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Das Buch der Woche

Am 9. Oktober 2008 staunte die Welt. Kaum jemand hatte erwartet, dass der französische Romancier und Essayist Jean-Marie Gustave Le Clézio den Literaturnobelpreis erhalten könnte. Gelegenheit, Le Clézios literarische Kapazitäten noch einmal zu prüfen, gibt die gerade erschienene Übersetzung seines Romans "Lied vom Hunger".

Vorgestellt von Christoph Vormweg | 27.09.2009
    Wie weit muss man ausholen, um Jean-Marie Gustave Le Clézio gerecht werden zu können? Immerhin ist sein Roman "Lied vom Hunger" die achtzehnte Übersetzung ins Deutsche - von insgesamt über 40 Titeln. Warum, fragt man sich, hat dieser in Frankreich - vor allem bei Grünen und Globalisierungskritikern - so populäre Schriftsteller im deutschsprachigen Raum nur so wenig Leser gefunden? Hing das Desinteresse damit zusammen, dass die französische Gegenwartsliteratur bei uns seit den 1980er-Jahren beständig an Ansehen verloren hat, dass nur noch sexfixierte Autoren wie Michel Houellebecq oder Catherine Millet höhere Auflagen erreichten? Oder zogen Le Clézios thematische Schwerpunkte nicht: sein Interesse an archaischen Lebensformen, die Geschichte seiner Vorfahren auf der Insel Mauritius im Indischen Ozean, die Folgen des französischen Kolonialismus? Wie dem auch sei: Seit den 1970er-Jahren geistern einige hartnäckige Fehlurteile über Le Clézio durch die deutschsprachigen Feuilletons: dass er zur Weltflucht neige, zur Idyllisierung zurückgebliebener Gesellschaften, zur Romantisierung des Naturhaften. Zumindest einer hat geahnt, dass genau diese Fehlurteile nach der Verleihung des Literaturnobelpreises ungeprüft wieder aufgewärmt würden: der Berliner Schriftsteller Manfred Flügge, ein ausgewiesener Kenner der französischen Literaturszene. In seiner Würdigung unterstrich Flügge, dass Le Clézio "kein Esoteriker" sei, sondern "an der Realität der Welt interessiert". Das belegt einmal mehr Le Clézios jüngster Roman "Lied vom Hunger", der in Frankreich 2008 zum Bestseller wurde: mit über 350.000 verkauften Exemplaren.

    Ich weiß, was Hunger ist, ich habe ihn gespürt. Als Kind bin ich bei Kriegsende auf der Straße mit all den anderen neben den Lastwagen der Amerikaner hergelaufen und habe die Hände ausgestreckt, um die Kaugummipäckchen, die Schokolade und die Brotrationen aufzufangen, die die Soldaten uns zuwarfen. Als Kind hatte ich eine solche Gier auf Fett, dass ich das Öl aus den Sardinendosen getrunken und mit Genuss den Löffel Lebertran hinuntergeschluckt habe, den mir meine Großmutter zur Stärkung gab. [...] Und während ich das schreibe, spüre ich, wie mir das Wasser im Mund zusammenläuft, als wäre die Zeit stehen geblieben und als hätte ich noch eine direkte Verbindung zu meiner Kindheit. [...] Ich kann [diesen Hunger] nicht vergessen. Er erzeugt ein grelles Licht.

    Seinem Roman "Lied vom Hunger" hat der 1940 in Nizza geborene Le Clézio eine kurze Beschreibung seiner persönlichen Hunger-Erfahrungen vorangestellt. Erst danach taucht er ab in die Lebensgeschichte der heranwachsenden Ethel. Mit dieser Figur setzt der Literaturnobelpreisträger seine Familiensaga fort: nach den Porträts seines Großvaters in "Der Goldsucher" und seines Vaters in "Der Afrikaner " nun die Geschichte seiner Mutter. Denn: "Wenn man älter wird", so Le Clézio, "nimmt der Anteil des Imaginären sicher ab zugunsten der Erinnerungen". Doch auch als familiärer Spurensucher behält sich der Romancier alle schriftstellerischen Freiheiten vor. Das Erinnerte und Recherchierte ist lediglich die Startbahn für seine Fiktion.
    Der Roman "Lied vom Hunger" spielt in der Zeit zwischen 1931, als Ethel knapp zehn Jahre alt ist, und Ende 1944, als Frankreich nach der Befreiung von der deutschen Besatzungsmacht einen Neuanfang sucht. Während des Zweiten Weltkriegs lernt auch sie extreme Nahrungsknappheit kennen. Zentraler jedoch ist für sie als heranwachsendes Mädchen ein anderer Hunger: der Hunger nach Liebe, nach Wahrheit, nach Zukunft. Wie in den meisten Romanen Le Clézios – angefangen mit "Das Protokoll", seinem aufsehenerregenden Debüt von 1963 - steht die Suche nach dem eigenen existenziellen Standort im Vordergrund. So freundet sich Ethel zu Beginn ihrer Pubertät mit Xénia an, die mit ihrer adeligen Mutter aus dem revolutionären Russland fliehen musste. Zum ersten Mal verfügt das Einzelkind damit über eine Vergleichsebene zum heimischen Herd.

    [Ethels] eigenes Leben, der Graben zwischen ihrem Vater und ihrer Mutter, der mit jedem Tag tiefer wurde, und der Streit ums Geld, eine verschwommene, spürbare Bedrohung, auf das Unheil zuzusteuern, all das war nichts im Vergleich zu dem, was Xénia erlebt hatte, der tragische Tod ihres Vaters, die Flucht mit ihrer Mutter und ihren Schwestern durch Deutschland und schließlich die Ankunft in Frankreich, in dieser düsteren, kalten Großstadt, in der sie sich irgendwie durchschlagen mussten. Hätte Ethel Xénia genauso geliebt, wenn sie, ihre Kindheit und ihr gegenwärtiges Leben nicht von diesem Geheimnis umgeben gewesen wären? Ethel erkannte diese Schwäche und ärgerte sich über sich selbst, aber sie konnte dem nicht widerstehen. Nährte sich die Liebe etwa von solchen Hirngespinsten, konnte dieses Gefühl so unrein sein? Manchmal hatte sie den Eindruck, ein Spielball zu sein, der Spielball ihrer Illusionen oder der Spielball dieses Mädchens, das abwechselnd traurig und spöttisch, zynisch und naiv war.

    Le Clézio variiert hier etliche Motive, die wir schon aus früheren Romanen kennen: von der Anziehungskraft des Fremden über das Geheimnis der Liebe bis hin zur "kalten" Großstadt. Mauritius, die Heimat von Le Clézios Vorfahren, ist diesmal nur indirekt präsent: in den Erzählungen von Ethels Verwandten während der sonntäglichen Salongespräche. Ihr Vater Alexandre verdankt der Zuckerrohrinsel die Erbschaft, von der seine Familie seit Langem lebt. Doch durch Fehlinvestitionen und Spekulationen an der Börse droht der Ruin. Hinzu kommt die sich radikalisierende politische Stimmungslage im Frankreich der 1930er-Jahre. Für Le Clézio Gelegenheit, aus der Sicht Ethels ein schonungsloses Bild der Selbstgefälligkeit des Pariser Besitzbürgertums zu zeichnen.

    Je weiter es mit ihrer Familie abwärts ging, desto öfter kamen Ethel wieder diese lärmenden Stimmen in den Sinn, diese absurden, überflüssigen Gespräche, diese ätzende Säure, die den Fluss der Worte begleitete, als verbreiteten diese banalen Worte von Nachmittag zu Nachmittag so etwas wie Gift, das alles ringsumher anfraß, die Gesichter, die Herzen und sogar die Tapeten der Wohnung.
    In demselben Heft, in dem sie als Heranwachsende witzige Einfälle, geistreiche Bemerkungen, Alexandres poetische Sätze und die seltsamen Ergüsse ihrer mauritischen Tanten notiert hatte, schrieb sie jetzt voller Wut die Lächerlichkeiten auf, die Verleumdungen [...] , die gehässigen Bilder: "der vom kosmopolitischen jüdischen Bankier ausgebeutete ehrliche Franzose", [...] "Hitler hat es in Nürnberg gesagt: Frankreich und Deutschland haben mehr Gründe einander zu bewundern, als einander zu hassen." "Er hat die Schuldigen gewarnt: Die Juden und die Bolschewiken werden nicht vergessen", [...] "Die Engländer sind barbarischer als die Deutschen: Sehen Sie sich nur Irland an", [...] "Julius Streicher hat es gesagt: Die einzige Lösung ist die Ausrottung der Israeliten".
    [...] Die Atmosphäre wurde zunehmend gespannter. [...] Vermutlich war Ethel aufgrund ihres Alters die Einzige, die zuhörte, ohne etwas zu sagen. Die anderen hatten schon den größeren Teil des Lebens hinter sich, und Worte waren für sie nur noch Schall und Rauch, waren überhaupt nicht real.


    Das großmäulige Treiben im heimischen Salon spiegelt im Kleinen das Desaster der französischen Politik der 1930er-Jahre wider. Rechtsradikale Ideen grassieren, der Hunger nach neuen Reichtümern schürt den Judenhass. Den Ausverkauf der Moral lernt Ethel auch im Privaten kennen. Erst opfert Xénia ihre innige Freundschaft, um durch eine Zweckheirat zu Geld zu kommen. Dann wird Ethel von ihrem eigenen Vater um die Erbschaft betrogen, die ihr der geliebte Großonkel Soliman hinterlassen hat: ein dichtbewachsenes Grundstück mitten in Paris. Hier sollte das violette, auf der Pariser Kolonialausstellung 1931 gekaufte Holzhaus errichtet werden und Ethel einen Ort des Rückzugs und der Besinnung mitten in der pulsierenden Metropole bieten. Stattdessen gibt ihr Vater den Bau eines Mietshauses in Auftrag. Doch beseitigt das Projekt seine Finanzprobleme keineswegs. Im Gegenteil: Es ruiniert die Familie vollends.

    Die Versteigerung hatte [...] begonnen. Im Wohnzimmer, wie nach einem Trauerfall. Die zusammengeschobenen Möbel, die Planen, das Érard-Klavier mit offenem Deckel, damit die Händler jede Taste prüfen konnten, als verstünden sie etwas davon. Irgendwann wurde Ethel wütend und setzte sich kerzengerade auf den Klavierhocker und holte tief Atem. Sie begann zu spielen, zunächst noch ein wenig steif, doch dann spürte sie, wie Wärme sie allmählich erfüllte, sie spielte ein Nocturne von Chopin, die sanften Töne drangen durch die offenen Terrassentüren nach draußen und erfüllten den schon herbstlich anmutenden Garten, sie hatte das Gefühl, als habe sie noch nie so gut gespielt, noch nie so eine Kraft empfunden. Die Blätter der Kastanien wirbelten im Wind, und jede Passage des Nocturne verschmolz mit dem Fallen der Blätter, jeder Ton, jedes Blatt... Es war ihr Abschied von der Musik, von der Jugend [...], von allem, was sie kannte. Bald würde nichts mehr da sein.

    Der soziale Absturz, das Ende aller Sicherheiten, der Nullpunkt: eine Thematik von zeitloser Aktualität. Ethels ganze Abscheu gilt dem Schuldigen, ihrem Vater, der mit dem Schicksal seiner Familie gespielt hat. Zeit, sich abzusetzen. Doch hält sie die elterliche Hilflosigkeit und Apathie zurück. Ethel fühlt sich zum ersten Mal in ihrem Leben gefordert, übernimmt mit jedem Tag mehr Verantwortung für die Familie, rettet, was zu retten ist. 1940, nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht, organisiert sie die Flucht nach Nizza. Denn als ehemalige Bürger der Insel Mauritius besitzen ihre Eltern nur britische Pässe, womit ihnen die Verhaftung durch die Gestapo sicher wäre. Aus dem betrogenen Kind wird eine Heldin des Alltags.
    Le Clézio erzählt in seinem Roman "Lied vom Hunger" die bittere Geschichte der französischen Niederlage von 1940, die durch die anschließende Kollaboration der Vichy-Regierung mit den Nazis zu einer Geschichte der Mitschuld wird. Dabei interessiert ihn nicht die Überflugperspektive, sondern allein die ganz persönliche Sicht der jungen Ethel. Bestechend ist Le Clézios feinfühlige Ausleuchtung der emotionalen Zwischentöne und Irritationen, seine Zeichnung des Uneindeutigen, des Diffusen. Gerade in Sachen Liebe gibt es für Ethel keine Gewissheiten mehr: ganz gleich ob in ihrer Hassliebe zu den Eltern, in ihrer abgestürzten Bewunderung für Xénia oder in ihrem noch unsicheren Hingezogensein zu dem jüdischstämmigen Engländer Laurent Feld. Dem Wort vertraut sie am allerwenigsten. Zu oft – so ihre Erfahrung - verbergen sich hinter wohltönenden Sätzen nur Halbheit, Lüge und Verrat. Also verlässt sich Ethel mit jedem Tag mehr auf ihre ungefilterten Wahrnehmungen.
    "Lied vom Hunger" gehört zu den Entwicklungsromanen, die von einer tief greifenden Desillusionierung erzählen. Die Flucht nach Süden, ins Ungewisse wird – wie so oft in Le Clézios Romanen und Erzählungen – zu einer Reise ins Ich, das Zurückgeworfensein auf sich selbst zum Ausgangspunkt für eine Veränderung der eigenen Vorstellungen vom Leben, von seinem möglichen Sinn. In der täglichen Konfrontation mit den Widrigkeiten der Besatzungszeit von 1940 bis '44 wächst Ethels Selbstbewusstsein. Sie positioniert ihr Ego neu, unabhängig von ihren Eltern: gerade auch bei der Begegnung mit der Exgeliebten ihres Vaters, einer ehemaligen Sängerin, die von ihrer Mutter zum familiären Feinbild Nr. 1 stilisiert worden war. Aus der einstigen Diva ist in Nizza eine Hungernde geworden, die tagsüber in den Abfällen des Marktes stöbert.

    Beim Anblick des Zuckers und der Reisrationen, die ihr Ethel mitbrachte, glänzten ihre Augen, aber sie stürzte sich nicht darauf. Wenn Ethel mit neuen Vorräten eintraf, zeigte Maude hinter sich und sagte mit kindlicher Befriedigung: "Siehst du, ich habe noch etwas da." Oder: "Das trifft sich gut, meine arme alte Nachbarin hat das dringend nötig." Als sei sie nicht alt, nicht arm und habe es nicht wirklich nötig. Diesen Stolz lernte Ethel an Maude zu schätzen. [...] Jetzt hatte sie keinen Zweifel mehr: Die Frage, die sie quälte, die Frage, die sie nie gestellt hatte, betraf die Liebe, die ihr Vater für die Sängerin empfunden hatte, als er in der Rue d´Assas noch Jura studiert hatte. [...] War sie wirklich seine Geliebte gewesen? Hatte Maude geweint, als Alexandre [...] geheiratet hatte, eine Frau, die jünger war als sie? Hatte sie zu diesem Zeitpunkt beschlossen zu flüchten und mit dem erstbesten Bankier nach Algerien zu gehen wie eine Halbweltdame?

    Schreiben, hat Le Clézio schon 1964 im Vorwort zu seinem Erzählungsband Fieber betont, Schreiben sei für ihn ein "Tasten mit Worten", "das sucht und beschreibt, mit Genauigkeit und Tiefe, das sich festklammert, das der Wirklichkeit unnachsichtig zu Leibe rückt." Das Selbstverständnis des Literaturnobelpreisträgers ist das eines Seismografen. Anders als in seinem großen, multiperspektivisch erzählten Roman "Revolutionen" beschränkt sich Le Clézio in "Lied vom Hunger" auf eine Perspektive. Das macht diesen Roman eingängiger, weniger komplex. Doch überzeugt er auch hier durch genaue, historische Detailrecherche und eine rhythmisch sichere Romanprosa. Le Clézio ist kein Schriftsteller, der seine Leser mit jedem Satz elektrisieren oder herausfordern will. Ihm geht es vielmehr darum, bedächtig, Wort für Wort ein Porträt zu verdichten und die Haltung seiner Figur ganz konkret im jeweiligen geschichtlichen Kontext herauszuarbeiten: so auch, als die Deutschen 1942 in die bis dahin unbesetzte Südzone Frankreichs vordringen und Ethel ihre antriebslosen Eltern zur Flucht ins Hinterland zwingt. Das Zusammenleben im Dorf – auch dies ein altes, immer wieder variiertes Leitmotiv Le Clézios - entpuppt sich im Vergleich zur Großstadt als vorteilhaft:

    In dem Dorf wurden keine Gerüchte verbreitet. Die hohen Berge ringsum bildeten eine eisige Barriere, die die Menschen von der Außenwelt abschnitt. Die jungen Männer gingen nach Italien, um auf Faschisten zu schießen, genauso wie sie auf Gemsenjagd gingen, ohne Prahlerei, aber auch ohne sich zu verstecken. Sie überquerten die Grenze über Pässe, die in den Wolken verborgen lagen, und kamen mit Wurst und Schinken, hellem Tabak, Schokolade und Schachteln voller Patronen wieder. Sie waren in Lammfelle gehüllt, gebräunt, bärtig und nicht zu zähmen. Die Mädchen glichen den Bäuerinnen von Breughel. Ethel kleidete sich wie sie, um nicht aufzufallen, aber auch aus Bewunderung. Umhang, Rock aus grober Wolle, schwarzes Kopftuch, Holzpantinen. Die Frauen hier waren großzügig und schweigsam. Dadurch dass sie im Haus der Witwe Alberti untergekommen waren, eine Empfehlung des Hafengeistlichen, hatten sich Ethel und ihre Familie unter den Schutz des ganzen Dorfes gestellt. Sie wusste, dass die Leute sie nicht verraten und sich eher in Stücke reißen lassen würden, als sie zu denunzieren. Sie hatten kein Geld, aber überall, beim Bäcker, beim Schlachter, konnten sie anschreiben lassen. "Das regeln wir später, wenn der Krieg zu Ende ist", sagte Madame Alberti.

    Jean-Marie Gustave Le Clezio, der die meiste Zeit in New Mexico lebt und für den die französische Sprache die "einzige wirkliche Heimat" ist, wird in Frankreich gern für seine Lektionen in Sachen Humanität gelobt. Doch sollte man die eine oder andere gutmenschelnde Nuance nicht verallgemeinern. Denn der Literaturnobelpreisträger versteht es zu differenzieren: Hilft auf der einen Seite ein Dorfbewohner selbstlos Flüchtlingen, kann auf der nächsten schon der Nachbar zum Denunzianten werden. Le Clézio ist immer ein Schriftsteller der Zweischneidigkeit. Seine Philosophie der Suche ist so schonungs- wie illusionslos. Dem Weg und der Erfahrung misst sie mehr Bedeutung bei als dem Ankommen. Das Abenteuerliche spielt sich stets auf zwei Ebenen ab: zum einen auf der Ebene des Überlebenskampfes, zum anderen auf der des Ringens um Erfüllung. Das Lebensziel der materiellen Bereicherung, das Ethels Vater verfolgt hat, entlarvt sich von selbst als Pseudo-Bereicherung. Ihm wird abgeschworen zugunsten einer inneren Bereicherung. Mit einem Wort: "Lied vom Hunger" ist ein typischer Le-Clézio-Roman mit einigem Déjà-vu. Doch auch wer schon einige Romane von ihm gelesen hat, kommt auf seine Kosten: allein schon wegen der Brisanz des historischen Hintergrunds von Vorkriegszeit und deutscher Okkupation. Der Mythenbildung von einer in ihrer Mehrheit widerständigen französischen Gesellschaft geht Le Clézio jedenfalls nicht auf den Leim. Vielmehr muss Ethel, Ende 1944 zurück in Paris, erfahren, dass sich etliche ehemalige Salongäste Gewinn bringend mit den Nazis arrangiert hatten. Für ihren jüdischen Verlobten Laurent Feld, der für die Briten kämpfte, ist es sogar undenkbar, in Frankreich zu leben. Denn seine geliebte Pariser Tante wurde denunziert, enteignet und ins KZ deportiert. Hoffnung bietet da nur, das Glück fernab von dem in sich zerrissenen Europa zu suchen: in Kanada.
    "Lied vom Hunger" ist sicher nicht der stärkste Roman Le Clézios. Andererseits gibt es keinen Grund, den Literaturnobelpreisträger zu unterschätzen. Er zählt zu den Schriftstellern, die zugleich bewegend und nüchtern erzählen können, ohne eine künstlich frisierte Plot-Dramatik nötig zu haben. Denn die Wirklichkeit liefert Le Clézio Stoff genug.
    Für ihn gleicht die Lektüre eines Romans, wie er einmal gesagt hat, dem Eintreten in einen Tanz. Nach der autobiografischen Eingangspassage endet "Lied vom Hunger" dann auch folgerichtig mit einer autobiografischen Schlusspassage. Darin erzählt Le Clézio, wie ihm seine Mutter und der Ethnologe Claude Levi-Strauss - unabhängig voneinander - die Premiere von Maurice Ravels Boléro beschrieben haben. Diese Musik war für beide eine Prophezeiung, ein visionärer Ausblick auf die spätere Katastrophe des Zweiten Weltkriegs.

    Der Boléro [...] erzählt eine Geschichte von Zorn und Hunger. Und wenn er in einem Auflodern von Gewalt endet, ist die darauf folgende Stille für die betäubten Überlebenden furchtbar.

    J.M.G. Le Clézio: "Lied vom Hunger". Roman.
    Aus dem Französischen von Uli Wittmann. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2009. 218 Seiten, 18 Euro 95.