Dienstag, 23. April 2024

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Das Abendmahl und die Kunstgeschichte
Jesus in der Kneipe

Jesus sitzt am Abend vor seinem Tod mit den Jüngern am Tisch - diese Szene hat viele Künstler inspiriert. Meistens sind die Darstellungen voller Erhabenheit. Im frühen 16. Jahrhundert allerdings nicht. Da konnte aus dem Mahl schon mal ein wildes Gelage werden.

Von Kirsten Serup-Bilfeldt | 10.04.2019
Jerg Ratgeb, Herrenberger Altar, 1519 Mischtechnik; Tannenholz; Höhe: 400 cm; Breite: 680 cm; Höhe: 400 cm; Breite: 342 cm, Staatsgalerie Stuttgart
Jörg Ratgebs Herrenberger Altar von 1519 (Staatsgalerie Stuttgart)
Hier das Drunter und Drüber einer wilden Kneipen-Runde.
Dort die Würde und Erhabenheit einer ruhigen Gelehrten-Tafel.
Hier die Kneipenrunde des Malers Jörg Ratgeb.
Dort die Gelehrten-Tafel des Malers Lucas Cranach.
Zwei Abendmahlsdarstellungen.
Beide Abendmahlsdarstellungen - sowohl die Kneipenrunde von Ratgeb als auch die Gelehrtentafel von Cranach - zeigen das Bild der Reformation und die Reformation im Bild.
"Das religiöse Tafelbild bekommt durch die Reformation eine intensive Veränderung. Vor allem werden die Reformatoren selber und die reformatorischen Gedanken nun in die Bildwelt einbezogen", sagt Professor Wolfgang Urban.
"So ein Abendmahl hab ich noch nie gesehen. Schau, wie der Judas, der Hund, nach dem Bissen schnappt. Sogar seinen Stuhl hat er umgeschmissen vor lauter Hast." "Wie ein Fugger kommt er daher, ganz in Gold..."
Die Gläubigen trauen ihren Augen nicht
Die Gläubigen, die sich um das neugeschaffene Altarbild scharen, trauen ihren Augen nicht. Sie stehen am Hochaltar in der Stiftskirche "Unserer Lieben Frau" zu Herrenberg. Und das sollen fromme Darstellungen aus dem Leben des Heilands sein? Diese Bilder von verstörender Drastik, mit groben Pinselstrichen hingeworfen? Das Durcheinander von verrenkten Gliedmaßen bei der "Dornenkrönung", die chaotischen, ja, wüsten Szenen bei der Kreuzigung? Und dann auch noch: diese Tafel! Das Bild eines Abendmahls?
Wohl kaum. Gleicht doch die Szene eher einem Gelage in einer verrufenen Spelunke! Hier flegelt sich ein Haufen ungehobelter Gesellen um einen Tisch herum. Sie schwatzen wild gestikulierend aufeinander ein, haben das Mobiliar umgeworfen und den Wein verschüttet. Es sind grobschlächtige Typen mit abgerissener Kleidung und stumpfen, einfältigen Gesichtern:
"Sie sehen überhaupt recht irdisch aus. Sind ja auch einfache Menschen gewesen. Arme Leut‘ wie wir..." "Ganz aufgeregt wird man vom Anschauen. Aber zur Andacht taugt er nichts, der Altar..."
Nein, wirklich nicht! Denn heilloser ist Heilsgeschichte wohl nie zuvor dargestellt worden.
Der vergrößerte Abendmahls-Ausschnitt aus Jerg Ratgebs Herrenberger Altar, 1519 Mischtechnik; Tannenholz; Höhe: 400 cm; Breite: 680 cm; Höhe: 400 cm; Breite: 342 cm, Staatsgalerie Stuttgart
Auf dem Herrenberger Altarbild verursachen die Jünger Christi beim letzten Abendmahl ein heilloses Durcheinander (Staatsgalerie Stuttgart)
Auf dieser Tafel des Herrenberger Altars, gemalt um die Jahre 1518/19, findet sich keine Spur von der melancholischen Erhabenheit, die in anderen Abendmahls-Szenen dieser Zeit vorherrscht; nichts von der sanften Schönheit der Gesichter im Abendmahl eines Leonardo da Vinci, nichts von der inszenierten Eleganz und ruhigen Würde eines Tizian. Stattdessen: Vertreter eines entfesselten, spätmittelalterlichen Prekariats in einer kneipenähnlichen Umgebung.
Kann es sein, so mögen sich bestürzte Zeitgenossen in der Herrenberger Stiftskirche gefragt haben, dass der Satan dem Meister Jörg Ratgeb den Pinsel geführt hat?
"Es ist so, dass jemand hier vom Teufel geritten ist und dies in aller Deutlichkeit auch dargestellt wird", so Professor Wolfgang Urban.
Die letzten Stunden Jesu in einem Debattierklub
Szenenwechsel! Ein ganz anderes Abendmahl! Im Festsaal eines Schlosses! Ein üppig gedeckter Tisch, auf einer Platte das unzerteilte Osterlamm.
Die Besucherin einer Vorbesichtigung betrachtet am 25.06.2015 in der Ausstellung «Lucas Cranach der Jüngere - Entdeckung eines Meisters» im Augusteum in Wittenberg (Sachsen-Anhalt) das Gemälde "Abendmahl" (nach 1565), das Lucas Cranach dem Jüngeren zugeschrieben wird.
Das Dessauer Abendmahl von Lucas Cranach dem Jüngeren (dpa / Hendrik Schmidt)
Auch das - wirklich ein Bild des Letzten Abendmahls? Oder doch eher das eines geselligen Abends unter Freunden? Denn versammelt ist hier eine akademische Diskursgemeinschaft: Gelehrte, Professoren, Adlige. Etwas schemenhaft sieht man im Hintergrund Angehörige der anhaltinischen Fürstenfamilie. Hier rückt das biblische Geschehen in eine höfische Atmosphäre. An diesem Tisch sitzen keine Jünger, sondern Honoratioren. Und doch ist natürlich auch hier alles vorhanden, was seit Jahrhunderten dazugehört, wenn das Abendmahl dargestellt wird: Jesus, die Jünger, das Brot, der Wein und - der Verräter.
Aber auch hier ist ein Künstler am Werk, der eine seit Jahrhunderten vertraute Bilderwelt mit einem Schwung hinwegfegt: Während Jörg Ratgeb sein Abendmahl in diese heruntergekommene Kneipe verlagert, versetzt Lucas Cranach der Jüngere die letzten Stunden Jesu in diesen gelehrten Debattierklub. Beide siedeln das biblische Geschehen nicht mehr in einem sakralen Raum an. Und beide tun das als Zeitzeugen vor dem Hintergrund des hitzigen Dramas der Reformation:
"Das religiöse Tafelbild bekommt durch die Reformation eine intensive Veränderung."
Wolfgang Urban, langjähriger Kustos am Diözesanmuseum in Rottenburg am Neckar:
"Vor allem werden die Reformatoren selber und die reformatorischen Gedanken nun in die Bildwelt einbezogen. Das ist ein Prozess, der sich schon Ende der 20er Jahre des 16. Jahrhunderts abzeichnet."
Zu dieser Zeit verändern Abendmahlslehre und -praxis das Bild der Kirchenräume. Sie werden jetzt, je nach Ritus - lutherisch, reformiert oder römisch-katholisch - zu "Konfessionskirchen". In der Abendmahlsfeier wird nun die jeweilige konfessionelle Identität der Gemeinde erkennbar.
Die Kunsthistorikerin und evangelische Theologin Ruth Slenczka notiert:
"In Raumausstattung und Zeremoniell der Abendmahlsfeier kennzeichnet der Inhaber des Kirchenregiments seinen Anspruch auf Lehre und Bekenntnis innerhalb seines Herrschaftsbereichs."
Unterwegs - vom alten zum neuen Glauben
Und so sehen die Betrachter des Altarbildes der Kirche St. Marien im anhaltinischen Dessau nun eine vornehm-höfische Gesellschaft - und zwar mit ganz realen, identifizierbaren Menschen. Es ist die Elite der Reformation, eine geballte Ansammlung von Gelehrsamkeit und Standesbewusstsein:
"Das Dessauer Abendmahl hat nun die ganze Crème de la Crème der Wittenberger Reformatoren am Tisch des Herrn versammelt..."
Geeint durch ein gemeinsames Anliegen: die Kirchenreform. Sie alle sind unterwegs - vom alten zum neuen Glauben: Philipp Melanchthon, Johannes Bugenhagen, Justus Jonas, Bartholomäus Bernardi, Johannes Pfeffinger, Caspar Cruciger, Georg Major, Johannes Forster... Und natürlich in der Bildmitte, zwei Plätze von Christus entfernt: Martin Luther! Eine massige Figur, die Bibel in der Hand, voll unverrückbarer protestantischer Festigkeit und Zuversicht.
Ausschnitt aus dem Dessauer Abendmahl von Lucas Cranach dem Jüngeren
In Cranachs Abendmahl sitzen Luther und Jesus an einem Tisch (dpa / Hendrik Schmidt)
Hier macht Lucas Cranach die biblische Botschaft an Menschen seiner Gegenwart fest. Statt der Jünger porträtiert er lebendige Zeitgenossen sagt Professor Urban:
"Es soll ausgedrückt werden, dass sie die Jünger sind, die nun ganz dem Willen Jesu folgen und sein Gedächtnis in dieser Abendmahlsfeier, wie er es gefordert hat: "Tut dies zu meinem Gedächtnis", das Brot gebrochen, den Segen über den Wein gesprochen hat, dass sie jetzt die Jünger Jesu sind und dass sie diesen Glauben weitergeben."
Auch Jesus ist hier nicht das entrückte Objekt frommer Anbetung, nein, er ist - ganz so, wie er es verkündet und Luther übersetzt hat - "mitten unter" denen, die sich "in seinem Namen" versammelt haben. Das ist protestantische Ikonographie in ihrer reinsten Form.
Das Abendmahl ist eines der zentralen Themen der Reformation. Im Kern geht es um das Wesen der Eucharistie und um die Frage, ob Christus in den eucharistischen Elementen Brot und Wein leiblich oder nur symbolisch anwesend ist. Dabei sprengen die Auseinandersetzungen um die Abendmahlslehre während der Reformation durchaus den theologischen Rahmen gelehrter Dispute und haben direkte Auswirkungen auf die Gesellschaft, schreibt Ruth Slenczka:
"Um die Abendmahlslehre stritten nicht weltferne Theologen; sondern auch interessierte Gelehrte und Laien, Kirchengemeinden, Stadträte und Fürstenhöfe, der Kaiser und die Reichstage. Das Abendmahl betraf die Grundordnung kirchlichen Lebens und damit die Grundordnung von Kirche und Gesellschaft sowie die Basis jeder politischen Ordnung."
Maler der Reformation
"Die lutherische Richtung der Reformation vertrat auch für die Abendmahlsfeier den Gedanken der realen Gegenwart Christi. Nicht jetzt in dieser scholastisch-philosophisch-theologischen Erklärung der Transsubstantiation, aber: Wenn das nun in Gemeinschaft gefeiert wird, dieses Gedächtnismahl im Auftrag Jesu und dieser Auftrag erfüllt wird, ist auch unter den Gestalten von Brot und Wein Christus selber real gegenwärtig. Das ist die reformatorische Sicht. Lutherisch gilt die Realpräsenz", erklärt Professor Urban.
Der Meister Lucas malt protestantische Programmatik. Er wird zum Schöpfer einer rein evangelischen Bildersprache und zum Deuter und Dolmetscher der reformatorischen Idee. Er wird zum Maler der Reformation!
Dabei scheut er vor Schärfe nicht zurück, greift entschlossen in innerprotestantische Streitigkeiten ein. Mit seinen Mitteln, denen der Kunst, bezieht er Stellung. Sichtbar wird das vor allem an einer Figur auf seinem Abendmahlsbild:
"Ganz im Vordergrund - und das ist vielleicht besonders denkwürdig und gibt Rätsel auf - ist Matthias Flacius Illyricus. Er ist in der Gestalt des Judas wiedergegeben, sogar mit dem roten Geldbeutel, also das Blutgeld in Rot, damit auch in der Farbe noch symbolisiert, und mit gelbem Gewand wie häufig Judas dargestellt wird. Er ist die Gegengestalt nicht zu Christus, sondern zu Philipp Melanchthon. Das mag damit zusammenhängen, dass Matthias Flacius Illyricus ein Gegner der "Leipziger Artikel" des Philipp Melanchthon gewesen ist. In den "Leipziger Artikeln" hat Melanchthon noch einen Kompromiss gesucht, in der Liturgie und in den Feiern des Kirchenjahres; er hat einige Marienfeste beibehalten, das Fronleichnamsfest nicht abschaffen wollen. Und Matthias Flacius Illyricus war ein Gegner solcher Kompromisse", so Professor Urban.
Diözesankonservator Wolfgang Urban steht am 27.09.2012 im Diözesanmuseum von Rottenburg (Baden-Württemberg) vor einem Bild des Heiligen Martin von Tours.
Wolfgang Urban war lange Jahre Diözesankonservator in Rottenburg (dpa / Marc Herwig )
Cranachs Judas begeht also nicht Verrat an seinem Heiland, sondern an einer Idee. Er ist hier nicht der treulose Denunziant, der seinen Herrn dem sicheren Tod ausliefert, sondern ebenfalls ein Gelehrter - allerdings einer, der andere Ansichten vertritt als der Rest der Tafelrunde. Seine Rolle ist die des Außenseiters, des intellektuellen Widersachers, des theologischen Gegenspielers in einem innerprotestantischen Disput:
"Das ist nicht unbedingt ein Verrat an der reformatorischen Sache. Es ist nur eine Gegnerschaft zu dieser vermittelnden Position, auf die noch Philipp Melanchthon 1548 einschwenkte, um noch einmal eine Brücke zu schlagen für die Einheit innerhalb des christlichen Glaubens."
Zwar prägt Cranach das künstlerische Bild der Reformation, doch er wird nie zum "Aktivisten", zum Rebellen. Nicht in der Theologie und schon gar nicht in der Politik. Seine Waffen bleiben die des Intellekts und der Kunst.
Die Waffen der Kunst
Ganz anders sein Zeitgenosse Jörg Ratgeb! Der vertauscht die Waffen der Kunst mit der Kunst der Waffen. Kompromisslos, unnachgiebig.Er ergreift Partei. Wird zum Kämpfer im Bauernkrieg. Stellt sich auf die Seite der Armen und Entrechteten. Gleichzeitig wird er - malend - zum Chronisten der Geschehnisse.
Die Künstler gehörten zu den Ersten, die von der Reformationsbewegung erfasst wurden. Es entstehen Bilder und Altäre mit kaum verhülltem, reformatorischem Inhalt. Die Kunst hält ihrer Zeit den Spiegel vor und spart auch die sozialen Spannungen nicht aus. Fürsten, Adlige, Patrizier und reiche Handelsherren treten oft als Pfeffersäcke und Ausbeuter auf. Prälaten und Kirchenfürsten werden als feiste Heuchler porträtiert.
Kurz nach Luthers Thesenanschlag - also 1518/19 - malt der etwa 40-Jährige Ratgeb den Hochaltar für die Herrenberger Stiftskirche. Auftraggeber sind die "Brüder vom Gemeinsamen Leben". Sie sind Mitglieder einer klosterähnlichen Gemeinschaft, die eine praktische Frömmigkeit predigen und dem unwissenden Volk die Bibel erklären.
Ratgeb versteht diesen Auftrag als Verpflichtung, sich für die Armen einzusetzen. Am Horizont zeichnet sich eine Revolte der Bauern ab - gerichtet gegen die ökonomischen und politischen Privilegien von Adel, Patriziern und Klerus.
1524 brechen alle Dämme. Die Bauern greifen zu den Waffen. Sie fordern eine Reform der Kirche. Ihre Ansprüche stützen sie auf eine "revolutionäre" Interpretation des Evangeliums. Und - hoffen dabei auf die Reformatoren. Hatte denn nicht der Doktor Luther zu Wittenberg geschrieben:
"Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan..."
Zerreißt er denn nicht die Fesseln, die den Glauben der Menschen an die römischen Dogmen binden? Tritt er nicht dafür ein, dass der Glaube zur Sache des Gewissens und der persönlichen Verantwortung wird?
Ja und Nein. Manch einer versteht Luther falsch. Auf tragische Weise. Denn der Reformator hat keineswegs die Befreiung von der Obrigkeit gemeint. Nicht auf das Leben im Diesseits bezieht er seine Aussage; mit Freiheit meint er die Freiheit des von seinen Sünden erlösten Menschen. Der Wittenberger Reformator, in den man so viel Hoffnung setzt, will seine Lehre nicht den Schwertern überlassen, sondern der Diskussion von Theologen und Gelehrten. Ganz so, wie Lucas Cranach das im Bild festhält!
Schmerzhaft wird den Bauern jetzt deutlich, dass auch die Reformation an ihrer Lage nichts ändern wird. Die Bauernfrage soll nach Herrenart gelöst werden. Unterstützung finden die Bauern bei Meister Ratgeb. Er sympathisiert nicht nur mit den Aufständischen, wie auch seine Künstler-Kollegen Matthias Grünewald oder Tilman Riemenschneider. Mehr noch: Er stellt sich mit der Waffe in der Hand auf ihre Seite. Und er macht sich ihre Auslegung des Evangeliums zu eigen, porträtiert dort:
"Typen, die man von den Straßen und den Zäunen geholt hat, um das Evangelium zu zitieren. Und eine solche zusammengewürfelte Gesellschaft ist die, die sich bei Jörg Ratgeb zeigt."
Judas - ein Rüpel, ein ungehobelter und bösartiger Flegel
Und dann malt er das Drama des Verrats: Judas Ischarioth. Dieser Judas ist kein Gelehrter wie Cranachs Flacius Illyricus, sondern ein Rüpel, ein ungehobelter und bösartiger Flegel in einem gelben Wams. Er springt auf, wirft seinen Stuhl um und rempelt einen Diener an, der prompt den Wein verschüttet. Die dunkelrote Weinlache am Boden weist auf das kommende Blutvergießen bei der Kreuzigung hin.
Dieser Judas ist die Inkarnation aller Laster, so Professor Urban:
"Es ist dargestellt das Laster der "superbia", des Hochmuts mit dem erhobenen Kopf. Es ist aber auch dargestellt das Laster der Unbeherrschtheit, des "ira"- dadurch, dass er den Stuhl umgestoßen hat. Es ist dargestellt das Laster des Neids, "invidia", durch die gelbe Farbe seines Gewandes. Das ist zugleich auch die Farbe des Goldes und damit des Lasters der "avaritia", der Habgier. Und es ist dargestellt das Laster der "gula", der Fresssucht. Wie er den Mund geöffnet hat und dann, das ist ganz entscheidend, ihm eine Schmeißfliege in den Mund fliegt. Alle anderen kommunizieren mit dem Leib Christi, er kommuniziert mit einer Schmeißfliege."
Ausschnitt des Judas aus Jerg Ratgebs Herrenberger Altar
Ratgebs Judas ist die personifizierte Sünde (Staatsgalerie Stuttgart)
Dem Sinnbild des Teufels! Denn das hebräische Wort "Beelzebub" bedeutet "Vater der Fliegen." Und unter den Tisch lässt dieser Judas dann auch noch die "Gebetbücher des Teufels" fallen: Spielkarten. Aus seinem Gewand fallen drei Würfel, die alle die Augenzahl 6 zeigen. Sechs, sechs, sechs - das ist die Satanszahl der Apokalypse.
Und dann ist da noch etwas ganz Ungeheuerliches zu sehen: Ratgeb hat es gewagt, seinen Judas mit dem Merkmal der "concupiscentia", der unersättlichen Begierde auszustatten:
"Er wird mit einer Erektion dargestellt. Das ist durch die Bekleidung hindurch erkennbar."
Die Fassungslosigkeit seiner Zeitgenossen scheint Ratgeb nicht zu kümmern. Schließlich weiß er sich auf der richtigen Seite:
"Er hat sich ans Evangelium gehalten."
Dokumentaristen der religiösen Umbrüche ihrer Zeit
Zwei Abendmahlsbilder wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten: die derbe, fast vulgäre Kneipenrunde des Jörg Ratgeb und die vornehme Gelehrtentafel des Lucas Cranach. Und doch findet sich bei aller Verschiedenheit vieles, was beide Darstellungen und ihre Schöpfer verbindet.
Das Leben beider Künstler ist geprägt vom "Herbst des Mittelalters". Und beide werden auf je unterschiedliche Weise in den Strudel der Reformation gerissen. Mit künstlerischen Mitteln wagen sie den Schritt vom alten zum neuen Glauben, den Aufbruch in ein neues Zeitalter. Beide haben ein klares theologisches Programm und übersetzen diese Botschaft in ihre ganz eigene Bildersprache. Und beide sind Berichterstatter, Dokumentaristen und Kommentatoren der politischen, sozialen und religiösen Umbrüche ihrer Zeit.
Jörg Ratgeb, der Aufrührer, der Hitzkopf wird seine Teilnahme am Bauernkrieg mit dem Leben bezahlen. Die "leiblichen Reste" des Hofmalers Lucas Cranach ruhen in der kühlen Stille der Stadtkirche in Wittenberg, der Predigtkirche Luthers, der "Mutterkirche der Reformation".
Martin Luther reformierte das Christentum. Lucas Cranach und Jörg Ratgeb illustrierten das reformierte Christentum - jeder auf seine Weise. Sie zeigen das Bild der Reformation. Und die Reformation im Bild.