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Darf Kunst alles?

Santiago Sierra regt nun auf, weil er für seine Installation in der ehemaligen Synagoge von Pulheim-Stommeln ein Thema gewählt hat, das nach wie vor tabuisiert ist. Die Ermordung von Millionen europäischer Juden in den Gaskammern der Konzentrationslager ist in der Vergangenheit so gut wie nie bildnerisch dargestellt worden. Das Ungeheuerliche, das Unvorstellbare dieses millionenfachen Massenmordes entzog sich jeder Abbildung.

Ein Kommentar von Stefan Koldehoff | 14.03.2006
    Man zeigte die Selektionen vor den Konzentrationslagern und die Leichenberge neben den Krematorien. Der unmittelbare Ort des qualvollen Sterbens aber wurde nicht dargestellt - vielleicht vor allem deshalb, weil man den Opfern wenigstens einen letzten Rest an Würde lassen wollte. Als 1993 Steven Spielbergs Spielfilm "Schindlers Liste" in die Kinos kam, folgte zum ersten Mal eine Kamera einer Gruppe von Schauspielern, die Opfer darstellten, bis in eine Gaskammer hinein. Danach wurde abgeblendet. Kritiker warfen dem Regisseur damals trotzdem vor, er verletze das Andenken der Opfer und banalisiere den Holocaust.

    Natürlich darf die Kunst versuchen, auch den Holocaust darzustellen. Die Kunst hat keine Grenzen - nicht bei Mohammed-Karikaturen und nicht in Pulheim. Ob man von der künstlerischen Freiheit allerdings immer auch - und manchmal geradezu demonstrativ - Gebrauch machen muss, ist die andere Frage. Sie negativ zu beantworten, hat nichts mit Feigheit zu tun sondern mit Verstand und Vernunft und Rücksicht. Man darf Gaskammern darstellen. Man muss sie aber nicht darstellen, wenn man den Schmerz, den man damit den Familien der Opfer zufügt, höher ansiedelt als den eigenen Wunsch nach Aufklärung. Damit würde man das eigene Anliegen nur selbst diskreditieren.

    Unterstellen wir Santiago Sierra doch ruhig, dass es ihm nicht um Provokation sondern tatsächlich um ein Anliegen ging. Und unterstellen wir der Stadt Pulheim, die ihn eingeladen hat, dass sie wusste, wen sie da einlädt. Santiago Sierra ist ein Provokateur im positiven Sinne, der sich für seine Provokationen der Kunst bedient. Er tat dies in der Vergangenheit immer wieder, um der schönen heilen florierenden Schickimicki-Glitzer-Kunstwelt das aufzuzwingen, was seit jeher die Aufgabe der Kunst ist: den anderen Blick auf die Welt. In Venedig bei der Biennale mauerte er den Pavillon seines Heimatlandes Spanien zu und ließ nur hinein, wer einen spanischen Pass vorweisen konnte. Wer trotzdem hineinzukommen versuchte, wurde unsanft hinauskomplimentiert. So ergeht es täglich tausenden von illegalen Immigranten an den Grenzen Europas. Sechs Arbeitslosen in Havanna ließ Sierra gegen Bezahlung eine Linie auf den Rücken tätowieren.

    Und nun also simuliert er in der ehemaligen Synagoge in Pulheim-Stommeln eine Gaskammer. Natürlich ist das eine der größtmöglichen vorstellbaren Provokationen. Er wolle, so hat der Künstler selbst erklärt, "eine Arbeit gegen die Banalisierung der Erinnerung an den Holocaust" schaffen. Ein "Machwerk" und eine "Niedertracht sondergleichen", wie es der Schriftsteller und Holocaust-Überlebende Ralph Giordano genannt hat, ist das Pulheimer Projekt sicher nicht. Der Vorwurf der Geschmacklosigkeit trifft da schon eher zu. Geschmacklos allerdings musste die Kunst immer wieder sein, wenn sie der Gesellschaft deren eigenes Handeln vorführen wollte. Wenn ein Kunstwerk allerdings - und das ist der Hauptvorwurf gegen die Stommelner Installation - jene entwürdigt und verletzt, an die sie eigentlich mahnend erinnern will, dann sollte sich die Kunst von sich aus, ohne jede Zensur von außen, wieder zurücknehmen - des Anliegens wegen, nicht als Reaktion auf Proteste.

    Deshalb hat die Stadt Pulheim gut daran getan, die angekündigten weiteren Abgas-Einleitungen samt Führungen zunächst und wahrscheinlich für immer abzusagen. Diese weiteren Provokationen sind auch gar nicht mehr nötig, weil Santiago Sierras Projekt sein Ziel längst erreicht hat. Die Pulheimer Installation hat den Blick wieder auf die Opfer des deutschen Holocaust gelenkt. Und das ist offensichtlich in der Befassung mit dem Nationalsozialismus keine Selbstverständlichkeit mehr: Heute Abend wird das ZDF mit der Ausstrahlung eines dreiteiligen Fernsehfilms über den "privaten Göring" beginnen. Der NS-Bonze, so war im Vorfeld zu lesen, werde dabei unter anderem beim Schmusen mit einem Löwenbaby gezeigt. Was eigentlich ist obszöner? Santiago Sierras Installation in der Synagoge Stommeln - oder der inzwischen ganz selbstverständlich gewordene boulevardesk-voyeuristische Umgang mit dem Holocaust, bei dem die Opfer kaum mehr eine Rolle spielen, weil die Täter so schöne Themen hergeben?