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Das disziplinlose Gehirn

Können Hirnforscher den menschlichen Geist erklären? Um diese Frage wird schon seit mehreren Jahren heftig gestritten. Vor allem Philosophen pochen darauf, die Grenze zwischen den Natur-und den Kulturwissenschaften nicht vorschnell zu überschreiten. In diese Debatte hat sich nun der in Kanada lehrende deutsche Neurophilosoph Georg Northoff eingemischt.

Von Martin Hubert | 09.08.2012
    Vor allem einen Vorwurf bringen Philosophen immer wieder vor, wenn Hirnforscher sich mit dem menschlichen Geist beschäftigen. Sie würden Experimente über Bewusstsein oder das Ich durchführen, ohne gute Begriffe von dem zu haben, was sie eigentlich untersuchen. Anstatt die Voraussetzungen ihrer Tätigkeit zu klären, setzten sie Hirnaktivitäten einfach mit geistigen Aktivitäten gleich. Damit aber werde der Geist auf Physiologie reduziert. Der in Ottawa lehrende Neurophilosoph Georg Northoff nimmt diese Kritik auf und will den Graben zwischen Neuro- und Kulturwissenschaften überbrücken.

    "Worum ich mich in dem Buch eigentlich bemühe: Ich versuche an dem Boden selbst anzugreifen und ich glaube, diese Grabenkämpfe setzen voraus, dass man einen bestimmten Begriff des Gehirns hat, nämlich das Gehirn als rein physikalisches Organ, als quasi maschinenähnlich. Und ich glaube die letztere Voraussetzung, die maschinenähnliche Auffassung des Gehirns, ist nicht plausibel, wenn man sich die neurowissenschaftlichen Daten anguckt."

    Kann man das Gehirn in einer Weise begreifen, die kritischen philosophischen Ansprüchen genügt? Georg Northoff geht dieser Frage mit viel Humor, vielen Vergleichen und einer unterhaltsamen Story nach, um seine Ideen auch für Laien verständlich zu machen. Er schickt einen von der Hirnforschung begeisterten Studenten per Zeitreise ins alte Königsberg und lässt ihn mit Immanuel Kant höchstpersönlich über Hirnforschung diskutieren. Anschließend versetzt er Kant in eine neurowissenschaftliche Konferenz der Gegenwart, um ihn – und den Leser – ausführlich mit den neuesten Ideen des Faches über Bewusstsein und Ich zu konfrontieren. Kant tritt dabei als sokratischer Gegenspieler der Neurowissenschaftler auf, der ihnen immer wieder klar macht, dass sie viel weniger wissen, als sie glauben. Etwa, wenn sie nach dem Ich als einer Art geistigem Gegenstand suchen, den man sich wie eine Substanz vorstellen kann.

    "Klassisches Beispiel: Descartes "Ich denke, also bin ich". Da ist mein Ich ein mentaler Inhalt. Und dieses wird heutzutage häufig auf das Gehirn übertragen und man sagt, das sind bestimmte Regionen oder bestimmte Netzwerke im Gehirn, die das machen und alle anderen Netzwerke sind nicht Ich. Ich halte das für problematisch."

    Georg Northoff macht mit Hilfe des streitbaren Kant deutlich: Neurowissenschaftler haben zwar Nervennetzwerke und Kooperationsmechanismen im Gehirn gefunden, die aktiv sein müssen, wenn jemand bewusst einen Gegenstand betrachtet oder über sein Ich nachdenkt. Die zentrale philosophische Frage, für die Immanuel Kant exemplarisch steht, haben sie damit aber noch nicht einmal berührt: unter welchen Bedingungen macht jemand überhaupt als ein Ich bewusste Erfahrungen? Georg Northoff will dass ändern, in dem er nach den Grundlagen im Gehirn sucht, die aller bewussten Erfahrung vorausgehen.

    "Es gibt starke Hinweise darauf, dass das Gehirn in der Tat ich sage einmal eine Eigenaktivität besitzt : Das kann auch selber beeinflussen, wie der Stimulus im Gehirn prozessiert wird."

    Der Gedanke, dass das Gehirn in allererster Linie "prozessiert", also ständig arbeitet und verarbeitet, ist Georg Northoffs zentrale Idee. Neuere Forschungen zur sogenannten Ruhezustandsaktivität belegen, dass das Gehirn auch dann hoch aktiv ist, wenn es gar keine bestimmte Aufgabe bearbeiten muss. Das Ausmaß dieser Ruhezustandsaktivität bestimmt dann darüber, wie das Gehirn einen von außen eintreffenden Stimulus verarbeitet. Wird ein Objekt klar oder unklar wahrgenommen, ein Wort deutlich oder undeutlich verstanden, eine Situation angemessen oder unangemessen beurteilt?


    "Wenn zum Beispiel die Ruhezustandsaktivität sehr hoch ist, löst der Stimulus weniger Aktivität im Gehirn aus und dann erleben wir den Stimulus auch nicht so stark und können auch nicht entsprechend reagieren. Umgekehrt, wenn die Ruhezustandsaktivität niedriger ist, löst der Stimulus mehr Aktivität aus, aus dem einfachen Grund weil da einfach mehr Spielraum nach oben ist und dann erleben wir den Stimulus auch stärker. Das heißt, jeder einkommende Stimulus wird in Relation zu dem aktuellen Ruhezustandsniveau prozessiert und löst entsprechende Aktivität aus."

    Diese Ruheaktivität des Gehirns ist für Georg Northoff die Bedingung für bewusste Erfahrung überhaupt. Sie liegt allen möglichen Beziehungen zwischen einem Ich und der Welt zugrunde. Denn zum einen tritt die Ruheaktivität vor allem in Hirnnetzwerken auf, die mit Selbstbezug tun haben. Sie richten den Blick nach innen, zum Beispiel beim Tagträumen. Zum anderen ist die Ruheaktivität immer schon mit der Aktivität verkoppelt, mit der das Gehirn auf Reize der Umwelt und des eigenen Körpers reagiert. Selbst- und Umweltbezug werden also über die Ruheaktivität des Gehirns wie auf einer Wippe immer wieder neu miteinander ausbalanciert. Für Georg Northoff ist daher ins Gehirn eine fundamentale Gehirn-Umwelt-Beziehung eingebaut, die er "Umwelt-Gehirn-Einheit" nennt. Nur weil diese fundamentale Beziehung im Gehirn existiert, könne der Mensch Objekte und Ereignisse bewusst auf sich selbst beziehen. Northoff möchte mit diesem Konzept die uralte Dichotomie, also die Entgegensetzung von Natur und Geist, überwinden.

    "Das, was Geist genannt wird, ist wahrscheinlich in der Beziehung zwischen Gehirn, Körper und Umwelt, das heißt das "Geist- Gehirn-Problem" wird auf die Frage der verschiedenen Formen der Relation zwischen Gehirn, Körper und Umwelt verlagert. Und damit ist die klassische Dichotomie "Geist und Gehirn" unterminiert."

    Ein gewagtes Konzept, von dem Georg Northoff selbst sagt, dass es in manchen Details noch recht spekulativ ist und weiter ausgearbeitet werden muss. Als Idee jedoch, um ein rein physikalisches Bild des Gehirns zu überwinden und eine Brücke zwischen Natur- und Kulturwissenschaften zu schlagen, scheint es äußerst fruchtbar zu sein. Denn indem Georg Northoff die Beziehung zwischen Organismus, Ich und Umwelt ins Zentrum stellt, öffnet er das Gehirn von vornherein auch für kulturelle und soziale Einflüsse. Der ins Gehirn eingebaute Selbstbezug ist dann zum Beispiel immer schon offen für unterschiedliche Kulturen des Ichs: In westlichen Kulturen bildet sich ein autonomes Ich aus, in asiatischen eher eines, das am Wir orientiert ist.

    ""Es gibt zwei Extreme. Das eine Extrem ist das Wir, das andere ist das Ich. Und dazwischen ist das Kontinuum zwischen den beiden. Und der Prozess kann je nach Kontext, je nach Umwelt und nach eigenem Zustand des Gehirns dann entsprechend "entscheiden" - ich sage "entscheiden" metaphorisch betrachtet - wie, zu welchem Grad dort ein Ich-Bezug oder ein Wir-Bezug hergestellt wird. Also ich würde von einem neuronalen Kontinuum zwischen dem Ich und Nicht-Ich, zwischen Ich und Wir spreche."'"

    Ich und Wir, Organismus und Umwelt, Natur und Kultur rücken bei Georg Northoff nahe aneinander, weil er das Gehirn als etwas betrachtet, das disziplinlos oder disziplinübergreifend permanent Verbindungen herstellt. Insofern plädiert er für einen gleichberechtigten Dialog der Neuro- mit den Kultur- und Sozialwissenschaften. Denn nur beide können dieser Vielfalt des Gehirns gerecht werden.

    Literaturhinweis:
    Georg Northoff: Das disziplinlose Gehirn. Was nun, Herr Kant? Auf den Spuren des Bewusstseins mit der Neurophilosophie. 320 Seiten, Euro 22,90, Irisiana Verlag München 2012 .