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Das afrikanische Lissabon (1/5)
Naky sucht koloniale Spuren in Portugals Hauptstadt

In Lissabon leben viele Afrikaner. Und das mit einem anderen Selbstverständnis als in anderen Großstädten Westeuropas. Die afrikanische Kolonialgeschichte Portugals aber ist in der Hauptstadt wenig präsent, erzählt Stadtführer Naky.

Von Tilo Wagner | 28.05.2018
    Tourguide Naky kennt sich aus mit Portugals Kolonialgeschichte
    Tourguide Naky kennt sich aus mit Portugals Kolonialgeschichte (Tilo Wagner)
    Es herrscht Hochbetrieb in der Lissabonner Altstadt: Touristen aus aller Welt laufen in der Fußgängerzone "Rua Augusta" an Straßenmusikanten, Akrobaten und Pantomimekünstlern vorbei in Richtung Tejo-Ufer. Die Straße endet an einem imposanten Triumphbogen, auf dem eine Inschrift an die portugiesischen Entdeckungsfahrten im 15. Jahrhundert erinnert. Darunter steht eine Menschengruppe vor einem Mann mit mächtigem Afro-Haarschopf und einer Landkarte in der Hand.
    Midodji Gaglo, den alle nur Naky nennen, kommt ursprünglich aus dem westafrikanischen Togo, aber er lebt seit vielen Jahren in Europa:
    "Als ich zum ersten Mal nach Lissabon kam, war ich überrascht, dass hier so viele Afrikaner leben. Überall auf der Straße sieht man Schwarze, und man spürt, dass sie Teil der Stadt sind. Sie scheinen nicht unter diesem andauernden Druck zu stehen, den ich in Berlin oder in Sevilla bei der schwarzen Bevölkerung gespürt habe. Selbst wenn sie hier arbeitslos sind, geht es ihnen in Lissabon ganz gut. Aber diese Sichtbarkeit steht in einem Widerspruch mit der Geschichte. Wenn du durch die Straßen läufst und nach Spuren des Kolonialismus oder der Sklaverei suchst, dann findest du nichts. Afrika ist in den Monumenten und historischen Gebäuden einfach nicht präsent."
    Seit über vier Jahren lebt Naky in der portugiesischen Hauptstadt; und weil Geschichte seine große Leidenschaft ist, hat er nach den afrikanischen Wurzeln Lissabons geforscht und eine Tour zusammengestellt, die Reisende über FoodieBookings oder andere Internetplattformen buchen können.
    Lissabons Einkaufsstrasse Rua Auguasta
    Lissabons Einkaufsstrasse Rua Auguasta (imago / Travel-Stock-Image)
    Der Beginn eines brutalen Menschenhandels
    Naky beginnt seine Geschichte im 15. Jahrhundert. Portugiesische Seefahrer tasteten sich an der afrikanischen Westküste Richtung Süden vor, errichteten Stützpunkte und brachten 1441 die ersten neun afrikanischen Sklaven nach Portugal: Es war der Anfang eines brutalen Menschhandels, bei dem die Portugiesen rund sechs Millionen Sklaven zwischen Afrika, Südamerika und Europa bewegten.
    Die Reisegruppe folgt Naky durch die Altstadt. Nächster Halt: die Kirche "São Domingos" am zentralen Rossio-Platz.
    Im 16. Jahrhundert, als in Lissabon schon zehn Prozent der Bevölkerung aus Afrika gestammt haben sollen, durften die Schwarzen in diesem Gotteshaus beten.
    "Es gab hier eine Bruderschaft für schwarze Männer. Aber das war keine reine Rassentrennung: die armen weißen Bewohner Lissabons waren ebenso Teil dieser Bruderschaft. Und es ist interessant: Es scheint, als ob es in der Kirche eher um die sozialen Unterschiede der Menschen ging."
    "Die ständige Vertretung"
    Der Ort hat noch heute eine fast magische Anziehungskraft auf Afrikaner: Auf dem Kirchenvorplatz sitzen westafrikanische Großfamilien auf ein paar Klappstühlen und verkaufen Trockenfrüchte aus großen Plastiksäcken.
    "Der Platz hat einen inoffiziellen Namen", sagt Naky: "Die ständige Vertretung von Guinea".
    Ein Stückchen den Hügel hinauf führt Naky seine Reisegruppe in einen großen Laden: Das Neonlicht flackert, in den breiten Regalen stehen Maniok-Mehl-Säcke. Naky verteilt selbstgemachten Ingwer-Saft in kleinen Plastikwasserflaschen.
    "Erfrischend, aber stärker als man es erwarten würde, und viel Zucker drin," sagt Stefanie Keller, eine Musiklehrerin aus Zürich, die gerade mal wieder für ein paar Wochen in Portugal lebt. Sie überrascht es nicht, dass ausgerechnet Naky, ein Weltenbummler aus Togo, das afrikanische Lissabon entdeckt hat, und nicht einer der vielen afrikanischen Migrantenkinder, die hier geboren wurden:
    "Eigentlich sind meine ganzen Kontakte hier zum afrikanischen Bereich und nicht zum portugiesischen, und diese Leute sprechen nicht unbedingt über ihre Vergangenheit, sondern sie leben mehr im Moment oder vielleicht in der Zukunft."
    Mit der Saftflasche in der Hand geht es weiter durch die Lissabonner Altstadt. Hügel hoch, Hügel runter, Naky bleibt immer wieder stehen und erzählt seine facettenreiche Geschichte. Im Stadtviertel Santa Catarina schaut er auf einen Straßennamen.
    Wenn ein Sklave im 16. Jahrhundert starb, erzählt Naky, wurde der Leichnam einfach auf die Straße gelegt. Er verweste und wurde von Tieren angefressen. Bis der König einschritt und der Stadt Lissabon befahl, ein großes Massengrab zu schaufeln. ‚Rua do Poço dos Negros‘ – Naky übersetzt: die Straße mit der Grube für die Schwarzen.
    "Keime, aus denen Hass und Rassismus wachsen"
    Heutzutage ist das Viertel nicht nur für makabre Geschichten bekannt. Viele Migranten von den kapverdischen Inseln haben sich nach der Nelkenrevolution in den 70er-Jahren hier niedergelassen. So wie Domingos Brito, der in seinem Restaurant in großen Blechtöpfen rührt. Heute gibt’s: Cachupa mit Fisch, Muamba oder Maniok mit Rindfleisch. Das Essen schmeckt. Es scheint, als ob seine Reisegruppe lieber noch ein bisschen an den einfachen Tischen sitzen würde. Doch Naky will zum Abschluss noch zu einem ganz wichtigen Denkmal unten am Fluss.
    Hier steht die Statue von Marquês de Sá da Bandeira, ein portugiesischer Premierminister, der im Jahr 1869 die Sklaverei verbieten ließ. Naky erzählt, dass er hier vor ein paar Wochen zwei junge Männer getroffen hätte, die direkte Nachkommen des berühmten Politikers waren – und trotzdem nichts über ihn wussten:
    "Wenn diese Jungs keine Ahnung von ihrem Urururgroßvater haben, wie sollen sie dann etwas über Sklaverei wissen. Wir machen das hier nicht, um Portugal anzuklagen oder die Portugiesen der Sklaverei zu beschuldigen. Aber wenn wir uns der Geschichte nicht bewusst werden, dann setzen wir die Keime, aus denen Hass und Rassismus wachsen werden, und das schadet unserer Gesellschaft."