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Das Dilemma der zweiten Einwanderergeneration

Auch Mengestus zweiter Roman spielt im Emigrantenmilieu. Sein Protagonist kommt als äthiopischer Flüchtling in die USA. Das typischen Flüchtlingsschicksal wird in diesem Roman etwas anders dargestellt als gewohnt.

Von Imogen Reisner | 19.05.2011
    Wie es sich anfühlt, dort, wo man lebt, nicht willkommen zu sein, sich nicht zuhause zu fühlen, ist dieser Tage ein topaktuelles Thema. Eine vielschichtige Auseinandersetzung damit bietet Die Melodie der Luft , der zweite Roman von Dinaw Mengestu. Der Autor, 32 Jahre jung, ist selbst ein Paradebeispiel für ein modernes Emigrantenschicksal: in Äthiopien geboren, aufgewachsen in den USA, lebt er jetzt mit Frau und Kind in Paris. So ist es nicht verwunderlich, dass Mengestu auch in seinem zweiten Roman wieder Probleme schwarzafrikanischer Immigranten und deren schicksalhafte Suche nach der eigenen Identität verarbeitet. Doch Die Melodie der Luft hat einen gänzlich anderen Klang als die mit leichter Hand geschriebene, melancholisch-witzige Einwanderergeschichte seines Erstlings Zum Wiedersehen der Sterne.

    Jonas, Mengestus Protagonist und Erzähler, ist, wie sein Autor, das Kind äthiopischer Flüchtlinge, die als Asylbewerber in die Vereinigten Staaten kamen. Er arbeitet für eine private Hilfsorganisation, in der er es ebenfalls mit Einwanderern zu tun hat. Ihre Schicksale, ihre Misere kennt Jonas aus eigener Erfahrung nur allzugut. Und so ist er für die besondere Aufgabe seines Jobs regelrecht prädestiniert: Jonas schreibt die Lebensgeschichten seiner Schützlinge um, er fiktionalisiert ihre Biografien, auf dass sie klangvoller werden und für den Asylantrag mehr Gewicht bekommen.

    Diese Leute mit ihren kriegsmüden Gesichtern schienen verzweifelt darauf aus zu sein, nirgends anzuecken .

    Das Gefühl, erneut darum bitten zu müssen, dass man ihnen ein Recht einräumte, das all die anderen, denen sie auf der Straße, in der U-Bahn oder im Straßenverkehr begegneten, als selbstverständlich erachteten, verfolgte sie bei allem, was sie taten.


    Später, als junger Sprachlehrer, beginnt Jonas, seinen Schülern im Unterricht die Lebensgeschichte seines Vaters zu erzählen. Wahrheitsgemäß beginnt er damit, dass sich der Vater mit Anfang dreißig aus seinem nordäthiopischen Dorf in eine Hafenstadt im Sudan aufmacht, um von dort nach Amerika auszuwandern. Doch die lebensgeschichtlichen Fragmente, die sein Vater hinterlassen hat, empfindet Jonas als zu frustrierend, um sie zu akzeptieren. Und so gehen schließlich die eingefleischte Routine seiner früheren Arbeit und sein eigener Hang, sich die Wirklichkeit schönzureden mit ihm durch. Am Ende schillert das von Trostlosigkeit und Härte gezeichnete Leben seines Vaters in den prächtigsten Farben. Nur leider haben sie gar nichts mit den traurigen Tönen der Wirklichkeit gemein.

    Auch Jonas' Alltag ist eher von Tristesse geprägt. Seine Ehe beginnt zu zerbrechen, denn Jonas schafft es mit erstaunlicher Fantasie, seiner Frau Angela und den gemeinsamen Problemen ihrer Partnerschaft immer wieder aus dem Weg zu gehen. So wendet sie sich enttäuscht von ihrem Mann ab, den sie einstmals als charmanten Träumer und begabten Geschichtenerfinder geliebt hat. Und der sich, genau wie sie, im Grunde nichts sehnlicher wünscht als eine heile Familie.
    Um seine Ehe zu retten und seinen eigenen Wurzeln auf den Grund zu gehen, tritt Jonas eine Reise in die Vergangenheit an. Er folgt den Spuren seiner Eltern, die vor über dreißig Jahren von Illinois nach Tennessee zu einer Hochzeitsreise aufbrachen, die in einer Katastrophe endete. Er versucht herauszufinden, warum seine Eltern damals ihre Heimat verließen, wonach sie sich sehnten, was sie dachten und fühlten und warum sie sich nicht liebten. Auf diesem Weg erhofft sich Jonas auch Antworten auf die Frage, wer er selber ist und - vor allem - was in seinem Leben Wahrheit von Lüge unterscheidet.

    Eigentlich hatte ich viele Erinnerungen an früher, aber ich wusste nicht, ob sie real waren. Zum Beispiel, dass ich mir in der Bücherei lexikondicke Anthologien mit Gedichten und Kurzgeschichten auslieh und dass ich nachts oft vor dem kleinen Fernseher neben meinem Bett einschlief.
    Aber diese Bilder fielen wie so viele andere in einen allgemeinen und schemenhaften Bereich und hatten kaum etwas mit mir zu tun.


    In assoziativ verwobenen Erzählsträngen verschränkt Mengestu zwei gescheiterte Beziehungen miteinander: die missglückte Ehe der Eltern seines Helden und dessen eigene unerfüllte Liebe. Im Wechsel zwischen der imaginierten Vergangenheit der Eltern und der reflektierten Gegenwart seines Protagonisten folgt der Autor den Bewegungen seiner Figuren wie in einem Roadmovie. Ihre Reise wird zur Metapher für die Suche nach Anerkennung und Identität.

    Für seine berührende Geschichte über die Auswirkungen von Flucht und Vertreibung und den Verlust von Heimat und Zugehörigkeit findet Dinaw Mengestu viele starke Bilder, die im Herzen der Leser noch lange nachhallen werden. Bilder von Entwurzelung und familiärer Gewalt, von Einsamkeit und Verlustängsten. Aber es gibt auch stille poetische Sequenzen. Die unauslöschliche Sehnsucht nach einer eigenen Geschichte, derer man sich nicht schämen muss, spielt dabei eine tragende Rolle.

    Streckenweise häuft Mengestu zu viel Stoff auf, streut zu viele Assoziationen ein, zerfasert sich. Das heißt, die Tendenz seines Erzählers zu arabesken Ausschweifungen ist auch dem Autor nicht ganz fremd. So fehlt dem Roman Die Melodie der Luft - zumindest im ersten Teil - die wunderbar leichtfüßige Stringenz, die Mengestus Erstling ZumWiedersehen der Sterne so bemerkenswert machte. Dennoch ist auch der zweite Roman des jungen äthiopischstämmigen Autors ein unbedingt lesenswertes Buch, das zwischen Komik und Tragik in vielen Farben und Facetten changiert.

    Dinaw Mengestu, Die Melodie der Luft. Roman. Aus dem Amerikanischen von Volker Oldenburg. Ullstein Verlag, Berlin 2010, 319 Seiten, 19,95 Euro