Dienstag, 23. April 2024

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Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik
music in the expanded field

Die Liste der Dozenten, die bei den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik seit deren Gründung 1946 unterrichtet haben, liest sich wie ein "Who is who" der zeitgenössischen Avantgarde. Bis heute gehört die Veranstaltung zu den wichtigsten Adressen für junge Komponisten. Und immer steht die Entwicklung der Neuen Musik im Fokus.

Von Barbara Eckle | 09.08.2016
    Der französische Komponist Pierre Boulez (Foto) lehrte in den 50er-Jahren "Neue Musik" in Darmstadt.
    Der französische Komponist Pierre Boulez (Foto) lehrte in den 50er-Jahren "Neue Musik" in Darmstadt. ( AFP / Photo Mehdi Fedouach)
    Musik: historage
    Auf den schwarzen Stofftüten der Ferienkursteilnehmer prangt in leuchtend weißen Lettern der Slogan ATTACK THE FUTURE. Das klingt gut – aber was genau bedeutet das? Wie möchte man das in der Neuen Musik von heute wahr machen? Fahndet man im Jubiläumsprogramm nach einer Differenzierung dieser kühnen Mission, stösst man auf den Begriff "music in the expanded field" – Musik im erweiterten Raum. Eine Vielzahl der Ferienkursprojekte und -konzerte stehen genau im Zeichen dieser Erweiterung: Erweiterung eines Instruments, eines musikalischen Materials, Erweiterung des Klangs durch Technologie und auch Erweiterung der Musik selbst in andere Kunstsparten und Fachbereiche. Thomas Schäfer, seit 2009 künstlerischer Leiter der Ferienkurse, sieht im Begriff "music in the expanded field" eine Standortbestimmung der heutigen Musik und auch der Realität, in der sich diese Musik bewegt:
    "Der Begriff – wir haben ihn auch aufgenommen, weil er ganz gut die Situation in der Neuen Musik heute spiegelt, zumindest das, was wir vorhaben hier bei den Ferienkursen, weil wir sehen, dass das eine Situation ist nicht nur in der Neuen Musik, sondern auch in anderen Künsten, dass wir uns immer stärker von dem eigentlichen Kern entfernen und zu den Grenzen hin ausfransen. Und das wollen wir natürlich in den ganz unterschiedlichen Formaten versuchen abzubilden."
    Bekannte und neue Konzepte
    Das herkömmliche Ensemblekonzert existiert in der Neuen Musik nach wie vor, auch in Darmstadt. Parallel aber werden immer mehr Konzepte ausprobiert, die diesen Rahmen nach allen Seiten sprengen und auch so manche heilige Kuh schlachten. In Eva Reiters Komposition "The Lichtenberg Figures" weicht das klassische Konzertformat einer düsteren Rockperformance mit Lichtershow und Nebelschwaden. Der Klarinettist Ernesto Molinari präsentiert ein neu entwickeltes Hyperinstrument, eine Art digital erweiterte Bassklarinette, die sich in mikrotonalem Fluss geschmeidig durch alle Register winden kann. Stefan Prins erweitert in seinem Klavierzyklus "Piano Hero" das Klavier multimedial so weit, dass aus dem Musikinstrument vielmehr ein Spiegel der Verunsicherung unserer medial kontrollierten Gesellschaft wird. Und die Internationale Ensemble Modern Akademie macht sich indessen an Beat Furrers Musik zu schaffen. Zwei Werke Furrers schälen sich hier nahtlos aus improvisierten Klangstrecken heraus, die aus zersetzten Elementen dieser zwei Kompositionen erwachsen. Dass die Aura Furrers einzigartiger Klangsprache dabei unterschwellig erhalten bleibt, zeigt, dass man sich einem kompositorischen Idiom auch durch einen kreativen Dekonstruktions- und Erweiterungsprozess nähern kann.
    Musik: Furrer, Scan
    Kritisches Potential Neuer Musik
    Von einem großen Bedürfnis, Musik in einem aktuellen sozialpolitischen Kontext zu verstehen, zeugt bei den diesjährigen Ferienkursen ein reichhaltiges Theorie- und Diskursprogramm, das sich vor allem mit philosophischen Fragen beschäftigt - etwa nach dem kritischen Potential Neuer Musik oder ihrer politischen Instrumentalisierbarkeit. Dass "anything goes" den Kern der Darmstädter Ferienkurse heute ebenso weit verfehlt wie das weit über sein Verfallsdatum hinaus konservierte Vorurteil einer Dogmenschmiede, lässt sich an dem allgemeinen Bemühen erkennen, Antworten jenseits der Negation und Exklusion zu finden und den Fokus auf die Aktion zu legen. Immer deutlicher wird hier, dass Musikschaffende heute nicht auf einer Insel der Glückseligen agieren wollen, sondern in einem größeren, realitätsbezogenen Kontext. Der interdisziplinäre Diskurs spiegelt dabei die einzigartige Chance der Darmstädter Ferienkurse, die Musik nicht einfach so im Raum stehen zu lassen, sondern ihre Implikationen tatsächlich weiterzudenken, Transformationstendenzen zu erkennen und darauf zu reagieren. Thomas Schäfer:
    "Insofern stelle ich mir schon manchmal die Frage der Konsequenz: Wohin geht das? Wohin steuern wir hier? Und in ganz weiter Ferne sehe ich vielleicht eine Veranstaltung, die hat dann vielleicht gar keine Dozenten mehr in Komposition, Interpretation und Theorie, sondern es ist ein großes Team an Künstlern, das zusammenarbeitet. Wir bleiben auf jeden Fall immer musikbasiert, aber die Formen des Zusammenarbeitens sind im Moment sehr in Veränderung, und das gefällt mir eigentlich."
    Musik: historage
    Rückblick und Ausblick
    Ein 70-jähriges Jubiläum rückt automatisch die Geschichte einer Institution ins Licht. Und natürlich ranken sich viele Anekdoten um die legendären Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik. Die Fakten allerdings werden seit Anbeginn in einem Archiv aufbewahrt, das unter anderem aus Aufnahmen der unzähligen Lectures und Konzerte besteht. Zum runden Geburtstag wurde das Archiv nun digitalisiert und wird demnächst der Öffentlichkeit im Netz zugänglich sein. Eine Handvoll Künstler hat anhand dieser Tondokumente die Geschichtlichkeit der Ferienkurse auch auf kreativem Weg reflektiert. Dass dieses Archiv vor allem Anlass zur kritischen Auseinandersetzung mit der Geschichte der Ferienkurse gab, legt die Ausstellung mit dem Titel "historage" nahe. Nicht, was in dem Archiv liegt, war hier der Fokus, sondern vielmehr das, was da kaum oder viel zu wenig auftaucht: nämlich Menschen außereuropäischer Kulturen und allgemein Frauen. Während eine ausführliche Genderdebatte das Kind explizit beim Namen nannte, erfasste Nicolas Varchausky die soziale Exklusivität der Ferienkurse in einer eindrücklichen Klanginstallation: ein riesiger Maschendrahtzaun zieht sich durch eine Halle. Ansonsten ist nichts zu sehen und nichts zu hören. Doch hält man ein Stethoskop an den Zaun, taucht man in eine eigenartige Klangmischwelt ein, die sich aus Darmstadt-Archivmaterial und Alltagssounds anonymer Menschen aus aller Welt zusammensetzt. Die Botschaft dieser klingenden Kluft ist deutlich. Dass an dieser Stelle Handlungsbedarf besteht, ist auch Ferienkursleiter Schäfer klar:
    "Die Darmstädter Ferienkurse sind extrem männlich dominiert, weiß und eurozentristisch - das müssen wir einfach zur Kenntnis nehmen und als Aufgabe verstehen, Dinge wirklich zu verändern. Das ist vielleicht ein ganz langer Prozess, aber ich kann versuchen dazu beitragen."
    Ein solcher Ausblick erfüllt den ansonsten etwas leer wirkenden Slogan ATTACK THE FUTURE, den die Kursteilnehmer in der ganzen Stadt vor sich hertragen, mit einem greifbaren und unanfechtbaren Sinn. Denn während man die Entwicklungen und Tendenzen in der Neuen Musik nur zuzulassen und abzubilden braucht, weiß man in der Diversitätsfrage tatsächlich, was konkret zu tun ist - wenn man die Zukunft denn wirklich anpacken will.