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Das Drama der Naturzerstörung in Romanform

Der Protagonist von Eistau ist Zeno, ein Glaziologe. Nachdem sein Forschungsobjekt, ein Gletscher, verschwunden ist, versucht er auf der MS Hansen den Reisenden die Gletscher zu erklären. Der mäßige Erfolg bei seinem Publikum lässt ihn über den Raubbau an der Natur sinnieren.

Von Angela Gutzeit | 10.01.2012
    Im Jahr 1494 erschien ein Buch mit dem Titel "Das Narrenschiff". Darin hält der Autor Sebastian Brant seinen Zeitgenossen einen Spiegel vor. Er porträtiert sie als verblendete Fastnachtsnarren, die sich in Sünde, Völlerei und Verschwendung ergehen und denen, wenn sie sich nicht besinnen, das Weltende droht. Es scheint so, als habe Ilija Trojanow mit seinem Roman "Eistau" an die berühmte Schrift aus der Reformationszeit angeknüpft.

    In Trojanows Geschichte schippert ein Kreuzfahrtschiff, die MS Hansen, reiche Touristen in antarktische Gewässer, in die letzte Erdregion, die noch nicht von Menschen ausgebeutet und verwüstet wurde. Das Touristenschiff mit seinen genusssüchtigen Gästen dient dem Autor als Sinnbild für die Verschwendungssucht des wohlhabenden Teils der Menschheit. Wie der Topos der einsamen Insel, so eignet sich auch der des Schiffes auf hoher See als literarisches Versuchslabor, um menschliches Fehlverhalten wie durch ein Vergrößerungsglas kenntlich zu machen. Dazu bedarf es aber einer moralischen, einer kritischen Instanz. Die nimmt in Trojanows Roman ein Glaziologe, ein Gletscherforscher, ein, der seinen Dienst als Wissenschaftler einige Jahre vor der Pensionierung quittiert hat und nun auf der MS Hansen als Expeditionsleiter tätig ist. Was an Bord passiert, erfährt der Leser allein durch Zenos Perspektive und zwar retrospektiv durch sein Notizbuch. Der Glaziologe legt hier Rechenschaft ab über sich und über das, was während der Fahrt ins bedrohte ewige Eis geschieht. Aus diesem Wechselspiel zwischen seiner Erinnerung und der erzählten Gegenwart baut sich die Spannung auf. Dass alles auf ein Unheil hinauslaufen wird, ist schnell klar. Der Ton ist von Anfang an apokalyptisch grundiert. Hier eine kurze Kostprobe aus dem Hörbuch, gesprochen vom Autor selbst:
    Als wäre ich mit einer Moräne verwachsen. So albträumt es mich durch jede Nacht. Die Passagier kommen morgen an Bord. Tag eins - Einschiffung. Ein Tag wie jeder andere auch. Noch sind wir nicht ausgelaufen. Der bevorstehende Aufbruch versetzt mich in Unruhe, ich bin kein Seemann von Haus aus, im Gegenteil, in den Bergen war ich heimisch, bevor ich verjagt wurde. Das Meer erblickte ich zum ersten Mal am Ausgang des Gletschers, fast leckte dessen Zungenspitze am Strand, der Gletscherbach rann mir voraus, ich war Anfang Zwanzig und zuversichtlich, so zuversichtlich, dass ich mich absichtlich im Regenwald zwischen Strand und Gletscher verlaufen habe. Heute verhöhnt mich die Phantomzunge des Geschmolzenen, machtlos bin ich gegen die Untertanen des Albtraums. Es steht geschrieben.

    Wir lassen uns trösten von erniedrigenden Sätzen wie diesem. Nichts steht geschrieben; es wird geschrieben. Von einem jeden von uns. So wie ein jeder sein Scherflein beiträgt zu all den vergifteten Ruinen auf Erden. Deswegen dieses Notizbuch, deswegen mein Beschluss, aufzuzeichnen, was geschehen ist, was geschehen wird. Ich werde zum Worthalter des eigenen Gewissens. Etwas muss geschehen. Es ist höchste Zeit.


    Ilija Trojanow aus seinem Roman "Eistau". - Worte von biblischer Wucht! Zeno ist traumatisiert durch das Verschwinden eines Alpengletschers, den er jahrelang studierte. Seine Fahrt in die Antarktis verschafft ihm nicht die erhoffte Erleichterung, da die Touristen, denen er Vorträge über Erderwärmung und -verschmutzung hält, wie auch seine Teamkollegen und die Bordmannschaft, sich als naive oder zynische Ignoranten erweisen. Als schließlich noch ein Land-Art-Künstler mit den Touristen ein SOS auf dem Eis der Antarktis plant, sich also mit einem abgeschmackten Spektakel als zivilisationskritischer Künstler profilieren will, kommt es zur Katastrophe. Zeno bemächtigt sich des Schiffes, als fast alle Mitreisenden auf dem Eis sind, und fährt ziellos hinaus in die Weite des Eismeeres.

    Unterbrochen wird das Geschehen, das sich aus den Notizbuchaufzeichnungen entwickelt, immer wieder durch kurze Kapitel, die wie Störmanöver den Lesefluss hemmen. Ein Stimmen-Potpourri aus Gesprächsfetzen, lüsternen Einwürfen, abgewandelten Redewendungen und Funksprüchen lassen den Leser irritiert innehalten, da der Sinn dieser Zwischenkapitel nicht auf Anhieb zu entschlüsseln ist.
    Das sind Traummaße, kräht kein Hahn danach, das kannste dir abschminken, greifen Sie zu, solange der Vorrat reicht. Sir, Alarmsignal auf 406 Mega Hertz. Fassen Sie sich ein Herz, absolute Traummaße, danach leckt man sich die Lippen,dreizehn Monate Sonne, willkommen im Paradies und Regen an jedem Tag. Notfunkbarke? Ja, Sir. Welches Schiff? Nicht erkenntlich, Sir. Die Fresken werden seit letzter Woche renoviert, die Kapelle wird den ganzen Sommer geschlossen bleiben, es tut mir leid, dass Sie den weiten Weg hierher umsonst auf sich genommen haben ( ... ) ich habe eine Positionsangabe, Sir: S 43 Grad 22' W 64 Grad 33'. Alle Krähen, ich habe es satt, unter dem Himmel, die gefühlte Temperatur lag höher,sind schwarz, was für Traummaße, im Windschatten fährt es sich leichter, du musst mehr Butter bei die Fische geben, gilt bereits als beschlossene Sache. Etwas stimmt nicht, Sir, wir haben keinen Funkkontakt mehr mit der Hansen, was ist mit dem Funkoffizier? Meldet sich nicht, Sir ...
    Die Funksprüche in diesen Einschüben sind dem Handlungsverlauf, wie er sich aus Zenos Notizen ergibt, immer einen Schritt voraus, gehen aber in der Kakofonie des Gequassels, das durch den Äther wabert, fast unter. Der einsame Kampf, den Zeno auf der MS HANSEN führt, wird also als Akt des Widerstands gegen die Zerstörung der Welt kaum zur Kenntnis genommen. Im Bewusstsein der Zeitgenossen, so kann man es deuten, wird dieser Widerstand keine Spuren hinterlassen.

    Das ist eine sehr pessimistische Sicht auf die Zukunft des menschlichen Erdendaseins. Und angesichts der aktuellen wissenschaftlichen Befunde und Prognosen zum erneuten Anstieg des CO2-Ausstoßes, zur fortschreitenden Klimaveränderung, ungehemmten Ressourcenausbeutung und ungebremsten Meeresverschmutzung ist diese Sicht durchaus berechtigt. Aber Trojanows Buch will ja kein Umweltreport sein, sondern als Roman überzeugen. Und da gibt es Schwächen.

    Ilija Trojanow, dieser weltgewandte und polyglotte Autor, der sich in seinen Büchern nicht zum ersten Mal über den Zustand der Welt Gedanken macht, ist seinem Helden Zeno sehr nahe. So nahe, dass man den Autor selbst zu hören meint, wenn der Gletscherforscher über den Raubbau des Menschen an der Natur doziert. Dabei hat sich Trojanow Mühe gegeben, den frustrierten Gletscherforscher nicht eindimensional anzulegen. Er ist keineswegs eine durchweg positive Figur. So manövriert sich Zeno während der Kreuzfahrt mit seinen nervtötenden Belehrungen und absurden Eskapaden zunehmend ins Abseits. Als literarische Figur aber bleibt er trotzdem blutleer. Geradezu ärgerlich ist jedoch, wie wenig Trojanow auf die differenzierte Gestaltung seiner Nebenfiguren wert legt. Eine Ausnahme ist Zenos indonesische Geliebte Paulina mit ihrer herzerfrischenden Direktheit und ihrem kritischen Blick. Andere, wie die Touristen an Bord und Menschen aus Zenos Vergangenheit, wie seine Ex-Frau Helene, werden in ihrer Dummheit und Verschwendungssucht der Lächerlichkeit preisgegeben.
    Der Roman "Eistau" berührt immer nur dann, wenn sein Autor das Drama der Naturvernichtung durch den Menschen in leisen Episoden aufscheinen lässt. Nicht die Konfrontation Zenos mit seiner ignoranten Umwelt überzeugt, auch nicht die Anhäufung wissenschaftlichen Recherchematerials - sondern zum Beispiel die Beschreibung der Schönheit eines Gletschers aus der rückblickenden Perspektive. Als Junge unternahm Zeno gefährliche Rutschpartien durch die Röhren und Tunnel eines Alpengletschers und erlebte so die Glätte, Farbenpracht und Lebendigkeit dieser Eisriesen.
    Ja, wir sammelten blaue Flecken, wir lernten den Gletscher kennen, wir steckten die Nase in jede Spalte, wir vermeinten zu hören, wie das Eisgeheuer auf eigenem Wasser ins Tal rutschte, und staunten über die Farbenpracht in dem scheinbar monochromen Universum. Wir schärften unseren Blick ( ... ) für seine delikate Farbigkeit, die Buntheit im Flachland erschien uns im Vergleich plump. Wo das Eis hart wie Alabaster war, fanden wir blaue Höhlen, die wir mit dem Gedanken betraten, dass wir sie beim nächsten Besuch nicht wiederfinden würden.

    Es ist dieser elegische Ton der Erinnerung - nicht die faktengesättigte Anklage - der nach der Lektüre von Trojanows Roman "Eistau" im Kopf des Lesers nachhallt und uns erahnen lässt, was uns blüht, wenn das Narrenschiff unserer wohlhabenden Gesellschaften seinen Kurs nicht ändert.
    Ilija Trojanow: Eistau. Hanser Verlag. 172 Seiten, 18.90 Euro