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Das CERN wird 60
Quarks, Higgs und World Wide Web

Es zählt zu den bekanntesten Forschungszentren der Welt - das CERN, das Europäische Laboratorium für Teilchenphysik in Genf. Hier wurde das World Wide Web erfunden, und hier hat man vor zwei Jahren das meistgesuchte Teilchen der Physik entdeckt, das Higgsteilchen. Heute vor 60 Jahren, am 29. September 1954, wurde der Staatsvertrag zur Gründung ratifiziert - quasi der Geburtstag des CERN.

Von Frank Grotelüschen | 29.09.2014
    Blick in den Teilchenbeschleuniger Large Hadron Collider (LHC) am Kernforschungszentrum Cern.
    Blick in den Teilchenbeschleuniger Large Hadron Collider (LHC) am Kernforschungszentrum Cern. (AFP)
    "Jetzt trennt uns noch eine Tür vom ATLAS-Detektor. Und da schauen wir jetzt mal rein."
    Das CERN in Genf. Mit dem Fahrstuhl ist Ingenieur Markus Joos 80 Meter in die Tiefe gefahren. Nun öffnet er die Tür zu einer riesigen unterirdischen Halle. Hier steht eines der größten Messgeräte der Welt - der Detektor ATLAS.
    "Der Detektor ist 25 Meter hoch, 45 Meter lang und wiegt etwa 7.000 Tonnen."
    ATLAS steht am weltweit stärksten Beschleuniger, dem LHC, einem Ring mit 27 Kilometern Umfang. Er beschleunigt Protonen nahezu auf Lichtgeschwindigkeit, um sie frontal zusammenprallen zu lassen. Diese Kollisionen beobachtet ATLAS, die überdimensionale Teilchenkamera.
    "Die Kollisionen finden genau im Zentrum vom Detektor statt. Wenn dort die Protonen zusammenstoßen, entstehen sekundäre Teilchen aus den Kollisionen. Man hat so etwa 1000 einzelne Bruchstücke, die man genau detektieren muss."
    Urbaustein der Welt entdeckt
    Aus den Messdaten lesen die Forscher heraus, ob der LHC ein bis dato unbekanntes Teilchen erzeugt hat - einen neuen Urbaustein der Welt.
    Forschung im XXL-Format - dafür ist das CERN heute bekannt. Angefangen aber hatte es vor 60 Jahren sehr viel bescheidener.
    1954, das Dörfchen Meyrin in der Nähe von Genf. Bagger sind angerückt und heben auf der grünen Wiese eine Baugrube aus - das Fundament für ein neues Forschungszentrum.
    "Erstens gab es eine Initiative von den Physikern in Europa damals, die eingesehen haben, dass nur wenn man die europäischen Kräfte bündelt, Europa konkurrenzfähig ist insbesondere mit den Vereinigten Staaten."
    Herwig Schopper, ehemaliger Generaldirektor des CERN. Vor dem 2. Weltkrieg hatte Europa die Forschung dominiert. Doch nun, in den 50er Jahren, gibt Amerika den Ton an. Um wieder ins Geschäft zu kommen, wollen Europas Physiker ein großes, gemeinsames Zentrum gründen. Doch das CERN hat auch politische Wurzeln.
    "Es wurde nach dem Krieg das Institut für europäische Kultur gegründet, wo zum ersten Mal nach dem Krieg englische, französische und deutsche Politiker sich treffen konnten und überlegt haben: Was kann man tun, dass die Europäer wieder zusammenfinden zu friedlicher Zusammenarbeit? CERN wurde so die erste europäische Organisation - älter als alle anderen."
    Besonders die Deutschen sehen im CERN die Möglichkeit, das durch die Hitlerzeit ramponierte Ansehen aufzupolieren und sich wieder in die Völkergemeinschaft einzugliedern.
    "Operation will begin in 10 minutes..."
    Der erste Beschleuniger am CERN ist 1959 fertig. Dennoch haben die Amerikaner weiter die Nase vorn: Sie entdecken ein neues Teilchen nach dem anderen und kassieren dafür Nobelpreis nach Nobelpreis.
    "Attention"
    Das ändert sich erst, als das CERN 1978 einen wagemutigen Plan fasst.
    "Technisch war das monströs beinahe, die Idee war zunächst mal verrückt."
    Erinnert sich CERN-Veteran Hans Hoffmann.
    "Aber CERN ist wirklich ein Platz, wo man auch sehr weit hergeholte Dinge realisieren kann."
    World Wide Web als wichtigste Innovation
    Eine Seite der Videostreaming-Firma Netflix ist auf einem Laptop-Bildschirm zu sehen.
    Die Entdeckung des World Wide Web gilt als die innovativste des CERN. (dpa / Bernd Von Jutrczenka)
    Die Idee: Ein Beschleuniger, der zwei Protonenstrahlen frontal aufeinander schießt - damals ein Novum, ein Wagnis. Doch der Plan geht auf, 1983 gibt das CERN die Entdeckung eines neuen Teilchens bekannt, des sog. Z-Teilchens. Schon ein Jahr später ...
    "... wird sie mit dem Nobelpreis belohnt, es ist der Erste fürs CERN. Dann trumpft das Forschungszentrum erneut auf. Ende der 80er Jahre sorgt das Team um den Informatiker Tim Berners-Lee für eine der wichtigsten Innovationen unserer Tage: das World Wide Web. Robert Cailliau, einst Mitstreiter von Berners-Lee, erinnert sich."
    "Ende der 80er Jahre wurde es zum Problem, dass viele Forscher ständig zwischen dem CERN und ihrer Heimatuniversität pendelten. Damals war es nicht ohne weiteres möglich, von einem Rechner etwa aus Deutschland auf einen Computer am CERN zuzugreifen. Um das zu vereinfachen, kam Tim Berners-Lee auf die Idee, jedem Dokument, egal auf welchem Rechner in der Welt es liegt, einen eigenen, unverwechselbaren Namen zu geben. Dadurch war sichergestellt, dass man dieses Dokument auch wirklich findet. Das war Tims eigentliche Innovation."
    Stärkster Teilchenbeschleuniger der Welt
    Dann, 2008, startet der LHC, der stärkste Beschleuniger der Welt. Damit schiebt sich das CERN endgültig an die Weltspitze der Teilchenphysik. Zwar verläuft der Start holprig: Im Tunnel explodiert Flüssighelium, die Druckwelle reißt Dutzende von Spezialmagneten um. Doch 2010 legt der LHC richtig los, und am 4. Juli 2012 verkündet CERN-Direktor Rolf Heuer eine Sensation.
    "Ich würde sagen: Wir haben es! Glauben Sie das auch?"
    Die Illustration zeigt den Zerfall eines fiktiven Higgs-Boson.
    Die Illustration zeigt den Zerfall eines fiktiven Higgs-Boson. (picture alliance / dpa / Cern)
    Mit hoher Wahrscheinlichkeit hat der LHC das Higgs entdeckt, das meistgesuchte Teilchen der Physik. Es hilft bei der Erklärung, warum unsere Welt überhaupt Masse besitzt. Der schottische Theoretiker Peter Higgs hatte das Teilchen schon in den sechziger Jahren vorausgesagt - und zeigt sich angesichts der Entdeckung sichtlich gerührt.
    "For me it's really an incredible thing that happened in my life!"
    2013 erhält Peter Higgs gemeinsam mit dem Belgier François Englert den Nobelpreis für Physik. Dennoch: Ungetrübt ist die Freude der Fachwelt nicht. Denn eigentlich hatte sie sich von dem Riesenbeschleuniger noch mehr versprochen - und zwar Indizien für eine ganz neue Theorie der Teilchenphysik, die Supersymmetrie. Sie wäre grundlegender als die bisherigen Modelle und könnte hinter jener rätselhaften dunklen Materie stecken, von der es im Weltall nur so zu wimmeln scheint. Aber:
    "Die Erwartungen, die Supersymmetrie mit dem LHC zu entdecken, waren enorm. Bislang aber haben wir nichts gesehen. Und da ist die Enttäuschung natürlich groß."
    sagt CERN-Theoretiker Gian Giudice. Immerhin bleibt ihm die Hoffnung auf einen neuen Anlauf: Nach zweijähriger Umbaupause wird der LHC im nächsten Frühjahr wieder loslegen und seine Protonen mit deutlich größerer Wucht aufeinanderschießen als zuvor. Doch sollte selbst das nichts helfen, haben die Beschleuniger-Experten des CERN, Leute wie Oliver Brüning, noch einen weiteren Plan in der Schublade.
    "Wir denken jetzt über eine Tunnelgröße von 100 Kilometern nach. Die würde vom CERN anfangen, würde um den Genfer See herumgehen - also eine gewaltige Maschine sein."
    Ein Ring mit hundert Kilometern Umfang wäre sieben Mal leistungsstärker als der LHC - was die Chance, neue Teilchen zu entdecken, drastisch erhöht. Fertig wäre dieser Megabeschleuniger aber wohl erst, wenn das CERN im Jahre 2054 seinen Hundertsten feiert - und an seine Ursprünge denkt, als auf der grünen Wiese etwas abseits von Genf die ersten Baugruben ausgehoben wurden.