eine Vorlesung natürlich eine schöne Gelegenheit, sich mit so einem Autor auch als Geste der Dankbarkeit auseinanderzusetzen."
    Daniel Kehlmann beschäftigt sich in seinen Poetik-Vorlesungen nicht nur mit Leo Perutz, sondern auch mit anderen Hausgöttern seines künstlerischen Pantheons: mit Grimmelshausen, Shakespeare, Jeremias Gotthelf, Georg Kreisler und W.G. Sebald zum Beispiel - aber auch mit Peter Alexander, einer der ästhetischen Schreckensgestalten seiner Kindheit und Jugend. In einer ausführlichen Analyse des Films "Peter schießt den Vogel ab" aus dem Jahr 1959 lässt Kehlmann seiner Aversion gegen einen der, wie er findet, abgründigsten Schmierenkomödianten der Nachkriegszeit freien Lauf.
    "Wie schade, dass der Erfinder des Begriffs Kulturindustrie sich nie über Peter Alexander geäußert hat. Denn es gab keinen anderen Unterhalter, der so lange so hoch in der Gunst des deutschen Publikums stand. 1926 geboren, ist er zu jung, um tief verstrickt sein zu können: Arbeitsdienst, Wehrmacht, Flakhelfer, Kriegsmarine, Kriegsgefangenschaft, ein abgebrochenes Medizinstudium, dann schon erste Erfolge als Schlagersänger. Ab Mitte der 50er-Jahre hält Peter Alexanders Laufbahn ohne Unterbrechung und ohne Tief bis zum Beginn der 90er-Jahre an, als er nach über 15 Millionen verkauften Platten immer noch in seiner alljährlich vom ganzen Land erwarteten Fernsehshow internationale Größen dazu zwingt, sich gemeinsam mit ihm zu erniedrigen.
    "Wenn ich da so neben dem Johnny Cash stehe", sagt er glucksend zu dem verwirrten Weltstar im schlecht sitzenden Frack, "möchte ich am liebsten gleich mit ihm loslegen." Seine Hände zucken, und sogleich ruft er auch: "Es juckt einen richtig!" Dabei zwinkert er verschwörerisch, wie er es immer tut, wenn er in eine Kamera blickt. So hetzt er von seinem zwanzigsten Lebensjahr bis zu seinem letzten Auftritt mit achtzig agil, lustig, hektisch und augenzwinkernd einem Ideal von Gelöstheit und Witz nach, das stets in Reichweite scheint und doch nie erreicht wird, als säße ihm der Satan im Nacken, als könnte er auf diese Art für ein ganzes Land jene Leichtigkeit zurückgewinnen, die es nie mehr besitzen wird."
    "Es wird ja gerne gesagt über Peter Alexander, das wäre noch ein Könner gewesen, der österreichische Frank Sinatra oder so etwas. Aber wenn man ihn sich bewusst und unverklärt ansieht, dann ist es schon unglaublich, wie unecht jede einzelne Geste ist. Er ist wie ein großes Gesamtkunstwerk der vollkommenen Inauthentizität. Und die Filme, also, dass die schlecht sind, ist gar nicht der Punkt, die sind auf eine gewisse Art wirklich wahnsinnig."
    Am Beispiel Peter Alexanders arbeitet Kehlmann die unerhörte Verdrängungsleistung heraus, die die deutsche und österreichische Unterhaltungskultur der Wirtschaftswunderzeit dem Nationalsozialismus gegenüber an den Tag gelegt hat. Dem stellt der Schriftsteller nicht nur die große Ingeborg Bachmann gegenüber, sondern auch einen der bedeutendsten Juristen des Zwanzigsten Jahrhunderts: den hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der in den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren mit verantwortlich dafür war, dass die "Frankfurter Auschwitz-Prozesse" ins Rollen gekommen sind:
    "Fritz Bauer steht für das Nichtakzeptieren des Vergessens und der Straflosigkeit, er steht dafür, Deutschland mit dem zu konfrontieren, was passiert ist. Ingeborg Bachmann steht für das Sich-im-Bewusstsein-Halten dessen, was passiert ist, und sie steht eben auch für etwas, was die Gruppe 47 zu diesem Zeitpunkt gar nicht so wollte, nämlich für die große internationale Öffnung in der Literatur: Sie gehörte zu den wenigen, die Sprachen konnten, die sich interessiert haben für die Frage, was wird in Italien und in Spanien geschrieben. In vollständigem Kontrast dazu steht für mich Peter Alexander, der für den Komplex der deutschen Massenunterhaltung der Nachkriegszeit steht. Und meine These ist eben auch als Erzähler: Wenn man sich diese Filme ansieht und dann nacherzählt, dann ist es nachgerade unglaublich, auf was für einem Komplex der Verdrängung man da stößt. Das zeigt ja auch, wie neurotisch das alles ist. Interessant ist aber auch, wieviel von den verdrängten Inhalten sich doch wieder zeigt in diesen Filmen. Verdrängung zeigt sich ja dann eben doch auch immer."
    Die Geschichte der Gruppe 47 wurde von ihren Adepten lange Zeit als Heldengeschichte erzählt, als Geschichte eines Häufleins linksliberaler Intellektueller, das dem restaurativen Muff der Adenauerjahre zumindest kulturpolitisch ein wenig Widerstand entgegengesetzt hätte. Eine idealisierende Mystifikation, wie Daniel Kehlmann findet:
    "Ja, weil die Gruppe 47 eben auch für die Ausschließung der Emigration stand. Man wollte neu beginnen, aber man wollte nicht nur neu beginnen gegen die Nazis, sondern man wollte auch neu beginnen in dem Sinne, dass man nicht von den zurückkehrenden Emigranten gestört werden wollte. Das ist teilweise schon auch unschön, wie die Gruppe 47 auch Ausschließungsprozesse zeigt. Gleichzeitig sage ich aber auch, wenn man sich wiederum Peter-Alexander-Filme aus dieser Zeit anschaut, dann erinnert man sich wieder daran, wie groß die Verdienste dieser Autoren sind, und wie unglaublich kraftvoll die neurotische Verdrängung war, gegen die Leute wie Böll oder Grass da so machtvoll aufgetreten sind. Man braucht dann eben doch wieder Peter Alexander - als pars pro toto gesprochen -, um doch nicht zu vergessen die Verdienste der Gruppe 47."
    Daniel Kehlmann präsentiert sich in seinen "Frankfurter Poetikvorlesungen" als politisch wacher und ästhetisch reflektierter Schriftsteller. Darüber hinaus macht der Band aber auch Lust darauf, den einen oder anderen der von Kehlmann liebevoll vivisezierten Autoren wieder einmal zur Hand zu nehmen. Von Jeremias Gotthelf beispielsweise hat man schon länger nichts gelesen.
    Daniel Kehlmann: "Kommt, Geister"
    Frankfurter Poetik-Vorlesungen, Rowohlt-Verlag, Reinbek, 176 Seiten