Samstag, 20. April 2024

Archiv


Das Betriebsgeheimnis der Liebe

Die Liebesgedichte des Slowenen Tomaž Šalamun stecken voll existentiellem Ernst. Šalamun gehört damit zur Internationale der großen poetischen Spielwerker, die an der Grenze zwischen ästhetischer und wirklicher Wirklichkeit, zwischen Sinn und Unsinn die Grenze der Vernunft erweitern und die Scheidelinie zwischen Sagbarem und Nicht-Sagbaren verschieben.

Von Sibylle Cramer | 19.01.2006
    Sein Beginn war ein spürbar soufflierter Auftritt als ästhetischer Freischärler. Für das Ritual seines ersten Auftritts als Dichter nahm sich der 1941 in Zagreb geborene, in Ljubljana lebende Lyriker Tomaž Šalamun die ästhetischen Skandale der poètes maudits, der Ketzergestalten der Literatur des 19. Jahrhunderts zum Vorbild, speziell den genialen Lebensekel Baudelaires. "Finsternis" hieß 1966 das Eröffnungsgedicht des Debütbandes Poker, das die Machtergreifung der Einbildungskraft als einen rabiaten, in seiner sich aufdrängenden Präsenz leibhaften Akt der Verwerfung der Schöpfung und Erotisierung des Widerwärtigen darstellt, der Preisgabe der Kunst an den Ekel. Der deutsche Übersetzer Šalamuns, Peter Urban, stellte das Gedicht an den Beginn des Auswahlbandes "Vier Fragen der Melancholie".

    "Des Bildes meines Stammes müde/ bin ich ausgewandert.
    Aus langen Nägeln/ schweiße ich mir die Glieder eines neuen Körpers./ Aus alten Lumpen werden Eingeweide./ Der faulige Mantel des Aases/ wird der Mantel meiner Einsamkeit./ Das Auge reiße ich mir aus der Tiefe des Sumpfs./ Aus zerfressenen Platten des Ekels/ werde ich mir eine Hütte bauen.

    Meine Welt wird die der scharfen Ränder./ Grausam und ewig.


    Der groteske Stoffwechselvorgang beschreibt die Verwandlung des extrem Gegenwärtigen der Kunst in ihren Stoffplan. Dem Angriff der Phantasie auf die Kunstkonvention liegt die Erkenntnis zugrunde, dass das Schöne tendenziell zugleich das Ekelhafte ist. Der Kollaps der Unterscheidung von Schön und Hässlich ist die formale Seite der Freiheit der Kunst, die hier ihr Betriebsgeheimnis verrät: die Erkenntnis der eigenen Nichtigkeit, der Erfahrung der Substanzlosigkeit der Einbildungskraft.

    "Die Leere ist der Urgrund von allem, sage ich -/ und gerade das macht es mir möglich, auf ihr so/ sicher zu stehen wie auf Beton", lautet wie zur Bekräftigung eines der Motti seiner Liebesgedichten "Ballade für Metka Krašovec". Vierundzwanzig Jahre nach dem Original liegen sie nun in der Übersetzung Fabjan Hafners in einer einsprachig deutschen Ausgabe vor. Den Leser trennt eine dicke Schallmauer von der Stimme der Gedichte, der Sprache des Autors, seiner Verstechnik, seinem Formdenken. Aber siehe da, selbst noch die auf den Sinnplan beschränkte Lektüre vermittelt eine Vorstellung von der Radikalität Šalamuns, der narzisstischen Kraft, dem auftrumpfenden Scharfsinn und der gewollten Direktheit seiner Sprache der Liebe.

    Ein erotischer Seiltänzer spricht, der moralische Codes der Liebe um ihrer Absolutheit willen einreißt. Die Liebeserfahrung erlebt der Liebende der Gedichte als ein Jenseits der Todesverfallenheit der Existenz, der immanenten Negativität der Schöpfung. Die Liebe ist ein das Dasein ergreifender Nicht-Tod. Die Beschwörung der Liebe eröffnet er folgerichtig mit Versen, die ein Diesseits und Jenseits des Nichts, Nicht-Sinns, des Todes aufrichten.

    Nur Gott ist ... Mein TOD ist mein TOD. Ihn teile ich nicht mit dem/ dumpfen Frieden anderer Vernichteter unter der Erde. - Wer immer auch niederkniet an meinem Grab,/ die Erde wird erbeben. Ich werde dir den süßen Saft aus/ dem Nacken und den Genitalien saugen. Gib mir deinen Mund./ Gib Acht, dass dir kein Dorn das Trommelfell durchbohrt ... Sanft, sanft soll dich diese/ Sauerstoffbombe waschen. Sie soll dich nur so viel zerreißen, wie es dein Herz erträgt. Steh auf und/ merke dir: Ich liebe jeden, der mich erkennt. / Immer. Steh jetzt auf. Du hat dich ergeben und bist erwacht.

    "Epitaph" heißt das Sonett, das die Liebe als Erkenntnisakt darstellt und die Präsenz des Absoluten im Erkennen. Die paradoxe Metapher vom gebärenden Todeskuss der Liebe, die den Taufakt der Liebessprache darstellt, macht die Labilität des erotischen Dämon zwischen Sein und Nichtsein, Fülle und Entzug, Schöpfung und Vernichtung sichtbar und die objekthungrige Potenz des Begehrens, das sich zum Helden eines eigenen Epos der Eroberungen einsetzt. Es ist die vorausgesetzte Negativität des menschlichen Seinszustandes, die Šalamuns Liebesgedichte in einen "Kampf um (dein) Leben" verwandeln, einen dem Nichts entrissenen demiurgischen Schöpfungsbericht.

    "Gott" überschreibt er die Verse, die das libertine Gesetz seines Handelns, aber auch seine Produktionslogik enthalten:

    Ich/ verlange/ bedingungslose/ Liebe/ und/ völlige/ Freiheit./ Deshalb/ bin/ ich/ schrecklich.

    Von einem Vers zum nächsten immer vollständiger hebt er ein Inselreich der Liebe ans Licht, das zwischen Europa und den USA ausgespannt ist, wo Šalamun lange Jahre als Stipendiat, Gastprofessor und slowenischer Kulturattaché lebte. Die weisen Worte der Großmutter gehören ebenso dazu wie Mutter, Vater, Bruder Andraž, die russischen Dichter Ossip Mandelstam und Vladimir Majakowski, der Zwiebel- und Hiroshima-Gestank seiner japanischen Liebhaber, der mexikanische Geliebte und all die Frauen, die er unter Gletschern oder Palmen liebte, eine vor allen anderen, die Malerin Metka Krašovec, seine zweite Frau. Mit dabei schließlich ist jener Seehund im Tierpark von Ljubljana, der sich beim Atmen versteckt.

    Der existentielle Ernst seiner Liebesgedichte, die Erfindung einer erfinderischen Liebe, vor allem aber die vielen Register, die befreiende Anarchie und majestätische Überheblichkeit seiner Sprache der Liebe die zwanglos, aber nie zynisch sind, -, all dies beglaubigt sein Programm einer Kunst der scharfen Ränder. Mit ihr gehört Tomaž Šalamun zur Internationale der großen poetischen Spielwerker, die an der Grenze zwischen ästhetischer und wirklicher Wirklichkeit, zwischen Sinn und Unsinn die Grenze der Vernunft erweitern und die Scheidelinie zwischen Sagbarem und Nicht-Sagbaren verschieben.