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Dankbarkeit und Verbitterung

Die Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" hat bis 2007 rund 4,4 Milliarden Euro an mehr als eineinhalb Millionen Opfer von Zwangsarbeit und NS-Unrecht ausgezahlt. Ein internationales Wissenschaftlerteam hat untersucht, wie das Entschädigungsprogramm angenommen wurde.

Von Isabel Fannrich | 06.09.2012
    Gerade einmal 2.500 Euro konnte ein früherer Zwangsarbeiter von der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" bekommen. Vorausgesetzt er oder sie war während der NS-Zeit aus der osteuropäischen Heimat ins "Deutsche Reich" oder in ein besetztes Gebiet deportiert worden. Und nicht mehr als 7.700 Euro gab es für die so genannten jüdischen "Sklavenarbeiter", deren Arbeitskraft in einem Konzentrationslager oder geschlossenen Ghetto ausgebeutet worden war – mit dem Ziel, sie zu vernichten.

    "Was macht das mit den Menschen, die Entschädigungen bekommen oder keine Entschädigung bekommen? Wozu ist es am Ende dann gut gewesen, außer – um es vielleicht etwas salopp zu sagen – dafür, dass diejenigen, die das Geld gegeben haben, sich dann vielleicht ein bisschen besser fühlen können. "

    Dieser und anderen Fragen ist ein 20-köpfiges Wissenschaftlerteam unter der Leitung von Constantin Goschler von der Ruhr-Universität Bochum nachgegangen. Herausgekommen ist dabei das jetzt erschienene Buch "Die Entschädigung von NS-Zwangsarbeit am Anfang des 21. Jahrhunderts". Darin ist von Entschädigung allerdings weniger die Rede. Vielmehr sprechen die beteiligten Historiker, Soziologen und Ethnologen angesichts der niedrigen Summen von einer symbolischen Geste oder Anerkennung erlittenen Unrechts.

    Hatte früher das Bundesentschädigungsgesetz vorgeschrieben, die individuellen Ansprüche von NS-Opfern detailliert auszurechnen, waren beim Auszahlungsprogramm der Stiftung auf internationalem Parkett Pauschalleistungen ausgehandelt worden. Ein politischer Spagat, um die deutsche Wirtschaft und Industrie vor Sammelklagen aus den USA zu schützen und zugleich erstmals die osteuropäischen Zwangsarbeiter zu berücksichtigen.

    Für die pauschale Summe mussten die bereits betagten Antragsteller ihren Anspruch nicht aufwändig beweisen, die Stiftung diesen nicht zeitraubend überprüfen. Für den Historiker Constantin Goschler musste diese Entscheidung zwangsläufig zu Gefühlen von Ungerechtigkeit führen.

    "Der Preis dafür war natürlich, dass damit auch ein Stück an Einzelfallgerechtigkeit wiederum verschwunden ist. Das wurde von den Opfern dann manchmal kritisiert. Jetzt bekommt jemand genauso viel wie ich, obwohl ich dreimal so lange Zwangsarbeit geleistet habe."

    Dabei liest sich das Ergebnis durchaus positiv: Mithilfe von Partnerorganisationen in den osteuropäischen Ländern, aber auch der Jewish Claims Conference konnte die Stiftung rund viereinhalb Milliarden Euro verteilen. Das Geld, das die Bundesregierung und deutsche Unternehmen gestiftet hatten, wurde an mehr als eineinhalb Millionen Menschen ausbezahlt.

    Aus mehr als 100 Ländern meldeten Menschen ihre Ansprüche – eine komplexe Gruppe von Antragstellern, die sich allerdings in zwei Teile spaltete. So fanden die Wissenschaftler heraus, dass die jüdischen und nicht-jüdischen Zwangsarbeiter das Auszahlungsprogramm sehr unterschiedlich wahrnahmen.

    "Durch die jahrzehntelange Auseinandersetzung mit der Entschädigung mussten die Menschen ja immer wieder ihre Vergangenheit erzählen, und zwar immer wieder neu in den Kategorien, die in den jeweils anstehenden Gesetzen zentral waren. Und das bedeutete unter Umständen auch, dass sie ihre eigene Verfolgungsgeschichte auf einmal neu erzählen oder anders akzentuieren mussten. Und das war gerade für jüdische Verfolgte immer wieder ein Problem. Sie haben sich als Betroffene der Shoah gesehen und auf einmal sollten sie sich als Zwangsarbeiter sehen."

    Dagegen hatte kaum ein nicht-jüdischer Zwangsarbeiter aus Ländern wie Russland, Weißrussland und der Ukraine, aus Polen, Tschechien oder den baltischen Staaten bis dato eine Entschädigung erhalten.

    "Im Prinzip sind die ehemaligen Zwangsarbeiter und die Kriegsgefangenen nach ihrer Repatriierung in die Sowjetunion als Verräter behandelt worden. Sie mussten dort vielfach beim Wiederaufbau noch Zwangsarbeit leisten. Sie haben ihr ganzes Leben lang – bis zum Ende der Sowjetunion – Diskriminierung und Stigmatisierung erfahren. Und erst seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion konnten viele öffentlich über ihre Erfahrungen im Krieg sprechen."

    Die Historikerin Tanja Penter von der Universität der Bundeswehr Hamburg hat über frühere NS-Zwangsarbeiter in Russland und Weißrussland geforscht. Dabei konnte sie auf eine vergleichsweise junge Quelle zurückgreifen: auf Zehntausende von Briefen, die die Betroffenen an die Stiftung und ihre Partnerorganisationen geschrieben hatten.

    Die Korrespondenz spiegelt eine breite Palette von Reaktionen auf die erhaltene oder entgangene Ausgleichszahlung. Manche Menschen beschwerten sich über die Höhe der Summe, andere freuten sich, weil diese insbesondere in den postsowjetischen Staaten das Jahreseinkommen eines Rentners überschritt. Bei den meisten hat jedoch die symbolische Bedeutung die Hauptrolle gespielt.

    "Diese symbolische Bedeutung, die zeigte sich vor allen Dingen auch in den Briefen derjenigen, die dann eben nichts bekommen haben und die dann an die Stiftung schrieben oder darum baten, vielleicht doch zumindest eine kleine symbolische Summe überwiesen zu bekommen, um es den Nachbarn erzählen zu können. Daran zeigt sich, dass sich an diese Auszahlung in diesem deutschen Entschädigungsprogramm die Anerkennung als NS-Opfer in den Heimatstaaten knüpfte."

    Jene über 80-Jährigen, die von der Stiftung Geld bekamen, waren teilweise sehr krank. Sie bezahlten Arztrechnungen oder bereiteten ihre Beerdigung vor. Manche hätten einen Akzent setzen wollen und investierten das Geld in die Ausbildung ihrer Enkel. So hätte ein Teil der früheren Zwangsarbeiter sich schließlich nicht nur gesellschaftlich, sondern auch familiär anerkannt gefühlt, sagt Tanja Penter.

    Allerdings, resümieren die beiden Historiker, führte das Entschädigungsprogramm zu unbeabsichtigten Nebenwirkungen wie neuen sozialen Konflikten und Konkurrenzen. Viele Betroffene hätten den Wettlauf mit der Zeit verloren: Für manche war die Frist der Antragstellung zu kurz. Andere erlebten nur die erste von zwei ausgezahlten Raten.

    So fanden die Wissenschaftler auf der einen Seite große Dankbarkeit, auf der anderen Seite große Verbitterung. Manche Menschen staunten, dass sie nach so langer Zeit Geld bekamen. Andere empfanden die Summe als zu spät und zu klein, um das Leben in neue Bahnen zu lenken.

    Die typische Reaktion aber habe zwischen den Extremen gelegen, erzählt Constantin Goschler:

    "Die Menschen waren oftmals sehr weise. Sie haben gesagt: Ja, es ist natürlich nach so langer Zeit nicht mehr möglich, das Leben noch mal irgendwie neu zu gestalten. Es ist aber immerhin ganz schön, dass man überhaupt noch etwas bekommt. Sie haben es mit einer gewissen Anerkennung, Dankbarkeit angenommen, aber ihre Dankbarkeit dabei auch nicht übertrieben."