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Das Doppelgesicht der Wahrheit

Der Briefroman "Das Puppenkabinett des Senyor Bearn" liefert im Maßstab der Satire ein inneres Psychogramm der "beiden Spanien", des rück- und des fortschrittlich gesinnten. Autor Llorenc Villalonga sympathisierte zweifellos mit den Nationalen. Ihn deshalb mit dem Franco-Regime zu identifizieren, wäre aber zu kurz gegriffen.

Von Gabriele Killert | 21.01.2008
    Don Toni ist ein kleiner mallorquinischer Landadeliger, dessen hoch verschuldeter Besitz umgeben von Olivenhainen und bewaldeten Hügeln kaum genug abwirft, um ein beschaulich zurückgezogenes Leben als homme de lettre und gelegentliche kostspielige Reisen nach Paris etwa, in die Hauptstadt des Geistes, finanzieren zu können. Mit im Hause lebt der junge fromme Hauskaplan Don Joan, der seit langem zur Familie gehört. Er verwaltet die spärlichen Einkünfte, liest für die Senyora täglich die Messe und ist für den Senyor der einzige und unentbehrliche Gesprächspartner, mit dem er offen reden kann. Joan hängt wie ein Sohn an Don Toni, der ihn väterlich liebt, was durchaus wörtlich zu nehmen ist. Allerdings machen die libertären Reden seines Herrn dem frommen Joan schwer zu schaffen.

    "Ich war gleichsam im Banne des Senyors. Dona Maria Antonia, so gut sie war, weckte in mir nie eine solche Anteilnahme wie jene Seele, die Gott und der Teufel sich strittig machten, ohne dass man zurzeit wissen könnte..., wer den Kampf gewonnen hat. Auf dieser Furcht gründet sich möglicherweise die Liebe, die ich stets für ihn empfand, und vielleicht ist gerade sie- die Furcht- jenes Gewürz, das laut dem Senyor die Speisen brauchen, um bekömmlich zu sein."

    Don Toni ist ein begeisterter Anhänger der französischen Aufklärung. Sein Hausgott ist - neben Seneca - Voltaire. Ihm zu Ehren läuft er mit einer weißen Perücke herum und der Überzeugung, dass seinesgleichen abgeschafft gehört, was ihn nicht hindert, den Bauern gleiche Rechte abzusprechen.

    " Das Volk ist ungebildet.. und roh. Die Schuld liegt bei den führenden Gesellschaftsschichten, die schon vor geraumer Zeit hinfällig geworden sind. Vor dem endgültigen Triumph der Demokratie wird es nötig sein, eine aufgeklärte Diktatur zu durchlaufen."

    Den Bauern ist Don Toni unheimlich. Nächtelang brennt die Lampe - das Licht der Aufklärung- in der Bibliothek. Sie verdächtigen den Senyor der Freimaurerei und Hexerei. Tatsächlich bastelt er an allerlei technischen Erfindungen - zum Beispiel an einem dampfbetriebenen Auto, das am Ende explodiert. Zu diesem faustischen Naturell gehört auch, dass Don Toni im fortgeschrittenen Alter mit seiner blutjungen Nichte Xima nach Paris durchbrennt, wo sie ihn mit blaublütigeren Liebhabern betrügt.

    Mit der Senyora hat Don Toni keine Kinder, denn sie ist seine Cousine ersten Grades. Gottlob ist sie viel zu fromm, um seine erotischen Eskapaden alle mitzubekommen, und der Senyor zu edel, um für die Folgen nicht insgeheim aufzukommen. Aber die Affaire mit der Nichte hat das Maß vollgemacht. Die Senyora kehrt ihm zehn Jahre lang den Rücken und erst aufs Landgut zurück, als der gealterte Faust allen Schürzenjägereien abschwört und obendrein bereit ist, seine ketzerischen Bücher ins Feuer zu werfen. Leider passiert bei diesem Autodafé aus Liebe ein Malheur. Neben den Grundbüchern der Aufklärung werden auch die Bände des "christlichen Jahrbuchs" eine Beute der Flammen, da sie denselben Einband haben wie die Enzyklopädie.

    "'Jetzt werde ich alles in mir selbst finden müssen... Diese Bücher bedeuten mir schon nichts mehr. Jetzt werde ich schreiben. Du wirst sehen!'- Sie antwortete mißtrauisch: 'Ich hoffe, du wirst nichts Unrechtes schreiben.'- 'Ich werde es versuchen. Ich möchte die Harmonie der Welten ausdrücken und für die Eintracht arbeiten.'"

    Don Toni kann sich von den Büchern leichten Herzens trennen, denn er hat nur noch eins im Sinn: sich zu verewigen, sprich, seine Memoiren zu schreiben. Und hier müssen wir auf den Erzähler zu sprechen kommen. Der Roman ist nicht wie Tomasi di Lampedusas reich instrumentiertes sizialianisches Epos "Il gattopardo", "Der Leopard", der ebenfalls in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts spielt, aus der Warte einer überlegenen Geistigkeit erzählt. Villalonga macht originellerweise genau das Gegenteil, indem er die Erzählung vom Untergang des Hauses Bearn in die Hände eines schlichten Gemüts legt. Es ist Joan, er soll nach Don Tonis Tod dessen Memoiren im aufgeklärten Frankreich herausgeben.

    Die Situation ist mit Beginn des Romans gegeben. Die Herrschaften sind beide kurz hintereinander infolge unglücklicher Verkettungen gestorben, und der Priester steht vor der schweren Aufgabe, die Büchse der Pandora voller erotischer und geistiger Ausschweifungen zu öffnen. In seiner Bedrängnis schreibt er einen langen Brief, den Roman, den wir lesen, an einen Jugendfreund, den Sekretär des Erzbischofs von Tarragona. Darin zitiert er lange Passagen aus den Memoiren seines Herrn, die er kritisch kommentiert, wozu ihn Don Toni eigens autorisiert hat, und er beichtet dem Freund auch eigene Sünden, die Anfechtungen zum Beispiel, die er durch die verführerische Erscheinung der Donna Xima bis in den Schlaf hinein erlitten hat.

    Der Briefroman ist also eine doppelte Beichte, ein doppeltes Memoirenbuch: das eines aufgeklärten Herren und eines rückständig naiven Candide, der die treuherzige Seite des Volks repräsentiert. Und er liefert so im Maßstab der Satire ein inneres Psychogramm der "beiden Spanien", des rück- und des fortschrittlich gesinnten, die in ewigem - oft blutig eskalierendem - Kampf liegen. Doch hier geht es friedlich zu. Die Charaktere sind unvereinbar, aber nicht unversöhnlich. Don Toni ist von der großen Harmonie der Gegensätze, der coincidentia oppositorum überzeugt.

    "Die verschiedenen Überzeugungen.. galten ihm alle gleich viel, ohne dass er es für nötig hielt, die einen zu verdammen und die anderen anzunehmen. Diese liebenswürdige Haltung enthielt eine grundlegende Unmoralität, jene Morallosigkeit, welche die Athener mit dem Schierlingsbecher bestraften. Es war offensichtlich, dass dem Senyor als Skeptiker nicht mißfallen hätte, wenn seine 'Irrtümer' abgelehnt worden wären."

    Don Toni weiß, dass die Wahrheit ein Doppelgesicht hat, dass die Reichweite seiner Maximen begrenzt ist. Joans Denken ist magisch und abergläubisch, aber auch der Vernunftglauben ist nicht davor gefeit. So hat der Fortschritt in Spanien/auf Mallorca tatsächlich Einzug gehalten, aber nicht durch die Vernunft, sondern durch den Tourismus.

    Villalongas Roman bietet als Satire nicht nur das Vollbild rückständiger Verhältnisse. Auch Don Toni ist in seiner beflissenen Aneignung französischer "Aufgeklärtheit" gewissermaßen ein Naiver. Er ist in seiner raffinierten dialektischen Perspektivierung auch eine Utopie, ein "Buch der kritischen Weltklugheit" in der Tradition des "Criticon" von Baltasar Gracian. Zwei Irrtümer, die sich tolerieren, halbieren sich. Zwei, die sich bekämpfen, wiegen doppelt schwer. Das Wissen um solche Dinge nennt man Ironie. Villalongas sanftmütige Ironie blitzt - wie die Lampedusas und Italo Svevos - nach allen Seiten. Es hat eine Weile gedauert, bis man das in seinem Heimatland wieder zu schätzen wusste.

    Nachdem die kastilische Version des 1945 zunächst in einer katalanischen Urfassung geschriebenen Romans von der Kritik praktisch ignoriert worden war, kam das Buch Anfang der 60er Jahre in einer katalanischen Fassung heraus, die ziemlich erfolgreich, aber leider bearbeitet und verstümmelt worden war. 1967 erschien er dann erstmals in einer authentischen Fassung, die der Piper-Verlag in der Übersetzung von Jürg Koch erstmals 1990 und jetzt - leicht überarbeitet - aus gegebenem Anlass dankenswerterweise neu aufgelegt hat.


    Llorenc Villalonga: Das Puppenkabinett des Senyor Bearn - ein mallorquinischer Familienroman
    Aus dem Katalanischen von Jürg Koch
    Piper Verlag, 368 Seiten, 22,90 Euro