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Das Denken Pierre Bourdieus im 21. Jahrhundert
Noch feinere Unterschiede?

Der französische Soziologe Pierre Bourdieu (1930 - 2002) ging davon aus, dass gesellschaftliche Unterschiede wesentlich feiner sind, als sie beispielsweise von der marxistischen Theorie beschrieben werden. Nicht nur die Herkunft, sondern auch der sogenannte Habitus bestimme den Rang einer Person.

Von Michael Reitz | 26.11.2017
    Royal Ascot-Pferderennen in Windsor, Großbritannien, 2017
    Habitus: Bei allen sozialen Auf- und Abstiegen sieht man einem Menschen immer noch an, aus welchem sozialen "Stall" er kommt - so die These des Soziologen Pierre Bourdieu (imago / Frank Sorge)
    Der traditionellen Aufteilung in Klassen stellt er ein hochdifferenziertes Modell entgegen, das geprägt ist von vier Kapitalarten: ökonomisches, kulturelles, soziales und symbolisches Vermögen. Eine zentrale Rolle kommt dabei dem sogenannten Habitus zu. Bourdieu versteht darunter Gewohnheiten, Güter und Lebensstil, die jemanden als Angehörigen einer bestimmten sozialen Gruppe kennzeichnen.
    Lesung von dem Soziologen und Philosophen Pierre Bourdieu im Audimax der Humboldt-Universität
    Lesung von dem Soziologen und Philosophen Pierre Bourdieu im Audimax der Humboldt-Universität (picture-alliance / dpa / Lautenschläger Max)
    Doch sind diese feinen Unterschiede heute noch aufrechtzuerhalten, bzw. müssten sie nicht noch feiner werden? Die Möglichkeit der Selbstdarstellung in den sozialen Netzwerken beispielsweise stellt das Habitus-Konzept auf den Kopf; der hybride Konsument kauft sowohl in Billigläden als auch in hochpreisigen Märkten. Ging Bourdieu noch davon aus, dass der Erwerb kulturellen Kapitals sozialen Aufstieg bedeuten könnte, sprechen heutige Soziologen wie Oliver Nachtwey von Abstiegsgesellschaften.

    Das Manuskript zur Sendung:
    "Das hier vorgelegte Modell der Wechselbeziehungen zweier Räume - dem der ökonomisch-sozialen Bedingungen und dem der Lebensstile (…) scheint mir über den partikularen Fall hinaus Geltung zu besitzen, und zwar für alle geschichteten Gesellschaften, selbst wenn das System der Unterscheidungsmerkmale, durch die sich soziale Unterschiede äußern oder verraten, ein je nach Epoche und Gesellschaft anderes ist." (Zitat)
    In der britischen Castingshow "Britain’s got talent" trat 2007 ein gewisser Paul Potts mit einer ungewöhnlichen Darbietung auf. Statt eines Pop- oder Rocksongs sang er die Arie "Nessun dorma" aus Puccinis Oper Turandot. Seine Interpretation ging nicht nur der Jury zu Herzen. Nach dem Gewinn des Wettbewerbs bekam der 1970 geborene Paul Potts einen Plattenvertrag und wurde innerhalb kürzester Zeit steinreich. Was zu seinem Aufstieg beitrug, war das spektakuläre Narrativ, dass sich rasch um seine Person bildete: Vater Busfahrer, Mutter Supermarktkassiererin, Sohn erobert die Hochkultur.
    Für Paul Potts sozialen Aufstieg sorgte ein Urteil, dass von einem bestimmten Milieu erzeugt und von anderen reproduziert wurde. Es war weder geschmackssicher noch besonders differenziert. Professionelle Musikkritiker wiesen darauf hin, dass Paul Potts bei allem Mut, den er mit seinem Auftritt bewiesen hatte, ein eher mittelmäßiger Künstler sei. Während des Singens verbrauchte er zuviel Kraft, zudem sang er den Text falsch. Hinzu kam, dass er alles andere als ein kulturell unterbelichteter Underdog war: Er hatte ein Philosophiestudium und eine klassische Gesangausbildung absolviert.
    Am Beispiel dieses britischen Shooting-Stars lassen sich die Kernpunkte einer der einflussreichsten soziologischen Theorien des 20. Jahrhunderts exemplifizieren: das Habitus-Konzept und das der hochkomplexen Differenzierungen, die der französische Philosoph und Soziologe Pierre Bourdieu entwickelte. Aus der Fülle der Veröffentlichungen des 1930 geborenen Bourdieu sticht vor allem ein 1979 erschienenes Buch heraus: Es trägt den Titel "Die feinen Unterschiede - Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft". Bis heute gilt es als Klassiker der Analyse und Beschreibung moderner Gesellschaften.
    Kulturelles Kapital bestimmt den Rang einer Person mit
    Galt in der Soziologie lange Zeit das Klassen- oder Schichtenmodell, das die Gesellschaft rein ökonomisch zwischen Unter-, Mittel- und Oberklasse unterschied, so modifizierte Bourdieu dieses Schema durch eine Öffnung zur Kultur. Es ist nicht nur das ökonomische Kapital, das die Stellung eines Menschen in der Gesellschaft ausmacht, sondern auch sein kulturelles. Jeder Mensch, so Bourdieu, versuche deshalb, nicht nur wirtschaftlich aufzusteigen, sondern auch mit der Aneignung kulturellen Wissens und kultureller Kompetenz. Knapp zwei Jahrzehnte nach dem Erscheinen der "Feinen Unterschiede" sagte Pierre Bourdieu in einem Interview:
    "Im Grunde geht es mir in diesem Buch darum, die herkömmliche Vorstellung von Klasse außer Kraft zu setzen statt sie zu stärken. Mein Versuch geht dahin zu zeigen, dass zwischen der Position, die der Einzelne innerhalb eines gesellschaftlichen Raumes einnimmt, und seinem Lebensstil ein Zusammenhang besteht."
    Was "Die feinen Unterschiede" nicht nur beim soziologischen Fachpublikum zu einem Renner machte, war seine Mischung aus Theorie und einer Fülle von Alltagsbeobachtungen. Pierre Bourdieu ging 1979 davon aus, dass in den modernen Industriegesellschaften die traditionelle Zugehörigkeit zu einer Klasse oder Schicht zwar noch existiert, dass sie aber nicht mehr nur durch die ökonomische Position eines Menschen gekennzeichnet sei. Soziale Ungleichheit entstehe nicht nur dadurch, dass manche viel und andere wenig haben.
    Vier Kapitalsorten macht Bourdieu für die Aufteilung der Gesellschaft in Klassen aus: ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital und symbolisches Kapital, jeweils auch an Unterschiede in Geschmack und Lebensstil gebunden. Der springende Punkt ist dabei, dass diese unterschiedlichen Kapitalformen miteinander korrespondieren können. So kann zum Beispiel ein Milliardär sein ökonomisches Kapital für Sponsoring und Charity-Projekte einsetzen, um damit symbolisches Kapital zu erwerben, das ihm in der Gesellschaft ein besseres Image verschafft. Ein Arbeiter oder Angestellter, der kulturelles Kapital besitzt, weil er zum Beispiel viel gelesen hat, eine Fremdsprache spricht, Abitur hat oder sich in Kunststilen auskennt, hat nach Bourdieu dadurch die Möglichkeit, seinen sozialen Status zumindest ein wenig zu verbessern.
    Pierre Bourdieu führte damit eine mehrdimensionale Sichtweise der Gesellschaftsstruktur ein, die gelesen werden konnte wie ein räumliches Modell, das man sich wie ein Kreuz vorstellen kann. Auf der einen Seite der Längsachse befindet sich das kulturelle, auf der anderen das ökonomische Kapital. An der oberen Seite des Kreuzes ist die Oberklasse mit hohem Anteil an beiden Kapitalarten, am unteren Ende die Unterschichten mit entsprechend weniger Partizipation an Geld und kulturellem Wissen, dazwischen die Mittelklasse.
    "Die feinen Unterschiede", die Bourdieu heraus arbeitet, kommen nun durch die Positionierungen zustande, die die gesellschaftlichen Akteure in diesem Raum einnehmen. Die Tochter aus einfachen Verhältnissen kann durch ihr Medizinstudium wirtschaftlich aufsteigen. Das bedeutet jedoch nicht, dass das auf der kulturellen Ebene ebenfalls geschieht.
    Soziales Kapital
    Anders der ebenfalls Medizin studierende Sohn einer Familie, die seit Generationen aus Akademikern besteht, die eine große Bibliothek besitzt und regelmäßig Theater- und Konzertaufführungen besucht. Ihm wird es leichter fallen, über beide Kapitalsorten zu verfügen. Eine Rolle spielt dabei auch das soziale Kapital: Beziehungen, gegenseitige Verpflichtungen oder gemeinsame Vereine und Clubs wie die Rotarier oder Freimaurer. Pierre Bourdieu schreibt:
    "Das Sozialkapital ist die Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind. (…) Es handelt sich dabei um Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen." (Zitat)
    Ein anderes Beispiel. Der Millionärserbe, dessen Vater durch einen gelungenen Börsencoup oder eine zündende Geschäftsidee plötzlich zu Wohlstand gekommen war, liest nur Krimis, liebt die Musik von André Rieu und besucht am liebsten das Boulevardtheater. Laut Bourdieu hängt das Handeln eines sozialen Akteurs von dessen Position im sozialen Raum ab. Es gibt keine persönlichen Vorlieben, sie sind bestimmt durch die Position. Ein hoher Stellenwert kommt dabei dem Geschmack zu. In "Die feinen Unterschiede" heißt es dazu:
    "Geschmack klassifiziert - nicht zuletzt den, der die Klassifikationen vornimmt. Die sozialen Subjekte, Klassifizierende, die sich durch ihre Klassifizierungen selbst klassifizieren, unterscheiden sich voneinander durch die Unterschiede, die sie zwischen schön und hässlich, fein und vulgär machen - Unterschiede." (Zitat)
    Der "Habitus": Das ist nichts für uns!
    Geschmack bildet sich nach Pierre Bourdieu durch etwas, das er "Habitus" nennt. Dieser "Habitus" ist unveränderbar, selbst bei den stärksten sozialen Aufstiegen und den katastrophalsten Abstiegen sieht man einem Menschen immer noch an, aus welchem sozialen, salopp gesagt, Stall er kommt. In der ihm eigenen zumeist komplizierten Sprache schreibt Pierre Bourdieu:
    "Der Geschmack ist die Grundlage alles dessen, was man hat - Personen und Sachen -, wie dessen, was man für die anderen ist, dessen, womit man sich selbst einordnet und von den anderen eingeordnet wird. Die Geschmacksäußerungen und Neigungen (...) sind die praktischen Bestätigungen einer unabwendbaren Differenz. Nicht zufällig behaupten sie sich dann, wenn sie sich rechtfertigen sollen, rein negativ, durch die Ablehnung und durch die Abhebung von anderen Geschmacksäußerungen." (Zitat)
    Habitus, das ist die Gesamtheit unserer Gewohnheiten, Gesten, Vorlieben, die Art, wie wir uns kleiden, reden und bewegen, welche Musik wir hören - und welche nicht. Es besteht auch ein Zusammenhang zwischen dem Habitus und den sozialen Beziehungen, die sich Pierre Bourdieu zufolge nicht vermischen lassen: Die Gäste eines Schützenfestes werden nicht - oder sehr selten - auf einer Vernissage zu finden sein und umgekehrt. Auf beiden Seiten kommt es dabei aus unterschiedlichen Gründen zur gleichen Haltung: Das ist nichts für uns!
    Der Habitus prägt unseren Geschmack. Und der Geschmack bewirke, schreibt Bourdieu: "Dass man hat, was man mag, weil man mag, was man hat." (Zitat)
    Die soziale Welt funktioniert wie ein Spiel, bei dem jeder seine ihm von der Bank des Casinos ausgehändigten Chips einsetzt. Allen gemeinsam ist dabei der Kampf um Anerkennung, der Wille, als unterschiedlich und unterscheidbar wahrgenommen zu werden.
    "Mit der Investition in ein Spiel, mit seiner Besetzung und mit der Anerkennung, die der Wettbewerb mit den anderen bringen kann, bietet die soziale Welt den Menschen, was ihnen am meisten fehlt: eine Rechtfertigung ihrer Existenz." (Zitat)
    Dies gilt vor allem für die unteren Schichten, für diejenigen, die aufsteigen wollen. Und denen es wichtig ist, nicht mehr als Lohnempfänger oder Kulturbanausen angesehen zu werden. Paul Potts wollte diesen Unterschied machen - was ihm in seinem Milieu auch auf bewundernswerte Weise gelang. Die gesellschaftliche Urteilskraft hat jedoch mehr als nur einen Gerichtshof. Wer erfolgreich an dem gesellschaftlichen Spiel teilnehmen will, muss nicht nur dessen Regeln kennen, sondern auch eine Antenne dafür haben, wie man sich selbst zu einem Original macht, mit Bourdieu gesagt "ausdifferenziert", von allen Instanzen anerkannt wird.
    Das Feld der heute so beliebten Castings und Castingshows ist natürlich ein anderes als das einer Akademie, etwa für klassischen Gesang - beide bedienen eine ganz unterschiedliche Klientel. Um auf der kulturellen Ebene etwas beurteilen zu können, so sieht es jedenfalls Pierre Bourdieu, muss man Vergleichsmöglichkeiten haben. In seinem Buch "Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns", das 1994, acht Jahre vor seinem Tod, erschien, schreibt Bourdieu:
    "Ein Unterschied (…) wird nur dann zum sichtbaren, wahrnehmbaren, nicht indifferenten, sozial relevanten Unterschied, wenn er von jemandem wahrgenommen wird, der in der Lage ist, einen Unterschied zu machen - weil er selbst in den betreffenden Raum gehört (…) und weil er über die Wahrnehmungskategorien verfügt, die Klassifizierungsschemata, den Geschmack, die es ihm erlauben (…) zu unterscheiden - zwischen einem bunten Bildchen und einem Gemälde oder zwischen Van Gogh und Gauguin." (Zitat)
    Hier drängen sich Zweifel und Kritik auf. Es ist Pierre Bourdieu oft vorgeworfen worden, dass die von ihm als "Habitus" bezeichnete Verknüpfung von Individuum und Gesellschaft nur behauptet sei und nicht nachgewiesen werden könne. Zudem sei dieses Konzept der Gesellschaft fatalistisch und deterministisch. Und in der Tat klingt dieses aus dem Jahr 1979 stammende Deutungsangebot manchmal wie eine Theorie, in der lebende Menschen nicht vorkommen.
    "Der Begriff Habitus (…) bezeichnet im Grunde eine recht simple Sache: Wer den Habitus einer Person kennt, der spürt oder weiß intuitiv, welches Verhalten dieser Person verwehrt ist. Mit anderen Worten: Der Habitus ist ein System von Grenzen." (Zitat)
    Folgte man der Annahme, dass der Habitus einer Person dieser etwas verwehrt, wären zahlreiche Phänomene vor allem in der Populärkultur überhaupt gar nicht erst möglich gewesen - auch schon zum Zeitpunkt des Entstehens der "Feinen Unterschiede". Die Beatles beispielsweise waren Arbeitersöhne reinsten Wassers, mit allem, was man damit verbindet: rüpelhaftes Benehmen, rauflustig und trinkfreudig. Was sie jedoch nicht daran hinderte, Mitte der 1960er‑Jahre die Kompositionslehren von Gustav Mahler und Karlheinz Stockhausen zu studieren und erfolgreich für ihre Songs zu adaptieren. Bei den Rolling Stones war es umgekehrt: Aus der Mittelklasse stammend, orientierten sie sich an dem Musikstil des Rhythm ‚n‘ Blues, der in den USA ursprünglich vor allem von den Unterschichten gespielt und gehört wurde.
    Die soziale Welt hat sich in den vergangenen drei Jahrzehnten so stark verändert wie kaum zuvor in einem solchen Zeitraum. Seit dem Siegeszug von Globalisierung und Neoliberalismus haben sich stringente Schichten- oder Milieumodelle immer mehr aufgelöst. Heute existieren überall Hybridformen, Verflüssigungen, es gibt nichts Festes mehr. Weder in den Beziehungen der Menschen zueinander noch in den ökonomischen Verhältnissen. Wir leben in einer Welt, in der buchstäblich mit allem zu rechnen ist.
    Bourdieus Methode der "feinen Unterschiede" war neu
    Das historisch Neue und Einzigartige bei Pierre Bourdieu war die hohe Differenzierung, mit der er die Gesellschaft beschrieb. Seine Methode, "feine Unterschiede" zu machen, ist auch heute noch sinnvoll. Doch wie jeder Theoretiker und Kulturwissenschaftler musste er von einer gesellschaftlichen Struktur ausgehen, die er zu seiner Zeit vorfand. In der Schrift Meditationen: "Zur Kritik der scholastischen Vernunft" betonte Pierre Bourdieu 1997 für sein Habitus-Konzept den Aspekt des Wandels:
    "In Abhängigkeit von neuen Erfahrungen ändern die Habitus sich unaufhörlich. Die Dispositionen sind einer Art ständiger Revision unterworfen, die aber niemals radikal ist, da sie sich auf der Grundlage von Voraussetzungen vollzieht, die im früheren Zustand verankert sind. Sie zeichnen sich durch eine Verbindung von Beharren und Wechsel aus, die je nach Individuum und der ihm eigenen Flexibilität oder Rigidität schwankt." (Zitat)
    Ausgangspunkt der Habitus-Theorie Pierre Bourdieus waren unter anderem die Romane Gustave Flauberts und Honoré de Balzacs. Bourdieu fand in diesen Klassikern der bürgerlichen französischen Literatur den sozialen Status ihrer Figuren hauptsächlich dadurch beschrieben, was sie essen und wie sie ihre Mahlzeiten zu sich nehmen. Dies, so Bourdieu, sei erstaunlicherweise niemals Gegenstand der Soziologie gewesen. Denn wie kein anderes Kriterium sei das Essen geeignet, den Punkt im sozialen Universum zu verorten, an dem sich das Individuum aufhält und aufhalten muss. Dementsprechend verlief bei Pierre Bourdieu die soziale Grenze zwischen Veuve‑Clicquot‑Champagner und Perlwein, Chateaubriand und Rotkohl mit Mettwurst.
    Dieses sozialkulinarische Bollwerk existiert heute, hervorgerufen durch die globalisierte Wirtschaft und die neoliberale Praxis des deregulierten Kapitalismus, nicht mehr - zumindest nicht in einem Ausmaß, das soziale Duftmarken setzen und Territorien markieren könnte. Zu Bourdieus Zeiten vor 30 Jahren wäre es selbst für mittlere Einkommensklassen ein ziemlicher Luxus gewesen, Räucherlachs, Krabben, Garnelen und exotische Früchte auf dem Tisch zu haben. Aquaplanting, Fischer in der Dritten Welt, die für Hungerlöhne arbeiten, und die Industrialisierung der Nahrungsmittelproduktion machen dies heute möglich. Distinktion über die Nahrungsgewohnheiten ist zwar immer noch möglich. Doch die Unterschiede gerade zwischen Mittel- und Oberklasse sind noch feiner geworden.
    Soziale und kulturelle Grenzen haben sich im 21. Jahrhundert verschoben
    Heute herrscht der hybride Konsument vor. Der Banker kauft im gleichen Supermarkt wie der Sachbearbeiter seines Unternehmens. Denn - um in Bourdieus Schema des mehrdimensionalen Raumes zu bleiben - in der einen Ecke befindet sich das exquisite Charolais-Rind, in der anderen das tiefgefrorene Rumpsteak. Die Trennung zwischen oben und unten, ablesbar an den Gewohnheiten und Vorlieben, ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht mehr aufrechtzuerhalten. Die sozialen Grenzen haben sich verschoben, die kulturellen ebenfalls.
    Analysierte Pierre Bourdieu beispielsweise noch die Versuche der Unter- und Mittelklasse, durch den Erwerb kulturellen Kapitals in der Gesellschaft eine wichtigere Rolle zu spielen, scheint es nun so zu sein, dass das obere Drittel dieser Kapitalform dem unteren entgegenkommt. In den Nullerjahren im neuen Jahrtausend setzte aufgrund cleverer Marketingstrategien ein wahrer Boom für Opern- und Operettenarien ein. Den Drei Tenören folgten Die jungen Tenöre, das vorgetragene Repertoire bestand zumeist aus Stücken, die für den Massengeschmack bearbeitet worden waren. Es wäre übertrieben zu behaupten, der Fließbandarbeiter habe dadurch seine Liebe zu Rossini und Mozart entdeckt. Doch das Publikum, das nun in die Konzertsäle ging, hatte sich gleichwohl geändert. Peinlicher Höhepunkt dieses Trends war eine Inszenierung von Offenbachs Orpheus in der Unterwelt 2005 an der Kölner Oper, die von dem Kulturkritik-Establishment prompt gnadenlos verrissen wurde. Die Gründe: Franz-Josef Antwerpes, ehemaliger Regierungspräsident der Region Köln und definitiv kein Schauspieler, spielte eine Rolle; manche Textpassagen wurden im rheinischen Dialekt vorgetragen; die Unterwelt wurde durch den wenig originellen Einfall dargestellt, sie in U-Bahn-Stationen anzusiedeln. Kulturelles Kapital und Deutungshoheit müssen eben auch verteidigt werden.
    Der Faktor Lifestyle
    Durch Castingshows wie "Deutschland sucht den Superstar" oder "Germany’s next Top Model" wird den Kandidatinnen suggeriert und angeboten, mehrere Stufen der gesellschaftlichen Sprossenleiter zu überspringen und im Schweinsgalopp ökonomisches Kapital und soziale Anerkennung zu erwerben. Hinzu kommt heute ein Faktor, der zu Pierre Bourdieus Lebzeiten eher rudimentär vertreten war: der Lifestyle. Fluggesellschaften werben nicht mehr mit Service oder Sitzkomfort, sondern beispielsweise mit dem Slogan "Mal eben zum Schuhe kaufen nach Mailand". Durch das Sammeln von Bonusmeilen ist es dem Durchschnittskonsumenten durchaus möglich, sich einen interkontinentalen Gratisflug erster Klasse zu erwirtschaften. Mallorca oder Karibik ist keine Frage des Geldbeutels mehr und für fast alle Ferienregionen der Erde gehören mittlerweile All-inclusive-Angebote zum Standard. An den Bars und Büffets der dortigen Hotels finden sich nicht nur Nahrungsmittel und Getränke, die früher unerschwinglich waren. Sondern auch der Topmanager neben dem Malocher.
    Dass der Habitus etwas verwehrt, ist gegenwärtig eine zumindest fragwürdige Behauptung. Darauf hat bereits 1986 der Soziologe Ulrich Beck in seiner Arbeit "Die Risikogesellschaft" hingewiesen. Seine Individualisierungsthese formuliert, dass nicht mehr die Klassenzugehörigkeit über den beruflichen und kulturellen Werdegang entscheidet. Die traditionellen Einschließungen und Zuordnungen seien längst verschwunden, beziehungsweise würden wie ein Stein in einer sich bewegenden Schlammlawine beständig ihre Positionen wechseln. Flexibilität, individuelle Entscheidungen und Risikobereitschaft seien gefordert. Heute ist dieser Befund aktueller denn je. Für den neoliberalen Kapitalismus sind Akteure nutzlos, die nicht bereit sind, stante pede von Berlin nach Lissabon umzuziehen oder zwischen diesen beiden Standorten zu pendeln.
    Philosoph Konrad Paul Liessmann: Keine einheitlichen Milieus mehr
    Lebensstile ergeben sich nicht mehr aus der objektiven Lage im sozialen Gefüge. Stattdessen stehen Milieus gleichgültig und unbestimmt nebeneinander. Der Wiener Philosoph Konrad Paul Liessmann spricht hier von einer "Multioptionsgesellschaft". In ihr sind lange Bindungen an Lebenspartner, Wohngegenden oder politische Optionen nicht mehr vorhanden. Es gibt, so Liessmann, keine einheitlichen Milieus mehr und somit auch keine Einheit der Interessenlagen. Jugendlichen in der Ausbildung wird empfohlen, sich mit der Tatsache anzufreunden, dass sie in ihrem Leben mit einem Beruf nicht auskommen werden. Das ist auch möglich geworden, da es heute wesentlich einfacher ist, die Milieus zu wechseln. Spektakulär ist das nicht, es ist das Erfordernis eines wirtschaftlichen Systems, dass auf die optimale und vollständige Verwertbarkeit aller Ressourcen ausgerichtet ist.
    Es stellt sich auch die Frage, ob sich heute der Erwerb kulturellen Kapitals überhaupt noch lohnt. Durch den sogenannten Bologna-Prozess, der nichts anderes ist als die Anpassung des akademischen Betriebs an die Beschleunigung der Kapitalströme und der damit verbundenen Arbeitsmarktsituation, entsteht ein bemerkenswertes Resultat. Der Trend in der Arbeitswelt geht zur Hyperspezialisierung, Schätzungen zufolge existieren in Deutschland über 18.000 Studiengänge. Was heute die sichersten Aussichten auf einen lukrativen Job verspricht, kann bei Studierenden ein veritabler Flop sein. Universitäre Abschlüsse haben inflationäre Ausmaße angenommen, das Damoklesschwert "Arbeitswelt 4.0" schwebt über jedem Studienanfänger, dessen Mittelstandsarbeitsplatz bereits überflüssig geworden sein könnte, bevor er die Universität verlässt.
    Die Chancen des Abstiegs sind vielfältiger geworden. Nicht nur das, der gesamte soziale Marschbefehl hat sich verändert. Ging es vor einigen Jahrzehnten noch darum, die oberen Stockwerke zu erreichen - Ulrich Beck nannte das den Fahrstuhleffekt der Gesellschaft - wird ein Großteil der Energie heute dafür verwendet, nicht abzuschmieren auf der sozialen Rutschbahn. Ende der 1970er-Jahre war es nach verlässlichen Statistiken noch über 60 Prozent der Menschen möglich, aus einfachen Verhältnissen emporzukommen. Im Turbokapitalismus weht ein anderer Wind. Für viele Menschen ist es ein manifestes Gefühl, immer wieder von vorne anfangen zu müssen, trotz hoher Beschleunigung nicht von der Stelle zu kommen und ständig in Angst zu leben, dass sich plötzlich alles verändert. Bleibt man bei Pierre Bourdieus Modell des sozialen Raumes, so sind enorme Sprünge innerhalb dieses Raumes heute vor allem in Richtung Parterre möglich. Die Abstürze sind wesentlich verheerender als zu Zeiten der sozialen Marktwirtschaft mit ihrem sozialen Netz. Das betrifft längst nicht mehr nur die schlecht oder gar nicht ausgebildeten Arbeitnehmer.
    Schreckensetikett "Prekariat" betrifft auch die Mitte der Gesellschaft
    Das Schreckensetikett "Prekariat" droht dem per Zeitvertrag verpflichteten Universitätslehrer ebenso wie dem Architekten, der keine Aufträge mehr bekommt, weil die Kommunen Pleite gehen. Besonders bedrohlich stellt sich mittlerweile die Situation im Medienbereich dar. Private Sendeanstalten vergeben nur noch projektbezogene Honorarverträge. Scheitern Serie oder Spielshow, stehen auch Regisseure und Kameraleute auf der Straße.
    In seiner 2016 erschienenen Studie "Die Abstiegsgesellschaft" bezieht sich der Soziologe Oliver Nachtwey stellenweise auf Pierre Bourdieus Konzept der unterschiedlichen Kapitalformen, des Habitus und der feinen Unterschiede. Doch er erweitert es auch. Was die sozialen und ökonomischen Vertikalbewegungen heutzutage anbelangt, benutzt er eine erhellende Metapher, die der Rolltreppe:
    "Denn Auf- und Abstiege haben eine kollektive und eine individuelle Dimension. In (Ulrich) Becks Fahrstuhl fahren alle gemeinsam nach oben, auf der Rolltreppe hingegen können sich auch die Abstände zwischen den einzelnen Individuen verändern, wenn sie auf der fahrenden Rolltreppe nach unten oder oben steigen." (Zitat)
    Als Pierre Bourdieu 2002 starb, gab es zwar schon das Internet. Soziale Netzwerke wie Instagram, Twitter oder Facebook waren jedoch noch nicht oder nicht in der heutigen Verbreitung vorhanden. In der hochvernetzten Gesellschaft der Hypermoderne ergibt sich ein neues Szenario. Die soziale Rolle wird ersetzt und ergänzt durch die Selbstdarstellung in den sozialen Medien. Das Außenbild des Akteurs ist fast noch wichtiger als der Status selbst. Ging es Bourdieu um das tatsächliche Erreichen eines bestimmten Niveaus, geht es dort nur um die Suggestion, den Schein: Essen, Kleidung, Urlaubsorte fotografieren und ins Netz stellen. Kulturelles Kapital kann mittlerweile durch Vortäuschung erworben werden. Der Verdacht liegt nahe, dass Geschmack als signifikantes Merkmal in Zeiten des Internets und als Ausdruck der Verortung in einer bestimmten Klasse an Bedeutung verliert.
    Doch das Internet ist auch dazu geeignet, Pierre Bourdieus Vorschlag der verschiedenen Kapitalsorten zu erweitern - um den Faktor des Protestkapitals. So harmlos Aktionen wie Occupy Wall Street auch waren, sie wären ohne die massenhafte Mobilisierung durch Blogs und Netzwerke nicht entstanden. Die Digitalisierung birgt neben einer Menge Müll und überflüssiger Kommunikation wie Information ein enormes und nie gekanntes Potenzial. In diesem Protestkapital finden sich jetzt schon die unterschiedlichsten Akteure.
    Die Plattform MEZIS - die Abkürzung steht für "Mein Essen zahl ich selbst" - ist eine Initiative unbestechlicher Ärzte, die es sich zum Ziel gemacht hat, den versuchten Einfluss der Pharmaindustrie auf Mediziner aufzuzeigen und dem entgegenzutreten. In dem Blog Me too dokumentieren Schauspielerinnen und Schauspieler sexuelle Übergriffe durch Hierarchen, Regisseure und Produzenten. Zahlreiche Mikroinitiativen wie Tauschbörsen oder Alternativwährungen vernetzen sich, Konsumentengruppen organisieren Protestaktionen gegen genetisch manipulierte Lebensmittel.
    Bourdieu: Kritiker der negativen Auswirkungen der Globalisierung
    Neben seiner Tätigkeit als Universitätsprofessor war Pierre Bourdieu ein politisch engagierter Mensch. Er beteiligte sich an linken Protestaktionen, organisierte sie nicht selten selbst und schrieb als scharfer Kritiker der negativen Auswirkungen der Globalisierung und des Neoliberalismus. Letzterer habe unvergleichbare Formen sozialen Elends hervorgerufen, die orchestriert würden von einem medialen Imperialismus, der die Zukurzgekommenen mit einer Dauerberieselung aus den Scheinwelten des Glamours und Konsums in Schach halte.
    Dass diese Erkenntnis nicht gerade der letzte Schrei der Kapitalismuskritik war, war Pierre Bourdieu durchaus bewusst. Schließlich hatte bereits die Kritische Theorie Max Horkheimers und Theodor W. Adornos von einer Kulturindustrie gesprochen, die die Welt zu einem ewigen Karnevalsfest erkläre. Pierre Bourdieu war jedoch einer der ersten Gesellschaftswissenschaftler, der die verheerende Rolle der europäischen Sozialdemokraten und Sozialisten beim Sieg des Neoliberalismus anprangerte und analysierte. In seinen letzten Lebensjahren argumentierte er in einer Reihe von Vorträgen und politischen Schriften gegen die politischen Initiatoren dieses Wandels: Lionel Jospin in Frankreich, Tony Blair in Großbritannien und Gerhard Schröder in Deutschland.
    Die Sozialdemokratie Ende des 20.Jahrhunderts, so Pierre Bourdieu, habe ihre zeitweilige Übermacht und Vorherrschaft in Europa nicht dazu genutzt, eine wirkliche Alternative zu Kapitalismus und autoritärem Kommunismus aufzubauen. Vielmehr habe sie - und das gelte besonders für die Agenda 2010 der Schröder/Fischer Administration - einen sozialen Kahlschlag inszeniert, den selbst die marktförmigsten konservativen Politiker nicht intendiert hätten. Der Marsch der Gewerkschaften in die Bedeutungslosigkeit, der Fatalismus der Lohnabhängigen, der Absturz in die Armut sei das Werk derjenigen Parteien, die seit über 100 Jahren auf der Seite der Schwachen stünden.
    "Nichts ist weniger unschuldig, als den Dingen ihren Lauf zu lassen", sagte Pierre Bourdieu einmal. Ein Architekt kommender Veränderungen war er nicht. Auf seiner Suche nach Gesetzen und Bewegungsabläufen innerhalb moderner Gesellschaften aber war Pierre Bourdieu brillant. Es wäre falsch, seine Theorie in die Mottenkiste der Ideengeschichte zu verfrachten. Denn sie lässt sich durchaus auch zur Beschreibung heutiger Verhältnisse heranziehen, so rasant diese sich auch geändert haben und auch noch ändern werden.

    Produktion:
    Mit Janina Sachau, Robert Dölle und Volker Niederfahrenhorst
    Technik: Hanna Steger
    Regie: Anna Panknin
    Redaktion: Barbara Schäfer