Freitag, 19. April 2024

Archiv


"Das deutsche Modell ist zu starr"

Das System der starken Volksparteien ist vorbei - in den neuen Bundestag werden voraussichtlich fünf Parteien einziehen. Der polnische Publizist Adam Krzeminski hält das für unproblematisch. Eine größere Parteienlandschaft bedeute auch mehr Flexibilität.

Adam Krzeminski und Stephan Detjen im Gespräch mit Bettina Klein | 21.09.2009
    Bettina Klein: Wir schreiben Montag, den 21. September 2009, und das ist der Montag am Beginn jener Woche, an deren Ende Wahltag ist in Deutschland: Bundestagswahlen sowie Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und Brandenburg. Wir wollen in dieser Woche täglich hier an dieser Stelle in den "Informationen am Morgen" im Deutschlandfunk wichtige Themen des Wahlkampfs aufgreifen. Deutschlandfunk-Redakteure im Gespräch mit Kollegen anderer Medien und mit Beobachtern aus dem Ausland. Wir wollen Positionen verdeutlichen und sie aber auch hinterfragen. Ein Diskurs hier im Deutschlandfunk kurz nach acht. Heute bei mir im Studio der Chefredakteur des Deutschlandfunks Stephan Detjen. Ich grüße Sie.

    Stephan Detjen: Guten Morgen, Frau Klein.

    Klein: Und zugeschaltet aus Warschau Adam Krzeminski, Redakteur der Zeitung "Polityka". Herzlich willkommen auch Ihnen.

    Adam Krzeminski: Guten Tag!

    Klein: Heute soll es gehen um die Veränderungen in der Parteienlandschaft im Augenblick in Deutschland und um die Frage, was dies wiederum für Politik und die bevorstehenden Wahlen bedeutet. Wir wollen in dieser Gesprächsreihe auch noch mal zur Diskussion stellen, wie wir selbst hier im Deutschlandfunk die Auseinandersetzungen der vergangenen Wochen und Monate beobachtet und kommentiert haben. Stephan Detjen, Sie haben unlängst gesagt, wir erkennen jetzt den Preis für die Zersplitterung der Parteienlandschaft und für die Krise der Volksparteien. Weshalb, woran machen Sie das fest?

    Detjen: Ich glaube, man muss sich einfach noch mal vor Augen führen, dass sich dieses Land seit Anfang der 60er-Jahre sowohl nach innen, aber auch in der Wahrnehmung im Ausland immer vor allem durch diese enorme Stabilität unseres Parteiensystems ausgezeichnet hat. Das ist vorbei! Die alte Bonner Republik, das ist Geschichte geworden. Wir sehen das ganz deutlich. Auch Gerhard Schröders Proklamation einer Neuen Mitte hat sich als Fiktion erwiesen. Das wissen wir alles, aber ich glaube, es wird erst jetzt wirklich deutlich, was das konkret bedeutet. Das politische System wird instabil. Wenn wir auf den 27. September vorausschauen: Wahlen verändern ihre Bedeutung. In der neuen Vielfalt unseres Parteiensystems wählen wir keine Regierung mehr, sondern die Wähler stellen politische Konstellationen her, in denen dann die Parteien wiederum vor die Wahl gestellt werden, in welchen Regierungskonstellationen sie sich zusammenfinden wollen. Wir haben das im Deutschlandfunk in den letzten Wochen immer wieder diskutiert bis etwa zu dem Punkt, an dem der frühere Verfassungsrechtler Paul Kirchhof hier im Programm eine Änderung des Wahlsystems gefordert hat.

    Klein: Adam Krzeminski, die Stabilität des bundesdeutschen Parteiensystems galt immer auch als ein Garant für die Berechenbarkeit und die Zuverlässigkeit des deutschen Nachbarn in der Nachkriegsgeschichte. Beobachtet Polen die Entwicklung hierzulande auch mit einer gewissen Sorge?

    Krzeminski: Zuerst muss man sagen, dass dieses deutsche Modell nach 1989 für uns ein Modell war. Ich erinnere mich gut an die Zeiten, als man sich eine polnische CDU träumte oder eine polnische SPD - das war schwieriger wegen der postkommunistischen Behäbigkeit der neuen Partei, der SLD. Aber zugleich sagte man, das deutsche Modell ist zu starr. Sie sagen, Stabilität oder instabil jetzt sollte das deutsche Modell werden. Es ist auch flexibel, das kann auch ein Vorteil sein. Und ich muss aus der polnischen Perspektive sagen, das was man so beanstandet hat an der polnischen Entwicklung nach 1989, dass wir diese italienischen Zustände haben, viele Regierungen, schwache Parteien, das ist auch ein Modell der Demokratie, mit dem man leben kann. Ich wünsche das Deutschland nicht, dass anstatt fünf Parteien 15 entstehen, um Gottes Willen kein Weimar wieder, aber die Angst, die während der Gründung der Bundesrepublik 1949 und dann in den 50er-Jahren da war, dass um Gottes Willen kein allzu großes Spektrum der Parteien entstehen sollte, und dann eben diese zwei großen Volksparteien für die Stabilität sorgen sollten, das hat auch die parlamentarische Demokratie gestärkt. Aber ich weiß nicht, ob das tatsächlich die demokratische Gesinnung von unten so sehr gestärkt hat.

    Detjen: Adam Krzeminski, lassen Sie mich an der Stelle einhaken. Natürlich kann man sagen, Deutschland kommt in dieser Entwicklung in einer europäischen Normalität an, in der Polen schon lange lebt, die wir auch in anderen europäischen Nachbarländern beobachten können.

    Krzeminski: Schon lange!

    Detjen: In allen osteuropäischen Transformationsländern haben wir Phänomene postkommunistischer Parteien, wie wir sie hier jetzt mit den Linken haben. Aber das, was uns in Deutschland besorgt bei dem, was wir als Zersplitterung des Parteiensystems erleben, ist, dass wir ja darauf warten müssen, wann sich das auch am rechten Rand jenseits der CSU in einem Entstehen nationalkonservativer rechtspopulistischer Strömungen manifestiert, die wir bisher unter dem Druck, immer noch starken Druck unserer Geschichte verhindert haben und die Union in den nächsten Jahren in eine ähnliche Drucksituation gerät, wie sie die SPD jetzt von links ist.

    Krzeminski: Bis jetzt hat das doch so funktioniert, dass die Rechten oder extremen Rechten nie in den Bundestag Einzug fanden. Es gab Versuche, andere Parteien zu gründen als die NPD oder die DVU, aber es waren immer doch Eintagsfliegen. Die NPD in Sachsen, das ist eine Ausnahme. Zum ersten Mal ist diese Partei längere Zeit, zwei Amtsperioden im Landtag. Trotzdem glaube ich, man kann zwei verschiedene Strategien im Umgang mit diesen extremen Parteien laufen. Die eine Strategie ist – das ist die deutsche, verständlich nach der Erfahrung der Weimarer Republik - die extremistischen Parteien sind nicht koalitionsfähig und der Wähler müsste Einsicht bekommen, dass er sie abwählen sollte. Die andere Methode ist, sie absorbieren und auf diese Weise politisch ohnmächtig zu machen.

    Klein: Adam Krzeminski, um da noch mal nachzufragen. Da verstehe ich Sie aber schon richtig, Sie sind schon durchaus beruhigt, dass wir eine solche eher rechts gerichtete Partei im Spektrum fest etabliert nicht haben?

    Krzeminski: Ich verstand den Spruch von Franz-Josef Strauß, rechts von mir nur die Wand. Das heißt, ich muss als eine demokratische konservative Partei mich so nach rechts öffnen, dass ich die extremen, nicht extremistischen, sondern extremen Positionen auch absorbiere und dadurch auch entkräfte. Allerdings die Meinungsumfragen zeigen, dass die Tendenz, eine rechte Tendenz doch unter der Wählerschaft oder in der deutschen Bevölkerung präsent ist.

    Detjen: Herr Krzeminski, ich glaube bloß, dass wir uns in dieser Wahrnehmung zu sehr auf die klassischen rechtsextremistischen Parteien konzentrieren.

    Krzeminski: Absolut, da haben Sie Recht.

    Detjen: Die Phänomene, die in Deutschland in absehbarer Zeit kommen werden, werden neue Phänomene, sagen wir national- oder rechtspopulistischer Parteien oder Figuren sein, die wir ja in Ansätzen schon sehen. Und wenn wir in den Bundestagswahlkampf schauen, dann muss man sich ja als eines der bemerkenswertesten Phänomene der letzten Wochen und Monate diesen atemberaubenden Aufstieg des Karl-Theodor zu Guttenberg anschauen, der ja komischerweise als ein Antitypus des Politikers gefeiert und wahrgenommen wird, obwohl er natürlich selber noch ganz der klassische Parteipolitiker ist. Was man da gesehen hat, diesen unglaublichen Aufstieg eines neuartig scheinenden, glänzenden Politikers, der ganz anders wirkt als das Personal der etablierten Parteien, das ist ja auch das Entstehen eines Rollenmusters, das aber natürlich auch von ganz anderen politischen Typen aktiviert und besetzt werden kann.

    Krzeminski: Da haben Sie absolut Recht. Das ist ein Phänomen in allen europäischen Ländern. Wir haben auch in den traditionellen Parteien diesen populistischen Zug jetzt, auf der linken wiederum auch eine extrem populistische Position von Oskar Lafontaine. Das ist eine enorme Herausforderung, vielleicht nicht für die Innenpolitik der jeweiligen Länder, aber für die Europapolitik. Das sehen wir in Polen, wo mit der Partei der Brüder Kaczynski ein völlig neuer Ton in die Innenpolitik gekommen ist. Die Außenpolitik, die Europapolitik, die Verantwortung, die europäische Gesinnung tritt jetzt in den Hintergrund; die Politiker versuchen aufzutrumpfen mit Versprechungen und mit nationalistischen oder nationalen Argumenten, weil sie glauben, das ist der beste Fang für die Wähler.

    Klein: Ich würde gerne mal nach den Schlussfolgerungen fragen. Müssen wir zum Beispiel hier in Deutschland in Zukunft damit leben und uns damit abfinden, dass meine Stimmabgabe nur noch sehr wenig darüber aussagt, von welcher Regierung ich am Ende regiert werde, Stephan Detjen?

    Detjen: Ich glaube, das ist der Preis, den wir für das Verhältniswahlrecht zahlen. Ich habe gesagt, Paul Kirchhof hat hier mit Blick auf dieses Problem eine Änderung des Wahlrechts angeregt. Solche Diskussionen hat es in der Bundesrepublik auch in der letzten Großen Koalition in den 60er-Jahren immer wieder gegeben. Ich glaube nicht, dass das Aussicht auf eine Umsetzung hat, aber ein anderes Problem – und das hat auch etwas mit dem Auftreten neuer Parteien zu tun – muss nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu Änderungen im Wahlrecht führen. Das betrifft die Überhangmandate und auch da muss man sehen - das ist ein neues Phänomen -, werden wir am kommenden Sonntag möglicherweise zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik vor der Situation stehen, dass die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag alleine durch Überhangmandate entschieden werden.

    Klein: Herr Krzeminski, etwas, was Sie aus Polen auch kennen?

    Krzeminski: Nein, nicht in diesem Ausmaß. Das, womit wir zu kämpfen haben, das ist eine starke Provinzionalisierung der Parteienwirtschaft. Das heißt, die Parteien vertreten eigentlich weniger das ganze Land als eigene Interessen und die Interessen der eigenen Wähler. Dadurch entsteht eine Situation, dass wir keine profilierten Außenpolitiker in den politischen Parteien haben. Ich befürchte übrigens, dass das auch demnächst in diesen neuen deutschen Parteien zum Vorschein kommt. Wenn ich mich fragen sollte, wer vertritt bei den Linken die Ostpolitik, dann wäre ich völlig überfragt, weil das keine Themen für die Linke ist, keine Themen zunehmend auch für die junge Generation der jungen Christdemokraten beziehungsweise der Sozialdemokraten. Außenpolitik, Europapolitik ist ins Hintertreffen geraten.

    Detjen: Herr Krzeminski, das gilt ja nicht nur für die Randparteien, für die Linken; dieses Phänomen haben wir längst in den großen Volksparteien auch.

    Krzeminski: Ja, das sagte ich doch!

    Detjen: Man muss sich noch mal daran erinnern: In dem großen Fernsehduell der Kanzlerin mit dem Kanzlerkandidaten hat Europa keine Rolle gespielt in einer Situation, wo wir gerade den Lissabonvertrag ratifizieren.

    Krzeminski: So ist es. – Es ist bedenklich. Wir sind mitten drin in einem Generationswechsel. Das heißt, die Kriegsgeneration, die heute 80 Jahre alt ist, und sie hat ihre Botschaft, ihre Gesinnung noch. Das sind die letzten Jahre, wo wir tatsächlich von den Menschen hören können, was ist nach dem Krieg erreicht worden, welche Lehren gezogen wurden. Dann kam die Nachkriegsgeneration; die wusste auch sehr genau, welches Erbe sie in die Hände bekam. Und es ist schwierig heute, 60 Jahre danach, tatsächlich dieses Wunder, das europäische Wunder einer völlig neuen europäischen Konstellation auch entlang dieser deutsch-polnischen Schnittstelle den jungen Leuten zu vermitteln. Da ist eine Gefahr der Gleichgültigkeit, der Ahnungslosigkeit auf beiden Seiten.

    Klein: Die Wahrnehmung und Einschätzung unseres polnischen Kollegen Adam Krzeminski, der uns live aus Warschau zugeschaltet war. Ich bedanke mich sehr herzlich und vielen Dank auch an Stephan Detjen, Chefredakteur des Deutschlandfunks.

    Detjen: Danke!

    Krzeminski: Vielen Dank!