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Das Artensterben geht weiter, aber nicht so schnell

Wie schnell verläuft das durch den Menschen verursachte Aussterben von Tier- und Pflanzenarten? Deutlich langsamer als bisher angenommen, sagen neuere Untersuchungen, in denen die bisher gebräuchlichste Methode, Aussterberaten zu bestimmen, hinterfragt wird.

Von Dagmar Röhrlich | 06.07.2011
    Selbst Naturschutzorganisationen fällt es schwer, die Rate zu bestimmen, mit der heute Arten aussterben. So schätzt der WWF, dass es Tag für Tag zwischen drei und 130 Tier- und Pflanzenarten sind. Es sei eben sehr schwierig zu zählen, welche Spezies bereits verschwunden sei, erklärt Stephen Hubbell von der Universität von Kalifornien in Los Angeles:

    "Man kann den Artenschwund ja nicht direkt beobachten. Will man bestimmen, wie viele Arten aussterben, wenn ein Lebensraum verschwindet, gibt es deshalb eine Vielzahl von Methoden, aber alle sind sie indirekt. Und so haben die Forscher dieses Problem seit mehr als 25 Jahren falsch angepackt."

    Es geht um die Frage, wie viele Arten es an einem bestimmten Ort aussterben, wenn beispielsweise ein Drittel einer Magerwiese oder eines Waldes bebaut wird:

    "Weil normalerweise auf einer größeren Fläche mehr Arten leben als auf einer kleineren, schaut man bei der klassischen Methode zunächst, wie die Zahl der Arten mit der Größe des Lebensraums wächst. Man fügt einfach immer weiter Gebiet hinzu, bis man eine neue Art trifft, und die wird dann gezählt. Es erschien dann logisch, diese Linie einfach wieder zurück zu verfolgen, um zu bestimmen, wie die Arten mit schwindender Fläche abnehmen."

    Aber so lasse sich das Aussterben einer Art nicht bestimmen, urteilt Stephen Hubbell. Der Grund: Fällt man ein Drittel eines Urwaldes, sterben dort nicht automatisch entsprechend dieser Fläche die Arten aus: Nicht alle Areale in diesem Wald sind gleichmäßig besiedelt - und so können die Käfer, Frösche, Vögel oder Pflanzen durchaus anderswo leben als gerade dort:

    "Um das Aussterben einer Art zu bestimmen, muss man solange Gebiet wegnehmen, bis das letzte Individuum verschwunden ist. Bemerkenswerterweise ist das bislang noch niemandem aufgefallen, und so sind alle Arbeiten, die mit dieser Methode erarbeitet worden sind, nicht korrekt."

    Um die Aussterberate zu bestimmen, müsse man also ein sehr viel größeres Areal betrachten, so Stephen Hubbell. Um den Fehler der klassischen Methode zu erfassen, verglichen die Ökologen ihre Ergebnisse mit denen einer anderen Modellrechnung, die auch die geografische Verteilung der untersuchten Art berücksichtigt:

    "Wir konnten solche Berechnungen für ein paar Fälle aufstellen, in denen wir ausnahmsweise sehr gute geografische Daten haben: einmal für Vogelarten in den USA und einmal für sehr gut untersuchte Tropenwälder, in denen wir für große Gebiete eine genaue Karte mit jeder vertretenen Arten haben. Mithilfe dieser Daten konnten wir genau berechnen, um wie viel die Schätzungen zu hoch lagen."

    Das Ergebnis: Die einfache Rückwärtsinterpolation überschätzt die Aussterberate um 160 Prozent und mehr:

    "Wenn wir wissen wollen, ob die Gefahr besteht, dass eine Art ausstirbt oder nicht, müssen wir ihren gesamten Verbreitungsraum kennen. Dazu brauchen wir sehr viel bessere Daten, um die genaue geografische Verbreitung einer Art zu erfassen, und diese Daten fehlen uns oft."

    Als höchst interessant beurteilt Carsten Rahbek von der Universität von Kopenhagen die Arbeit seiner Kollegen:

    "Sie haben unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten gerade gerückt, wie der unbestreitbare Artenschwund sauber abgeschätzt werden kann und wie groß die negativen Folgen des Lebensraumverlusts sind. Das ist wichtig für die Zukunft."

    Man müsse die Modellrechnungen um den Faktor erweitern, wie sich die Individuen der untersuchten Art über das verloren gegangene Gebiet verteilen, erklärt Stephen Hubbell. Die dazu erforderlichen Daten fehlten, müssten deshalb so schnell wie möglich erhoben werden. Denn das Massenaussterben laufe mit Sicherheit - nur langsamer - und damit bekomme man ein wenig mehr Zeit, um das Schlimmste zu verhindern.