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Das deutsche Diktat

Gekürzte Renten, schrumpfende Einkommen und steigende Arbeitslosenzahlen: Die Portugiesen leiden unter der europäischen Sparpolitik. Immer häufiger ist vom deutschen Diktat, fehlender Solidarität und historischen Vorhaltungen zu hören.

Von Tilo Wagner | 14.05.2013
    Auf einer internationalen Konferenz in Estoril diskutieren Experten über den Zustand der Weltwirtschaft. Plötzlich steht im Publikum eine ältere Portugiesin auf und fragte die deutsche Investmentbankerin auf dem Podium, warum sich Deutschland in der Krise so unsolidarisch verhalten würde. Erinnern sich die Deutschen nicht an ihre Vergangenheit, fragt die Frau und erwähnt den Schuldenerlass nach dem Zweiten Weltkrieg.

    Verweise auf die deutsche Geschichte beschäftigen dieser Tage die portugiesische Öffentlichkeit immer wieder. Gerade erst schrieb einer der bekanntesten portugiesischen Soziologen in einer Tageszeitung über "O diktat alemão". Das deutsche "Diktat" in der europäischen Schuldenkrise erinnere ihn an die Sprache und Argumentationslinie, mit der das Deutsche Kaiserreich zu Beginn des Ersten Weltkriegs Belgien zur Neutralität zwingen wollte. Ein hartes Urteil.

    Dabei hat Deutschland in Portugal eigentlich eine Vorbildfunktion. Deutsche Produkte, der deutsche Rechtsstaat und die deutsche Kultur werden hochgeschätzt. Gewürdigt wird auch die Unterstützung Deutschlands beim Aufbau der portugiesischen Demokratie. Der Leiter des Goethe-Instituts in Lissabon, Joachim Bernauer, kennt das Land seit fast drei Jahrzehnten. Die neuen deutschlandkritischen Töne in der portugiesischen Öffentlichkeit machen ihm Sorgen:

    "Ich finde es so erstaunlich, dass man jetzt Artikel liest, wo mit dem Brustton der Überzeugung dieser Vergleich Nazi-Deutschland und Merkel-Regierung gemacht wird. Und das finde ich erschreckend, aber man muss es ja einfach mal festhalten, dass das im Moment möglich ist und auch von intelligenten und von uns, im Prinzip, geschätzten Journalisten oder Partnern gesagt wird."

    Die schiefen historischen Vergleiche in Portugal werden mit der Forderung nach einem Ende der europaweiten Sparpolitik verknüpft. Für Reinhard Naumann, der seit den 1990er-Jahren das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Lissabon leitet, ist die deutschlandkritische Stimmung auch ein Reflex auf die neue Machtposition Deutschlands in Europa:

    "Deutschland ist kein Weltpolizist, aber, sagen wir mal, es ist der Geldpolizist innerhalb des Euroraums. Insofern wird es deshalb dementsprechend sehr kritisch gesehen, was Deutschland macht, weil das, was die Kanzlerin zulässt oder nicht zulässt, oder was die Kanzlerin durchsetzt oder nicht durchsetzt, das hat für die Portugiesen in ihren Lebensverhältnissen unmittelbar Folgen."

    In der Kritik an Deutschland spiegelt sich ein hoher Grad von Verzweiflung und Unmut über die eigene konservative Regierung wider, die sich sehr eng an den Kurs von Angela Merkel und Wolfgang Schäuble gebunden hat. Ein großer Teil der Portugiesen zweifelt an Sinn und Zweck von Strukturreformen und Sparhaushalten, da sich die Wirtschaftskrise immer weiter verschärft, das Einkommen der Bürger massiv schrumpft und die Arbeitslosigkeit Rekordwerte erreicht. Reinhard Naumann betont deshalb, dass die historischen Vorhaltungen und NS-Vergleiche in der portugiesischen Presse im aktuellen Zusammenhang zu lesen sind:

    "Aber ich denke mir, es ist nicht gefährlich hier in Portugal, weil die Portugiesen ja wirklich nie direkt von den Nazis bedroht und misshandelt wurden. Das ist ja was ganz anderes, als in Griechenland. Also ich würde sagen, in Griechenland ist die Sache wirklich prekär, gefährlich, weil die ja auch eine konkrete historische Erfahrung haben, und eine Rechnung offen haben, in gewisser Weise. Während die Portugiesen das nicht sagen können. Von daher glaube ich eigentlich auch nicht, dass das wirklich ein Ressentiment darstellt, ein tief verwurzeltes Ressentiment."

    Trotz des momentan negativen Bildes in der portugiesischen Öffentlichkeit: Die Attraktivität Deutschlands als Einwanderungsland hat nicht gelitten. Im Gegenteil: Das Interesse der Portugiesen an Deutschland ist sogar gestiegen. Die Sprachkurse des Goethe-Instituts sind bis auf den letzten Platz gefüllt, und Tausende arbeitssuchende Portugiesen verlassen ihre Heimat auf dem Weg in den Norden.

    Das widersprüchliche Deutschlandbild in Portugal ist bisher nicht in Diskussionsrunden oder Kulturprojekten erörtert worden. Das mag auch daran liegen, dass Institutionen wie das Goethe-Institut im vergangenen Jahrzehnt die Mittel für die europäischen Zweigstellen stark gekürzt haben. Vielleicht war das ein Fehler. Der Leiter des Lissabonner Instituts erinnert daran:

    "Dass Freundschaften nicht gratis zu haben sind, sondern man sich weiterhin um die guten Beziehungen, die kulturellen wie auch die anderen, die politischen, bemühen muss."

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