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Danilo Kiš-Biografie
33 Kapitel aus zwei Seiten

Auf Grundlage von nur zwei Seiten einer autobiografischen Schrift von Danilo Kiš hat der britische Historiker Mark Thompson eine beeindruckende Biografie des serbokroatischen Schriftstellers gesponnen. Das Werk ist keine lineare Erzählung, sondern ein vielstimmiger Kommentar, der auch Kišs wichtigstem Werk "Familienzirkus" gerecht wird.

Von Brigitte van Kann | 05.03.2015
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    Aus den zwei Seiten von Danilo Kišs "Geburtsurkunde" generiert sein Biograf Mark Thompson insgesamt 33 Kapitel. (picture alliance / dpa / Andreas Weihmayr)
    "Danilo Kiš war besessen von der Schriftstellerei, der Politik und der politischen Ungebundenheit der Kunst, er war ein glühender Antikommunist und Antinationalist, und er war ein Mann mit liberalen Überzeugungen und starken Gefühlen. Eine "ethnografische Rarität", ein säkularer, halbjüdischer Gnostiker, ein sinnlicher, der Lust zugetaner Mann, ein vom Verlust Getriebener, ein Bohemien, den einzig seine Berufung zur Ordnung zwingen konnte: Aus diesen Kämpfen mit sich und seinem gesellschaftlichen Umfeld gewann Kiš vier oder fünf überragende Bücher, wie im Rausch geschrieben in der Einsamkeit, bis zum Äußersten verdichtet, und wurde so zum Genie einer bestimmten Zeit, Erfahrung und Region."
    Gleich zum Auftakt seiner "Geschichte von Danilo Kiš" serviert der Biograf ein Konzentrat seiner Forschungen, mit dem er die Neugier des Lesers gehörig anheizt und auf Außerordentliches einstimmt. Wer seinen Gegenstand mit solcher Verve interessant macht, verpflichtet sich, auf der Höhe eben dieses Gegenstands zu sein und nicht zu langweilen. Der britische Historiker Mark Thompson hat sich also in mehrfacher Hinsicht etwas vorgenommen - und, soviel vorab, er enttäuscht den Leser nicht.
    Schon die Form, die er gefunden hat, ist so außergewöhnlich wie überzeugend: Thompson entfaltet Kišs Leben nicht als konventionelle Linear-Erzählung von der Wiege bis zur Bahre, sondern als vielstimmigen Kommentar zu einem autobiografischen Text des Autors mit dem Titel "Geburtsurkunde" und einem Umfang von kaum mehr als zwei Seiten. Punkt für Punkt geht der Biograf diese Selbstauskunft durch und nimmt einzelne Sätze, Formulierungen, ja sogar einzelne Wörter in den Blick - jedem der so ermittelten Punkte widmet er ein Kapitel. Auf diese Art und Weise kommt die wohl weit ausgreifendste Exegese zustande, die je eine autobiografische Miniatur erfahren hat.
    Selbstverständlichkeit als "europäischer Schriftsteller"
    Um es an einem Beispiel zu demonstrieren: Den ersten Satz in Kišs "Geburtsurkunde", die Aussage "Mein Vater erblickte das Licht der Welt im Westen Ungarns", untersucht Thompson in drei Kapiteln: Das erste befasst sich mit dem Schicksal von Kišs jüdischem Vater, der im Werk seines Sohnes eine zentrale Rolle spielt. Das zweite geht von der Formulierung "erblickte das Licht der Welt" aus und gibt dem Biografen Anlass, über die Bedeutung der Metapher in Kišs Werken nachzudenken. Das dritte Kapitel nimmt die harmlos erscheinende Ortsangabe "im Westen Ungarns" zum Ausgangspunkt und führt zu eindrucksvollen zwölf Seiten über Mitteleuropa, von der Geografie über die historischen Verwerfungen, denen dieser Raum ausgesetzt war, zuletzt "zwischen russischem Hammer und deutschem Amboss", wie Thompson schreibt.
    Was wie ein assoziatives Verfahren "vom Hölzchen aufs Stöckchen" klingt, führt doch immer wieder zu Danilo Kiš zurück, zu seinem Selbstverständnis als "europäischer Schriftsteller", der sich seiner zentraleuropäischen Herkunft verbunden fühlt. Kišs Idee von Mitteleuropa speiste sich aus einer Sehnsucht nach "weiteren, demokratischeren europäischen Horizonten", wie er schrieb. In der Realität des Ostblocks sah sich der Schriftsteller zwischen zwei Repressionsmechanismen gespannt, die kommunistische Ideologie und den Nationalismus. Nur in der Sprache und der Literatur, in der Suche nach immer neuen Formen in der Prosa fand Danilo Kiš Freiheit:
    "Wenn eine Erzählung die Gnade der Form erlangt, ist sie nicht länger Träger einer expliziten Idee oder Botschaft, eine Erzählung ist keine Nachricht und überbringt keine Nachrichten, weder falsche noch wahre (eine Erzählung ist keine Zeitung): eine Erzählung ist eine mögliche Art, die Welt zu sehen und zu spüren und diese Möglichkeit [...] ist die elementarste Form schöpferischer Freiheit."
    In Marschall Titos kommunistischem Jugoslawien hatte diese Freiheit den bitteren Preis des Nichtdazugehörens. Danilo Kiš nahm ihn bewusst in Kauf. Als die Kulturbürokratie 1978 auf seinen antistalinistischen Erzählzyklus "Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch" mit einer politisch motivierten Plagiatskampagne gegen ihn reagierte, verließ er Serbien und ging ins Exil nach Paris, wo er 1989 gestorben ist.
    Thompson drängt sich nicht in den Vordergrund
    Aus den zwei Seiten von Danilo Kišs "Geburtsurkunde" generiert sein Biograf Mark Thompson insgesamt 33 Kapitel: Er fördert die Familiengeschichte des Autors zutage, die politische Geschichte der Länder, in denen er aufwuchs - Ungarn, Serbien und Montenegro -, Freund und Feind, seine die literarische Verwandtschaft - Borges, Nabokov, Bruno Schulz und Joseph Brodsky -, seine Sicht der Welt und seine kompromisslose Poetik mit ihren eigenen Gesetzen, die Armut und die prekären Wohnverhältnisse in seinen jungen Jahren, sein exzessives nächtliches Trinken und seinen exzessiven Zigarettenkonsum bei Tag und bei Nacht - Lebensumstände und Gewohnheiten, die ihn mit 54 Jahren ins Grab brachten.
    Mark Thompson hat Kišs Wohnorte aufgesucht, mit Menschen gesprochen, die den Schriftsteller kannten - und flicht die Ergebnisse seiner Recherchen dezent und en passant ein, ohne sich in den Vordergrund zu schieben. Er scheut sich nicht, Fragen zu stellen, die selbst er, der soviel über den Autor weiß, nur in der Möglichkeitsform beantworten kann.
    Danilo Kišs autobiografisch grundiertes Werk bezieht Mark Thompson mit ein und bringt ausgewählte Zitate zum Klingen, zum Beispiel, wenn es um das mütterlich-montenegrinische Erbe des Autors geht, um seine frühe Bekanntschaft mit der mündlichen Tradition des Erzählens, das für seine Mutter ein Rettungsanker in der Not war:
    "Also erzählte sie mir in epischen Monologen die Geschichte ihrer Kindheit zwischen Feigen- und Orangenbäumen, eine idealisierte Kindheit wie in den biblischen Geschichten, denn wie in der Bibel ließ sie goldvliesige Schafe weiden und junge Esel schreien, und die Feige war die auserwählte Frucht. Meine Mutter setzte den Märchen des Herbstregens ihre eigene Legende entgegen und machte sie an Zeit und Raum fest, brachte mir zum Beweis eine Weltkarte (1: 500 000, aus Vaters Nachlass), auf der sie mir mit der Spitze ihrer Stricknadel dieses Arkadien zeigte, dieses sonnige Dorado ihrer idealisierten Kindheit, diesen sonnenüberfluteten Ölberg, dieses Montenegro."
    Formexperiment der autobiografischen Exegese
    Zwischen die aus Kišs Autobiografie destillierten Themen-Cluster setzt Mark Thompson sieben Kapitel, die er als "Zwischenspiele" bezeichnet und die sich, auf hellgraues Papier gedruckt, auch optisch vom biografischen Teil abheben. Jedes "Zwischenspiel" ist einem der großen Werke des Autors gewidmet: Hier wird der Leser bei der Hand genommen: Der Biograf weist ihn ein in Danilo Kišs Kosmos aus Familien- und Welthistorie, leuchtet die Struktur der Werke aus und erläutert ihre Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte. Im Zentrum stehen natürlich die drei Romane des "Familienzirkus": "Frühe Leiden", eine Kindheitsrecherche aus der Perspektive des Kindes, "Garten, Asche", die bewegende Suche nach dem Vater, der in Auschwitz verschwand, und "Sanduhr", die literarische Exegese eines durch Zufall erhaltenen Briefes eben dieses Vaters. Diese "Zwischenspiele" können den Kommentar ersetzen, der in Hanser-Werkausgabe leider fehlt.
    "Um der Wahrheit nahezukommen", schreibt Mark Thompson einleitend, "sollte ein Buch über Kiš experimentell sein, enzyklopädisch und mit einem Hauch Epigonentum." Das ist ihm gelungen: im Formexperiment der autobiografischen Exegese, in der leserfreundlich geordneten Fülle der Interludien, in der so erzeugten Polyfonie und Multiperspektive, die auch Danilo Kišs Werke auszeichnen.
    Mark Thompson, Geburtsurkunde. Die Geschichte von Danilo Kiš. Aus dem Englischen von Brigitte Döbbert und Blanka Stipetic. Carl Hanser Verlag, München 2015. 510 Seiten. 29,90 Euro.
    Danilo Kiš, Familienzirkus. Die großen Romane und Erzählungen. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Ilma Rakusa. Carl Hanser Verlag, München 2015. 910 Seiten. 34,90 Euro.